Es war schätzungsweise vorgestern. Aber es hätte auch jeder andere Tag sein können. Der Westen langt wieder mal hin. Auf allen Kanälen. Seit Wochen. Ich schaue Glotze, wenn überhaupt, ohnehin nur noch im Internet. Aber man will sich auf dem Laufenden halten.
Also rein ins ZDF Vorabendprogramm, stichprobenmäßig. Was kommt? Ukraine! Eine Suada von „Fachleuten“, alle habilitiert (wie auch immer). Drei sogenannte Historiker, sauber über die Generationen und Sympathiewerte verteilt. Vom Jüngsten bis zum Unsympathischsten machen alle Druck auf die Regierung. Zwei Völkerrechtler tragen das ihre bei: ein militärisches Eingreifen des Westens wäre völkerrechtlich okay, sagen sie in vertrauenswürdigstem Wissenschaftsdeutsch – man müsste das Ganze halt nur als Völkermord deklariert kriegen.
Und immer wieder dieser eine, eigentlich gehört er auch zu den „Fachleuten“, zu den Interviewten, aber er taucht immer wieder auf, er ist eine Art roter Faden, Röttgen heißt er, CDU und transatlantisch bis in die Haarspitzen. Durch seine Mimik wetterleuchtet ein honigsüßes Schmunzeln. In ihm wohnt der Triumph. Er und seine Leute haben es doch tatsächlich geschafft, die tiefeingewurzelte, unverdorbene Friedensliebe der Bundesdeutschen mehrheitlich gegen „die“ Russen zu lenken und gegen ihren Oberuntermenschen Putin. Joseph Goebbels wäre vor Neid erblasst. Chapeau! möchte man rufen, weil man das französische Wort für Stahlhelm nicht kennt.
Irgendwie taucht in diesem Umfeld völlig überraschend das Wort Solidarität auf – Solidarität mit der Ukraine! Ein Wort, das für bestimmte Kreise immer nach Gewerkschaften roch, nach Arbeiterklasse, da kommt es her, da wird es selbst in diesem Land immer weiter leben. Aber im deutschen Fernsehen, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit der Gegenwart das positiv konnotierte Wort Solidarität? Es geschehen Zeichen und Wunder.
Dann ein Interview. An einem dieser hochmodernen Stehtische steht Frau Eskens von der SPD für die bohrenden Fragen der Stunde zur Verfügung: Kann man Putin mit Sanktionen stoppen? Muss da nicht mehr passieren? In der Totale steht Frau Eskens am Stehtisch einer furchterregend gestylten ZDF-Dame gegenüber, ihre Brille hinreißend intellektuell. Frau Eskens windet sich. Hundert Milliarden für die Bundeswehr, damit müsste sich ihre Partei – wie seit 1914 zuverlässig immer wieder – doch eigentlich hinreichend empfohlen haben. Ein echter Schluck aus der Pulle. Die Börse hat es längst gewürdigt, die Anleger sind ja nicht blöde. Aber das ZDF will mehr. Die Bundeswehr soll sich ihr Geld auch praktisch verdienen dürfen, dafür ist das Militär schließlich da. Auf den Zoom-Auftritt Selenskijs vor dem Bundestag nimmt man mehrfach Bezug: Mit hoher darstellerischer Kunst gibt der Fließhemd-Hohepriester westlicher Freiheitsliebe die Stichworte vor. Im Boxen würde man sagen: Die Brillen-Dame lässt Frau Eskens nicht aus ihrer Ecke kommen. Dabei müsste Eskens doch einfach nur sagen: Die aus allen westlichen Richtungen in die Ukraine gepumpten Waffen verlängern einen nicht zu gewinnenden Krieg und damit das Leid der Menschen in der Ukraine ins Unendliche, schon wäre sie aus dem Schneider. Aber damit hätte sie sich möglicherweise – als geoutete „Menschenversteherin“ – dem Spott der Edelfedern ausgesetzt.
Rüber zur ARD kurz vor der Tagesschau. Frau Will ist mit einem Trailor für ihre sonntägliche Sendung zugeschaltet. Sie sieht aus wie eine sehr teure Flasche Parfüm, sie redet auch so. Auch hier nur Fachleute. Alle stramm NATO-formatiert. Irgendeine Ministerin windet sich auch hier. Schließlich arbeitet man regierungsseitig einesteils auf die via Europa endlich auch für Deutschland zugänglich erscheinende wertebasierte Erstschlagsfähigkeit hin. Muss aber dummerweise irgendwo auch noch das verdammte Öl herkriegen, das vermaledeite Erdgas. Da hat’s die CDU mit ihrer von den Mühen der Ebene wie befreiten Kriegspropanda leichter.
Wie dumm das alles. Wie durchschaubar. Und doch so massiv, so giftig (und langweilig), so machtvoll. Ich halte es knapp eine Viertelstunde aus. Dann ist Schicht. Ich habe besseres zu tun. Ich höre Schumanns Sinfonische Etüden. Die blanke Realitätsflucht. Aber herrlich. Darüber – über die Musik! – gern das nächste Mal. junge Welt, März 2022