Händel und Bach – Kurzvergleich in zwei Meilensteinen

Bachs „Johannespassion“ vergleichen mit Händels „Messiah“? Geht eigentlich gar nicht. Beides Sakralmusik, die Formen „Passion“ und „Oratorium“ gleichwohl wesensfern. Aber anlässlich zweier Neuaufnahmen dieser Meilensteine des Spätbarock ihre Schöpfer Bach und Händel in einigen Aspekten nebeneinander zu stellen – das könnte gehen.

Beide wurden, der eine in Eisenach, der andere in Halle, 1685 hineingeboren ins selbe Milieu mitteldeutscher Stadtbürgerschaft, beide, frühausgebildet im Geist derselben Musiktradition, waren am Ende europäische Großmeister ihrer Zeit. Beim Hören aber springt jäh die Verschiedenheit ins Ohr, in der jeder von ihnen etwa den für beide geltenden Superlativ „universell“ ausfüllt. Die besondere Leistung beider Dirigenten – des Sachsen Hans-Christoph Rademann mit Bachs „Johannespassion“, des Katalanen Jordi Savall mit Händels „Messiah“ – besteht dabei in der klaren Herausarbeitung von genaugenommen zwei differenten Universalitäten, sie ergeben sich aus den weltanschaulich-geistigen Haltungen Bachs und Händels.

   Beider Universalität speist sich neben den heimischen aus vielen Quellen europäischer Musik. Bach, der es, was den geographischen Radius angeht, in seinem Leben gerade mal bis nach Lübeck und ins preußische Berlin brachte, eignete sich, was er übers Heimische hinaus zur Universalität brauchte, aus fremden Partituren vieler Länder an. Händel aus dem musikalischen Leben vor Ort. Denn anders als sein Eisenacher Landsmann schaffte er nach hoffnungsvollem Beginn im protestantisch-patrizischen Hamburg und anschließend knapp vier erfolgreichen Jahren im katholisch-lebensfrohen Italien noch in jungen Jahren den Absprung – hinweg über Kanal und absolute Monarchie mitten hinein in eine prosperierende, konstitutionell abgesicherte, vom Katholizismus separierte vormoderne Marktwirtschaft. Mit entsprechenden Folgen.

Die im unruhig schweifenden Eingangschor der „Johannispassion“ in Hans-Christoph Rademanns Neuaufnahme erklingende Musik macht kein Hehl draus, dass sie bei allem Herzklopfen das Werk eines überlegenen Geists ist. Wo der ans emotiv Dramatische rührt wie am Anfang der „Johannespassion“, entsteht eine Ahnung von mystischem Espressivo. Rademann hält es kühl in Grenzen. Ihm gelingt durchgehend eine transparent genaue, lebendige Darstellung des einmal aufregend dicht organisierten, einmal schlicht zu Herzen gehenden musikalischen Geschehens. Die große Satzkunst drängt sich bei Bach nicht auf. Rademann belässt es dabei. Er lässt sie unbemerkt eingehen in den Sinn der Worte und die Sinnfälligkeit des harmonischen Ablaufs.

Ganz anders Händel in Jordi Savalls Neuaufnahme des „Messiah“. Schon die breit ausgehaltenen punktierten Akkorde des feierlich einleitenden Grave zeigen her, was sie draufhaben: Valeurs! Und der im schnellen Teil aufblitzende Kontrapunkt hält nicht hinterm Berg mit der Botschaft: Ich kann’s, also hört zu!“ Weder Eitelkeit steckt dahinter, noch Prahlerei. Nur das sichre Gefühl  für den Markt. Bei Bach wartet eins bis zur siebten Nummer, bis endlich eine Solo-Arie ertönt, mit „Von den Stricken meiner Sünden“ dann allerdings eine ganz großartige. Bei Händel dagegen gleich nach der Sinfonie-Ouvertüre das Accompagnato „Comfort me“, in orchestralem Ocker Opernflair, gefolgt von einer hymnischen Tenorarie mit himmelhochscherzender Streicherbegleitung.

George Frederic Händel pondering where his wig might have gone

Wer einfach feststellte: Händel ist Oper und Bach alles andere, hätte sicher nicht unrecht. Dabei ist auch Bachs „Johannespassion“, speziell in den Turba-Chören und vielen Arien dramatisch, lyrisch, poetisch, in Momenten auch opernhaft – nur eben in einer Geistigkeit, die ihre Art Unschuld im Sinn des kleistschen „Marionettentheater“ zwar durch Erdumrundung und Rückkehr ins Paradies durch die Hintertür schließlich auch erreicht, zugleich aber den Schatten respektive Glanz des Geistigen am Ende nicht ganz los wird. Und auch Händel hat außer Opern natürlich jede Menge wunderbarer Orchesterwerke, Konzerte, Kammer- und Klaviermusik geschrieben, auch er komponiert geistvoll. Im „Messiah“ liegt der Geist, außer in Händels komponierendem Ausnahmekopf, im Kern seiner Philosophie, die da gelautet haben könnte: der Sinn des Lebens ist das Leben. Händel steht mit jedem seiner kraftvoll empfundenen Töne mit beiden Beinen auf der Erde. Bach mit beiden Beinen – nicht minder fest – im Himmel tief eingeatmeter geistiger Freiheit.

His Highety himself

In Savalls Neuaufnahme des „Messiah“ pulsiert Diesseitigkeit, die Freude an Pracht und Vielfalt des Klangs, am schnellen Wechsel von heiter kontrapunktischer Spannung und bassfundiertem Jubel, feierlicher Hingabe, Tanz im Dreiertakt und gut geerdeter Anbetung. Zugleich musiziert der Katalane wie getragen von Händels Dialektik aus Überschwang und souveräner Beherrschung der Mittel zu seiner Darstellung.

In der deutschen Musikwissenschaft und Musikpraxis besteht, ausgenommen Enklaven wie Göttingen oder Halle, Händel gegenüber traditionell eine gewisse Zurückhaltung, seltsam. Es sieht aus, als tendiere ein nicht geringer Teil der hiesigen Fachwelt dazu, Komponisten wie Händel, die mit ihrer Musik zwar fachlich unumstritten, zugleich aber schon zu Lebzeiten beim Publikum sehr beliebt sind und viel Geld verdienten, allein darum für weniger bedeutend zu halten. Eine merkwürdige Art Seriosität.

Beide empfohlenen Aufnahmen erzählen auf hohem Niveau davon, wie Spiritualität und Geistigkeit die Sinne so gut zu begeistern vermögen – und wie herzhaft warme Lebensfreude selbst den analytisch formverliebten Blick verzaubern kann. Junge Welt, November 2020

J. S. Bach: Johannespassion BWV 245 – Elizabeth Watts, Benno Schachtner, Patrick Grahl, Matthias Winckhler, Peter Harvey, Gaechinger Cantorey; Hans-Christoph Rademann (Carus Verlag)

Händel: Messiah – Rachel Redmond, Damien Guillon, Nicholas Mulroy, Matthias Winckler, La Capella Reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall (Harmonia Mundi France)

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