Wunschträumerei

Topmodell der Wertebasiertheit: Annalena Baerbock

Irgendwann, so geht einer meiner Lieblingsträume im späten Herbst 2022, wird den im Westen so vielseitig geschätzten „Experten“ dämmern, dass die von ihnen seit zwei Jahrhunderten so unsichtbar beherrschte wie sicher geglaubte „Weltöffentlichkeit“ sich gerade verwandelt. Jüngstes Symptom: der Beschluss der 25. Plenarsitzung der Generalversammlung der UN zum Thema: Nahost atomwaffenfrei! Hinter diese Forderung stellten sich 84 Prozent der Länder des Planeten.

Den Nutzern der Qualitätsmedien des Westens mag man so etwas aber schon seit langem nicht mehr zumuten. Sie wurden lautstark und unisono wie immer nur über die, am 12. Oktober stattgehabte Abstimmungsniederlage Russlands zum Thema Volksabstimmungen im Donbass unterrichtet, Tenor: Putin international dramatisch isoliert! Die Zahlenverhältnisse dieser Abstimmung muten allerdings entschieden mickrig an im Vergleich zur Nahost-Abstimmung, gar nicht zu reden von der in diesem Jahr nicht mehr zu toppend krachenden Abstimmungsniederlage der USA am 3. November in Sachen Kuba-Blockade (s. jW vom 7. 11. Hermsdorf) – isolierter geht’s nicht. Der mündige Staatsbürger erfährt nichts davon.

Die Wirkung solcher Abstimmungsergebnisse blieb – es handelt sich um eine Wunschträumerei – nicht aus. Irgendwann hatte der Westen begriffen: er musste dieser neuartigen Weltöffentlichkeit, da sie nun mal da war, irgend etwas anbieten an Inhalten dessen, was er propagierte. Irgendwas müsste sich doch finden lassen, um endlich das Welträtsel zu lösen und damit herauszurücken, was, dem Inhalt nach, denn um alles in der Welt hinter der westlichen Losung von einer von „wertebasierten“ Regeln definierten Weltpolitik steckte. So etwas musste man der neuen Weltöffentlichkeit ja aber erst einmal verklickern.

Also wieder die Experten. In meinem Traum treffen sie sich in einem, im Vergleich zu früher bescheidenen kleinen Landhaus im schottischen Hochland. Ausgewiesene Spezialisten von mehr als sieben Thinktanks aus fünf Ländern plus internationale Framing-Fachleute kommen in meinem Traum zu einer informellen NATO-Konferenz zusammen, die als „die Schottische“, auch als „The last Scotch“, in die Geschichte eingehen wird. Ausgangspunkt der Beratungen war die absolute Unmöglichkeit, der gewandelten Weltöffentlichkeit nun ausgerechnet mit der Wahrheit zu kommen. Früher hätte man diese Wahrheit, wäre sie vielleicht einmal für Augenblicke ans Licht geraten, kurzerhand als Verschwörungstheorie kaltgestellt. Aber Kaltgestellte halten sich offenbar erstaunlich lange frisch. Also schwierig für den Westen.

Da meldet sich mitten im endlosen NATO-Brainstorming der Sprecher einer kleinen Politmarketing-Bude aus Ostholstein zu Wort. Wir ziehen das Ganze als Betriebsunfall auf! ruft er erregt. Eine Art Tippfehler oder Versprecher oder was weiß ich. Er strahlt übers ganze Gesicht. Ursprünglich, so sagen wir ihnen, sollte es ganz anders heißen, er triumphiert: die Wahrheit, die wir verkünden, hat dieselben Buchstaben wie das fatale „wertebasiert“ – bis auf einen! Denn wogegen wir damals, unter uns gesprochen, die guten alten Weltregeln des Völkerrechts auszutauschen gedachten, was wir stattdessen in Gültigkeit bringen wollten, das waren im Kern natürlich nicht irgendwelche Werte, das waren Werbung und Markt, Gott hab sie selig.

In meinem Traum beschlossen die Experten schlussendlich, auf die klappradschlaue Erzählung aus Ost-Holstein zu setzten. Und sie posteten der wartenden Welt den Lauf der Dinge ergo via Instagram und Twitter wie folgt: Als Ersatz für das aus irgendwelchen Gründen marode gewordene Völkerrecht habe man dem Rest der Welt alternativ – aufgrund eines Betriebsunfalls in den Servern von Ramstein nun aber leider auch irrtümlich – vorgeschlagen, künftig „wertebasierte“ Wege zu gehen. Ein wie sich im Verlauf aber gezeigt habe gar nicht so unfruchtbarer Lapsus oder Übermittlungsfehler. Denn nachdem die Wendung nun einmal in der Welt war, habe sich zur Verblüffung aller Experten gezeigt, dass das Publikum im Westen den rätselhaften Begriff kritiklos schluckte und sich zu eigen machte – sorry, aber man habe damals eben noch in den Verhältnissen der alten Weltöffentlichkeit gedacht. Das zum selben Zweck ursprünglich vorgesehene „werbebasiert“ habe man daraufhin ersatzlos gestrichen – obschon es gewiss positiver ausstrahlt als das doch eher behäbige „wertebasiert“.

Über den Inhalt des per Zufall entstandenen Begriffs „wertebasiert“ habe man sich dann keine weiteren Gedanken mehr gemacht (was vorher im Grunde ja auch schon der Fall war). So hat es sich zugetragen, so war‘s. Einfach traumhaft. junge Welt, November 2022

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