Herr Putin und ich.

Ein ausgemacht kluger weiblicher Kopf – beruflich mit schwierigsten und heikelsten geistigen Problemen befasst und mir persönlich bekannt – hat, höre ich, seine Anteile an der Genossenschaft der jungen Welt gekündigt. Begründung: Die Zeitung lüge in ihrer Ukraine-Berichterstattung.

Dieser Kopf sieht sich seit langem links. Es gibt viele Motive, links zu sein. Die Mehrheit dieser Motive entstammt der gelebten, erlittenen persönlichen Erfahrung einer im unteren Bereich abhängigen Beschäftigung, mit allen unerfreulichen gesellschaftlichen Begleiterscheinungen. Aber dies trifft auf genannten Kopf samt Bauch durchaus nicht zu. Andere sind links, weil ihr Gerechtigkeitsgefühl mit den Zuständen in der Welt nicht in Einklang zu bringen ist, weil sie den Krieg und seine Nutznießer und Verursacher grundsätzlich ablehnen. Das gilt mit Sicherheit auch für den Kopf, von dem ich rede. Dieser Hintergrund reicht aber, wie derzeit traurig oft zu erleben, offensichtlich nicht aus, in Situationen, in die uns alle ein Herr Putin aus Russland gebracht hat, die Übersicht zu behalten.

Ich kenne diesen Herrn Putin nicht, obwohl jeder, der so redet, ständig, so arrogant wie sinnfrei ,als »Putin-Versteher« ausgegrenzt wird. Dabei habe ich mit Herrn Putin weniger gemein als alle professionellen Putin-Hasser zusammen. Herr Putin hat die in Scherben liegende Sowjetunion als kapitalistisches Land wieder zusammengefügt, mit allen Folgen, die so etwas hatben muss. Das hat ihn vielen Linken nicht sympathischer gemacht.

Herr Putin hat 2001 vor dem damals noch rosé-olivgrün dominierten Bundestag in tadellosem deutsch eine Rede gehalten, in der er die Vision eines vom Ural bis an den Atlantik friedlich vereinten Europa entwarf. Er hat 2008 bei Gelegenheit der sogenannten „Sicherheitskonferenz“ in München dem versammelten politischen und militärischen Westen seine Vorstellungen von einer friedlichen Welt erneut vorgetragen. Aber der Westen stellte überall unmittelbar an der lange Westgrenze Russlands, tendenziell auch an der Ostgrenze, Raketen auf. Nach den NATO- und US-Kriegen in Jugoslawien, Irak, Libyen, Somalia und Afghanistan begann sich Russland, als es in Syrien losging, schließlich zu rühren. Das größte Flächenland der Welt erinnerte daran, dass es immer noch zu den Weltmächten gehört. Herr Putin und sein Außenminister haben ihre Verhandlungsangebote hinsichtlich einer zu erneuernden Weltfriedensordnung in regelmäßigen Abständen wiederholt. Niemand ist mit einem Wort darauf eingegangen, niemand hat es wenigstens probiert mit dem friedlichen Weg. Den Russen ist die Tür so oft vor der Nase zugeknallt worden, dass sich eigentlich niemand wundern sollte, dass sie letztere schließlich am 24. Februar 2022 voll hatten.

Klar, viele linke Beobachter haben sich im Februar 2022 geirrt, indem sie sich sicher wähnten, die Russen würden es nicht tun, sie hatten bis dahin ja nicht einen einzigen Krieg angezettelt (auch wenn der in diesen Fragen ja wirklich „neutrale“ Westen es ihnen vielfach andichtet, Stichworte Tschetschenien, Georgien). Die russische Föderation verfügt im Gegensatz zu den über achthundert Auslandsmilitärstützpunkten der USA über ganze elf, die Chinesen (Stand März 2022) über einen einzigen – wer bitte hegt da Welteroberungspläne? Und die Russen haben den Westen bis zuletzt ermahnt, die spätestens seit dem Putsch auf dem Maidan 2014 von ihm abhängige Ukraine zur Erfüllung des Minsker Abkommens zu nötigen, was diesen Krieg mit Sicherheit verhindert hätte. Sie haben die Truppen innerhalb ihrer eigenen Grenzen konzentriert, nicht an der US-Grenze Mexikos, nicht an der Grenze zum US-Staat Alaska oder an der Grenze Kanadas. Sie wollten den Westen endlich zur Raison bringen. Sie haben ihre Atomstreitmacht in Alarmbereitschaft versetzt, um die Kriegs-Zocker auf der anderen Seite in die Schranken zu weisen.

Aber nun ist es passiert. Der Krieg ist Wirklichkeit. Er ist barbarisch, unmenschlich, verbrecherisch wie jeder Krieg. Aber zu welchem der unzähligen Kriege der Vereinigten Staaten hätten wir, während sie wüten, aus dem Westen solche Attribute vernommen? Wir haben aus diesen Kriegen des Imperiums ja kaum ein Bild der Zerstörungen und des unendlichen Leids gesehen, das die US- und NATO-Kriege angerichtet haben. Der eine, der es gewagt hat, die wirkliche Barbarei, die Unmenschlichkeit, das Verbrechen der westlichen Kriege zu zeigen, vegetiert seit Jahren im schlimmsten britischen Hochsicherheitsgefängnis dem Tod entgegen. Aber jetzt überflutet uns das Leid der Menschen in der Ukraine jeden Tag, jede Stunde. Ohne dass wir irgend etwas vom barbarischen, unmenschlichen Krieg erfahren hätten, den die ukrainische Regierung, von den USA ausgerüstet, seit acht Jahren gegen die eigene Bevölkerung im Donbass führt. Das eine macht das andere nicht weniger schlimm. Es sagt nur etwas aus ­darüber, dass Kriege aus oft extrem unterschiedlichen Gründen geführt werden.

Das alles kann jenen, eingangs erwähnten klugen Kopf und alle anderen, die so denken, nicht abbringen von ihrer aktuellen Raserei. Der Krieg tobt, es fließt Blut. Mütter, Väter, Schwestern und Brüder leiden, Millionen sind auf der Flucht. Man muss etwas dagegen tun, man muss den Krieg sofort beenden! Aber warum erst jetzt? Warum nicht schon im Vorfeld, als es noch möglich war? Und warum bekämpft gerade der Westen gerade diesen Krieg plötzlich in solcher Einhelligkeit, in dieser Entschiedenheit und Kompromisslosigkeit, was ist anders an ihm, was macht ihn zu etwas Besonderem? Aus einem Grund: es ist „der Russe“, der angreift.

Es ist unmöglich, aus einem laufenden Krieg wahrheitsgetreu zu berichten. Das erste, was im Krieg stirbt, ist nach Bismarck die Wahrheit. Der Krieg ist das ­Problem. Die junge Welt, die jetzt angeblich zum Krieg in der Ukraine lügt, hat vom ersten Tag ihres Bestehens an keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ohne Wenn und Aber eine Antikriegszeitung ist, eine Zeitung für den Frieden, auch in diesem Krieg. Sie wird auch weiter für eine Welt einstehen, in der es keine Kriege mehr geben wird. Weil sie nicht mehr notwendig sind. Notwendig nicht als, nach dem Faschismus, letzte Rettung des Krisen- und Kriegssystems Kapitalismus. Notwendig nicht mehr als Anlass von Champagnerorgien der Rüstungsindustrie. Und notwendig nicht mehr als die Substanz kapitalistisch-marktwirtschaftlicher, auf Gewalt gegründeter, ihm eingeschriebener Tendenz zu kolonialer Weltherrschaft. Sie zwingt andere, sich dagegen zu wehren. Das hat als erster, aus Gründen, der Herr Putin gewagt. Junge Welt, März 2022

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