ELVIRA SEIWERT.DIE MUSIK IM ZEITALTER IHRER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT.

Die Musikautorin Elvira Seiwert brachte unlängst ein Buch auf den Markt, an dem sich die Geister nur darum nicht scheiden, weil es entgegen den landesüblichen Verlautbarungen einen freien Austausch unterschiedlicher Ansichten auch in der Musikwissenschaft nicht gibt. In „Enthüllungen“, Seiwerts Habilitationsschrift für die Universität Frankfurt, geht es um “musikalische Reproduktion”, ein Thema, das nach Meinung einer weitgehend auf Philologie eingeschworenen Zunft dort stattzufinden hat, wo ihr Reinheitsgebot nicht gilt: auf dem Musikmarkt und in den Medien. Erschwerend hinzu kommt, dass Seiwert sich gedanklich im Umfeld  Theodor Adornos und der kritischen Theorie bewegt, ein rotes Tuch für eine von 1933 bis 1945 bestens durch’s Leben gekommene musikalische Geisteselite. Seiwert denkt in „Enthüllungen“ Benjamins berühmten Text über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ mit Adornos Fragment gebliebener “Theorie der musikalischen Reproduktion” zusammen. In ihrer Dissertation „Beethoven-Szenarien“ (Metzler Verlag) untersuchte sie zuvor Thomas Manns Musik- und Geistesgeschichtsroman „Doktor Faustus“ auf Beethoven. Der Tonsetzer Adrian Leverkühn, Mittelpunkt dieses Romans, beschäftigt sich anlässlich seines fiktiven letzten und größten Werks, „Fausti Weheklag“ mit der neunten Sinfonie, dem letzten der groß orchestrierten Werke Beethovens. Anlass für Elvira Seiwert zu ihrem ganz persönlichen Neunte-Sinfonie-Erlebnis.

Über die „Neunte“ herrscht, sollte man meinen, allgemeines Einverständnis.

Darüber vielleicht, dass sie eines der höchsten Dokumente abendländischer Kultur ist, ein exemplarisches Werk, was Humanität, Idealität und Klassizität anbelangt. So habe ich auch lange gedacht. Ich habe mich also einerseits mit der Neunten beschäftigt. Andererseits mit Adrian Leverkühns Komponieren. Das Ergebnis: Irgendwas stimmt mit der Neunten, wie ich sie kannte, nicht.

Wie kamen Sie darauf?

Durch eine Aufführung der Neunten mit Michael Gielen, die in hörbarem Widerspruch zur üblichen Auffassung von der Neunten als Feierstück und Haupt- und Staatsaktion stand. Moment! dachte ich, das ist doch nicht die Neunte. Zumindest nicht die, die ich bislang kannte. Am deutlichsten hörbar wurde das beim Marsch im letzten Satz, der üblicherweise gespielt wird, als seien die siegreichen Truppen zur Parade auf dem Marsfeld aufmarschiert. Bei Gielen ist es ein geschlagener Haufen.

Eine Partisanentruppe?

Nein, es sind zerstörte, sich dahin schleppende Menschen. Ich fühlte mich an Märsche bei Gustav Mahler erinnert, die ja auch eher als defekt oder bedrohlich komponiert sind, nicht als schale Affirmation, sondern als Kritik am Krieg. Da wird Beethoven zum Vor-Echo eines Späteren. Oder die Chöre im letzten Satz, die man als Jubelchöre kennt. Beethoven hat sie ja wirklich in unbequeme Höhen getrieben. Wer sie singen will, muss sich anstrengen.

Wie wird es normalerweise gesungen?

Es wird schön gesungen, man soll die Anstrengung nicht merken. Bei Gielen merkt man sie. Das heißt, das, was da bejubelt wird, ist noch gar nicht eingetreten, es ist ein verfrühtes Feiern. Solche Kritik hat Beethoven einkomponiert, was man aber nur selten im Konzertsaal hört.

Welche Rolle spielte die Musikwissenschaft dabei?

Die hält sich, bei gleichzeitiger Theoriefeindschaft, von „klingender Praxis“ empfindlich fern. Auch von daher die dringende Forderung nach verantwortlicher, kritischer Reproduktion. Wie eben Gielen sie geliefert hat. Ein Werk also – und viele unterschiedliche Ansichten. Und was für die Neunte gilt, dachte ich mir, das muss auch für andere Werke gelten.

Das war der Ausgangspunkt für Ihr Buch über die Interpretation in der Musik?

Damals sagte ich noch „Interpretation“. Im Buch komme ich mehr und mehr zum von Adorno gebrauchten Begriff „Reproduktion“, der ja zugleich auch den Gedanken an ein reproduzierendes Medium zulässt. Reproduktion ist ein technischer Terminus. Mit „Interpretation“ dagegen gerät man eher in den Bereich hermeneutischer Deutung, Auslegung. Kunst wird, wenn sie Pech hat, zur Auslege-Ware.

„Reproduktion“ geht, wie man Ihrem Buch entnimmt, auf Walter Benjamin zurück, der im selben Zusammenhang auch von „Übersetzung“ sprach, Übersetzung ist eine Form, sagt Benjamin.

Da setzt Adorno in seiner Fragment gebliebenen “Reproduktionstheorie” an. Etwas Produziertes, eine Komposition, wird re-produziert. Man entfernt sich nicht per Interpretation in Nebelgebiete subjektiver Ausdeutung, bleibt vielmehr ganz nah am Produzierten selbst. Reproduzieren heißt: das Produzierte nachahmen, nachschaffen.

Aber die musikalische Reproduktion bei Adorno ist im Gegengegensatz zur technisch-mechanischen Reproduktion der Bildkunstwerke bei Benjamin eine doppelte: In ihr wird nicht nur nach-, sondern auch neugeschaffen.

Was passiert bei Benjamin auf dem Weg der technischen Reproduktion?

Die Aura verliert sich.

Das Dasein des Kunstwerks im Hier und Jetzt, das Unverwechselbare löst sich auf.

In der Musik stellt es sich in jeder neuen Aufführung wieder her?

In jeder neuen Reproduktion.

Dann wäre das Original aller Kopien, das heißt, aller Reproduktionen, aller Aufführungen, sehr streng ausgelegt, das, was der Komponist, bevor er es schriftlich fixiert hat, auf dem Klavier seinen Freunden im engsten Kreis vorspielt von dem, was er vorerst nur im Kopf hat?

… eine Kopie. Es gibt kein Original. „Reproduktionen sind Kopien eines nicht vorhandenen Originals”, sagt Adorno.

Das Autograph wäre dann die erste Kopie in Schriftform?

Das Autograph ist der Notentext in der Handschrift des Komponisten. Es gibt das Bild der Komposition. Damit dieses sehr individuell gezeichnete Bild verbreitet und gehandelt werden kann, muss es formalisiert, standardisiert werden – im Druck. Der gedruckten Partitur sehen Sie die Eigenheiten, die Dynamik der Handschrift nicht mehr an. Der Puls ist ruhiggestellt. Der historische Augenblick, in dem dieses Bild entstanden ist, wird eingefroren, er wird neutralisiert.

Und das Vorspielen eines noch nicht fixierten Musikstücks wäre die erste Kopie?

Der Text muss natürlich gegeben sein. Ihre Überlegungen kollidieren jetzt mit etwas, das es streng genommen erst ab dem 19. Jahrhundert gibt, mit dem Werkbegriff. Der ist gebunden an einen wissenschaftlich gesicherten Text, mit dem man das Werk in einer ewig gültigen Gestalt zu besitzen glaubt – abgeriegelt gegen Geschichte, unveränderlich. Punktum.

Sie erinnern mit Adorno an die Geschichtlichkeit der Noten selber.

Geht man in der Geschichte zurück, sieht man, dass unsere Notation, an die wir glauben wie an die heilige Schrift, ein Zeitphänomen ist. Und damit ist schon der Wegweiser eingestellt: man muss die Geschichte zurückspulen, und dann erkennt man, dass unsere Notenschrift in der Erbfolge früherer Notationsformen steht. Der neumischen Gestaltung im Mittelalter etwa, die – spult man die Zeit noch weiter zurück – ­bis tief hinab in antike Zeiten führt, in denen die Handbewegung des Chorleiters den Gesang, sein Heben und Senken, gleichsam modellierte.

Die Neumen waren nicht in der Weise eindeutig wie heutige Noten, die man wie eine Sprache entziffert.

Das Notenbild bestand aus uneindeutigen Zeichen. Man hatte zwar Tonhöhen, Tondauern, Rhythmen, aber der Sprung zum Erklingen war ein völlig anderer als etwa der beim Nachsprechen eines sprachlichen Textes. Diese Uneindeutigkeit ist die Einlasspforte für Geschichte. Adorno sagt in seiner Reproduktionstheorie, dass “in gewissem Sinn die Theorie der Schrift wichtiger ist als die Kenntnis der alten Musik”. Meint: erst wenn wir die Zeichen in ihrer historischen Dynamik richtig zu lesen verstehen, verstehen wir den Text, zu dem sie sich verbünden. Und in den gedruckten Notentexten schwingt dieses geschichtliche Erbe mit.

Sie sagen in Ihrem Buch, die neumische Gestalt gleiche eher einer Gestenschrift.

Eine Geste ist etwas Nichtstabiles, sie hat ein Bewegungspotenzial, das noch in unseren heutigen systematisierten Noten nachbebt. Das heißt,  das Original, das wir in der uns bekannten Notengestalt haben, ist ein Konstrukt, eine Abstraktion dessen, was an Bewegung ehedem vorhanden war, ein Unruhepotenzial, das man nicht los wird. Das man zwar vergessen hat, das aber dennoch, im dialektischen Sinn, aufgehoben, in den Partituren aufgehoben ist. Das wäre eine Möglichkeit, heute auf das Schriftbild der Noten zu schauen und zu überlegen, was schwingt da an Bewegung – an geschichtlicher Bewegung – auch noch mit.

Darum Ihre Neigung, dem Ganzen etwas Improvisatorisches zuzuschreiben?

Der Begriff “improvisatorisch” macht mich eher unruhig. Er deutet auf eine gewisse Unverbindlichkeit. Doch Text-Verbindlichkeit ist erste Reproduzentenpflicht. Es geht eher um die fehlende Eindeutigkeit des Textes, die nicht durch hermeneutische Ausdeutung ausgeräumt werden kann, vielmehr historisch-dialektisch eruiert werden muss. Und hier kommt der für Adorno extrem wichtige Begriff des „dialektischen Bildes“ ins Spiel, über den er sich ja jahrelang mit Benjamin auseinandergesetzt hat. Nimmt man den Text in seiner starren Fixierung als, wie gesagt, heilige Schrift, so ist Buchstabengläubigkeit die notwendige Konsequenz.

Sie haben etwas gegen Buchstaben?

Ich bin absolut dafür, den Buchstaben buchstäblich zu nehmen, aber ich bin gegen Buchstabengläubigkeit. Strawinsky sagt: „Die Versündigung wider den Geist beginnt bei der Versündigung wider den Buchstaben“. Ein schönes Beispiel sind die Aufnahmen des Anfangs der Fünften Beethoven einmal mit Christian Thielemann, einmal mit Michael Gielen. Thielemann versündigt sich zwar nicht gegen den Buchstaben, er dirigiert jede Note, jeden Buchstaben. Er versündigt sich gegen den Geist, dagegen, wie die Buchstaben zu lesen sind, was sich aus ihnen entbinden will. Denken Sie an die vier berühmten Anfangstöne. Bei Thielemann ein Signal, eine Art Jingle, fängt nett an, genügt sich selbst, eigentlich uninteressant, wie es weitergeht. 

Aber darum geht’s – was geschieht damit?

Es geschieht, dass das berühmte Thema gewissermaßen Geschichte in sich aufspeichert, dass es sich die Geschichte und sich selbst im Fortgang erarbeitet. Das Thema entwickelt in sich, indem mit ihm gearbeitet wird, Geschichte. Es muss sich seine Bedeutung gewissermaßen verdienen, ist zwar gesetzt, wird diesem Privileg aber erst durch seinen Verlauf gerecht.

So ein Herangehen ist im gängigen Klassikbetrieb rar.

Der Musikbetrieb wird vom Markt reguliert und funktioniert dienstleistend. Man hört immer gern Musik, die man wiedererkennt und mitsingen kann. Man will nicht hören, man will fühlen. Wir alle hören das Gleiche, wenn wir da-da-da-damm! hören. Aber was in Wirklichkeit passiert, was Beethoven dann wirklich ins Werk setzt, was er erarbeitet, mit welchen Widersprüchen er komponierend umgeht, hören wir nicht. Ein anderes Beispiel fällt mir ein, Schuberts große C-Dur Sinfonie.

Sie meinen  die Einleitung, die nie, wie geschrieben, allabreve gespielt wird.

Und warum wird sie nicht allabreve gespielt?

Erzählen Sie es uns.

Brahms hat diese Sinfonie herausgegeben. Er hat schlicht das Allabreve-Zeichen vergessen. Die Sinfonie beginnt mit dem langsamen Teil, Doppelstrich, dann folgt der schnelle Teil. Aber wie kommt man vom einen zum anderen? Dirigiert man es nicht allabreve, vielmehr halb so schnell wie gemeint, gibt es mit Eintritt des schnellen Tempos einen unmotivierten Sprung. Schumann beschreibt die Uraufführung der Sinfonie durch Mendelssohn. Der sei an der fraglichen Stelle “wie von selbst” im schnellen Teil gewesen. Er muss es also allabreve genommen haben.

Aber es stand so nicht in den Noten.

Jeder Musiker von ‘Geschmack’ bis zurück zu Leopold Mozart oder Quantz und all den Leuten, die Aufführungstheorien geschrieben haben,  sähe es dem Stück an, seinem Notenbild. Wenn man die Noten, den Buchstaben, zu lesen versteht, dann sieht man, es muss ein Allabreve sein, weil sonst die Zeitverhältnisse aus den Fugen geraten – womit ja jede Geschichtsfälschung beginnt.

Wie kommen Dirigenten, die es nach Brahms falscher Ausgabe ohne Allabreve spielen, vom langsamen ins schnelle Tempo?

Mit einem Accelerando beispielsweise, das nicht in den Noten steht. Oder mit einem vom Himmel fallenden “Hoppla!”-Effekt (Effekt, sagt schon Richard Wagner, ist Wirkung ohne Ursache). Oder das Übliche: man mogelt sich irgendwie durch, einige können das sehr gut. Schönberg sagt einmal, solche Dirigenten sollten besser gar nicht erst in die Noten schauen.

Viele dirigieren eh schon auswendig.

Dabei kommen allenfalls schlechte Kopien des besagt flüchtigen Originals heraus, also reine Willkür und Beliebigkeit. Es war in jüngerer Zeit neben wenigen anderen wieder Gielen, der die Zeichen zu lesen verstanden und entsprechend reproduziert hat.

Aus welchem Grund wird es so oft  falsch gemacht?

Dank der falschen Tradition, auf die man sich geeinigt hat, und auf der man besteht. Und das Publikum ist gewohnt, es so zu hören, und dann spielt man es eben auch so. Der ewige Kreislauf. Aber dazu brauchte man die Musik nicht mehr. Musik ist für mich in dem Moment interessant, in dem es, mit einem großen Wort gesagt, um Sabotage des Schicksals geht, um Betriebsstörung. Darum, dass dieser ewige Kreislauf – von innen her und mit den Mitteln der Musik! – gesprengt wird. Wozu braucht man Musik, wenn sie nur akustische Tapete ist, oder eine Art Wellness-Design?

Ihr Thema der musikalischen Reproduktion kommt, wenn ich recht sehe, in der Musikwissenschaft ziemlich kurz.

Die Musikwissenschaft ist am Problem der Reproduktion wenig interessiert. Erst recht nicht an dialektischer, respektive kritischer Theorie, die helfen könnte, Notentexte als “Bilder der erstarrten Unruhe” zu verstehen. Im Gegenteil, heute gibt es sogar die Tendenz, die Musik loswerden zu wollen.

Loswerden?

Sie können mit ihr nichts anfangen. In der FAZ melden sich ab und an gern Musikwissenschaftler zu Wort. Da gab es eine Dame, die meinte, dieses Klein-Klein in der Musik, darum kann es nicht mehr gehen. Es muss um interdisziplinäre Anschlussfähigkeit gehen. Interdisziplinär anschlussfähig ist zum Beispiel Biografie, alles ist ja irgendwie eine Biografie. Ist zwar ein alter Hut, erscheint hier aber im schicken, gut verkäuflichen Zeitgeist-Design. Biographisches kann man vernetzen, man kann es verknüpfen, also etwa Dinge wie die Arbeitsbedingungen von Musikern oder Literaten – das Phänomen Musik selber will man nicht mehr. Okay, Biografie ist aller Ehren wert, es gehört irgendwo dazu – aber wo finden Sie sie in der Musik wieder?

Ein Beispiel?

Es heißt, Beethoven war taub und deswegen vielleicht diese Kakophonie in der Großen Fuge op. 133. Die Vermutung ist, er hat solche Dinge wie Dissonanzen nicht mehr gehört.

Das sagen Sie jetzt aber nicht?

Ich? Gott bewahre. Erstens ist es für mich keine Kakophonie und Beethovens Taubheit ist mir egal. Was bei ihm absolut ausgeprägt war, war das innere Ohr.

Es geht ergo nicht um die Taubheit, es geht um die Musik, für die war er nicht taub, sie hat mit der Biografie wenig zu tun. Der Dame aus der FAZ wäre die Taubheit offenbar wichtiger, eine Art HNO-Zweig der Musikwissenschaft.

Es geht solchen Leuten ja nicht mehr um Musik. Es geht um Signale, um einen akustischen Dauerzustand. Aber nicht um die Erkenntnis dessen, was Musik tun kann – die Möglichkeit von Geschichtsschreibung, von Störfeldern, von Sabotage; ein subversives Unternehmen kann sie sein, das ist das Interessante an Musik. Wenn das Schema nicht erfüllt wird, wenn gegen das Schema gearbeitet wird, wenn der Widerstand konkret wird, dann wird es interessant in der Musik.

Es spielt dabei keine Rolle, ob das Subversive Teil des Komponistenbewusstseins ist – es steckt in der musikalischen Form. Musik meint nichts anderes als sich selbst, sagt Adorno, sie ist, was erklingt, was erklingt, ist subversiv.

Es klingt vielleicht simpel, aber Adorno richtet sich da gegen die idealistische Philosophie mit ihrer These, dass Wesen und Erscheinung zweierlei sei; man muss quasi durch die Erscheinung hindurch, um zum Wesen zu kommen. Von daher auch der Buchtitel „Enthüllungen“ – es geht gegen idealistische Spekulation, Metaphysik, das, woran der Glaube sich entzündet, wo Regierungen zu Hause sind.

Sie sind anderer Meinung.

Für mich liegt das Geheimnis der Musik an der Oberfläche. Es gibt nichts dahinter. Man hat die Noten, man hat die Partitur, man versucht sie im Lesen zu entziffern.

Klingt auch ziemlich simpel.

Ist es aber nicht. Dann jedenfalls nicht, wenn Sie die Oberfläche als Physiognomie begreifen, in der Geschichte ihre Spuren und Prägungen hinterlassen hat. Wie gelesen wird, ist nicht einerlei. Lesen ist ein dialektischer Prozess. Der Text muss in Bewegung gebracht werden. Die Noten müssen so gelesen werden, dass das, was Beethoven als Strategien einsetzt, hörbar wird. So was finden Sie überall in der Musik.

Biografie, Geschichte, Musik – ein energiegeladener Zusammenhang.

Ja natürlich, es sind ja Schubert oder Beethoven, die die Musik geschrieben haben, sie ist ja nicht vom Himmel gefallen, die Musik ist keine Himmelsmacht. Im Gegenteil. Sie ist tief verankert in der Geschichte. Die Geschichte muss in ihr widerhallen, das tut sie, je besser komponiert, desto radikaler.

Elvira Seiwert: Enthüllungen. Zur musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Springe: zu Klampen 2017.

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Interview mit Elvira Seiwert im Webmagazin VAN

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