Roth.Schumann.Erste und Vierte.Gürzenich Orchester

Allein der Vorname. François-Xavier. Wie für einen erfunden, der Werke des 19. Jahrhundert interpretiert. Natürlich dirigiert François-Xavier Roth auch Musik der klassischen Moderne und Gegenwart, 2018 bekam er für seine Aufnahme von Debussys »Daphnis & Chloé« den Gramophone Classical Award, eine Art Oscar der Klassikszene. Einen besonderen Nerv aber scheint er für die im Hang zur Behaglichkeit verpuppte Unruhe der Romantik zu haben.

Der Komponist, mit dem sich Roth einen Namen machte, war Hector Berlioz. Jetzt kommt er mit Schumann, einer der ersten hierzulande, die Berlioz’ Bedeutung erkannten und würdigten. Roth beginnt mit Schumanns erster und vierter Sinfonie, beide 1841 entstanden, in Schumanns »Sinfonienjahr«. Roth dirigiert auf der neuen CD das Kölner Gürzenich-Orchester; es spielt, anders als Roths auf alten Instrumenten arbeitendes französisches Ensemble Les Siècles, auf modernen Instrumenten. Im Vergleich beider Klangkörper wird klar: Die Außerordentlichkeit eines Dirigenten ergibt sich nicht aus dem Alter der Instrumente seiner Musiker.

Den Romantikern saß der 1827 verstorbene Beethoven im Nacken. Sie wussten: Beethovens bis ins Kleinste gehende Disposition des Verlaufs hin auf ein unfassbar stimmiges Ganzes war nicht zu übertreffen. Jeder auf seine Weise entwickelten sie darum jenen Bereich weiter, der den großen Meister offenbar nur interessiert hat, soweit es seinen Absichten diente: die Farben, die Ausgestaltung des Klangs, die immer raffiniertere Orchestrierung der Bewegungsvorgänge.

Im Gegensatz zu Beethovens kompakt optimistischer Entwicklung der Gedanken steht auch Schumanns Neigung, die Dynamik des Ablaufs zu brechen. Spricht aus Beethoven bis hin zur neunten Sinfonie noch die Kraft vorrevolutionärer Ideen, der Schwung eines vor­thermidorianischen Bürgertums, spürt man bei Schumann die bedrückende Erfahrung bürgerlicher Wirklichkeit.

Contra Kapitalismus - Protestabo

So dröselt er am Anfang der langsamen Einleitung am Beginn der ersten Sinfonie sogar einige der bei Beethoven immer besonders kraftvollen Tuttischläge des Orchesters auf. Sie werden bei ihm von Arpeggien eingeleitet, von echoartigen Nachschlägen beendet, auf einen Tutti­akkord können bei ihm drei triolisch-schnelle Sechzehntel der Trompeten fallen. Dirigenten wie Gustav Mahler oder George Szell haben ihm so etwas als Mangel ausgelegt und in seine Partituren »verbessernd« hineinretuschiert; sie hielten sie für ungeschickt und holperig. Bei Roth hört man, wie »richtig« es klingt, nimmt man Schumann beim Wort und nicht, wie bis heute selbst in den besseren Aufnahmen, Maß an Beethoven.

Schumann: Sinfonie No. 1 / Andante un poco maestoso. Allegro molto vivace

Wo es bei Beethoven kraftvoll und kämpferisch zugeht, will Schumann es majestätisch und festlich. So fordert der genau 40 Jahre Jüngere (1810–1856) für die Einleitung der ersten Sinfonie ein poco maestoso. Vor dem Einleitungsende entfaltet er nach einem Solo der Flöte einen sonst eher für seine Lieder charakteristischen, seltsam undurchsichtigen Zauber. Statt folgerichtiger Entwicklung der Gedanken – kaleidoskopartige Vielfalt der Bewegungsformen, die Ordnung der Welt nurmehr eine Folge bunter Momente. Roth schafft es, dieses fürs Hörerinnenohr eigentliche Zuviel verschiedener Stimmungen, Rhythmen und Wechsel auf engstem Raum durch eine Schumann gemäße Orchesterbehandlung plausibel auseinander hervorgehen zu lassen.

In Schumanns Musik zieht sich das bürgerliche Ich aus einer auch intellektuell unwirtlich gewordenen Öffentlichkeit ins Private zurück. Die Weltsicht diffundiert, der Blick geht nach innen. Schumann gibt eines der wundersamsten Beispiele.

Egal, ob die erste Sinfonie dem »Frühling«, die vierte – sie ist chronologisch die zweite – bei der Bearbeitung zehn Jahre nach ihrer Entstehung miteins Düsseldorf und dem Rheinland zugedacht ist, unwichtig auch, inwieweit Schumann wie sein Freund Berlioz angeblich »Programmmusik« schreibt oder nicht: Es passiert einfach sehr viel im Orchester, die Farben, die Rhythmen und Metren wechseln, die Motive und Figuren tauchen durch alle Sätze hindurch immer wieder auf und halten so das Ganze zusammen. Und ­François-Xavier Roth ist ein Dirigent, der durch sein Gefühl für Balance der Orchestergruppen, fürs richtige Rubato zur rechten Zeit und fürs richtige Tempo das alles dem Ohr zum Bewusstsein bringt. Eine außerordentliche Leistung. Eine Freude, »seinem« Schumann zuzuhören. Junge Welt, August 2020

Schumann: 1 und 4. Sinfonie – Gürzenich Orchester Köln / Roth (Myrios Classics / Harmonia Mundi France)

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