Meistrin leidenschaftlichen Bedachts

Die Geige. Ein seltsam Ding. Gefertigt aus dem Holz uralter Bergfichten, ein geschwungener Kasten bespannt mit Tiergedärm. Was für Töne lassen sich ihm entlocken! Man denkt an Paganini, ans Beethovenkonzert oder an, wer sie kennt, Giacinto Scelsis wunderbare Capricen. Als Violinheiligtum gelten Bachs (1685-1750) Sonaten und Partiten für Solovioline, was gibt es Schöneres als die Chaconne d-Moll?

   Gewiß nichts Schöneres und Bedeutenderes. Aber es gab Zeitgenossen Bachs, auch ältere, meist selbst große Geiger, die Musik für die Solovioline komponierten. Isabelle Faust stellt diese Meister im Schatten mit einer neuen CD, wohin sie gehören, ins Licht. Faust klingt wie eine geborene Barockgeigerin, freilich eine des 20. und 21. Jahrhunderts, die in ihrer Ausbildung und Karriere alle Höhen und Tiefen einer zweihundertjährigen Aufführungstradition überlebte. Fausts Doppelgriffe, wenn sie Barock spielt,  strotzen vor Farbenpracht, ihre Triller sind rokokohaft flüchtig. Sie braucht kein Vibrato, um den langen Tönen, weich oder spitz, Leben einzuhauchen. Den Bogen sehr nah am Griffbrett, kann sie auf der Geige raunen und verhauchen.

   Johann Georg Pisendel oder Heinrich Ignaz Biber kennen vielleicht nicht wenige. Aber Vater und Sohn Nicola Matteis? Oder die Namen Nicolas Guillemain und Johann Joseph Vilsmayr? Faust holt sie alle hervor. Das Problem barocker Soloviolinisten: die Melodiestimme musste auf den nur vier Saiten einer Geige immer wenigstens andeutungsweise Mittelstimmen und Bassbegleitung mitspielen, das hing ihr bisweilen am Bein wie ein Klotz. Nicolas Guillemain (1705-1770) löste das Problem, indem er, die Zweistimmigkeit aussetzend, ziemlich in die Mitte seines achtteiligen „Amusement pour le violon seul“ eine durchgehend einstimmige Aria setzte – für Faust ein Heimspiel sanglicher Tongebung und so schatten- wie abwechslungsreicher Phrasierungskunst.

    Der 1683, zwei Jahre vor Bachs Geburt verstorbenene Geigerkomponist Heinrich Ignaz Franz Biber führt die Zweistimmigkeit einer Solovioline in seiner Passacaglia gipfelnd in die funktionierende Illusion über, da spielten zwei. Faust auf der tiefen Saite gibt als Bassfundament vier absteigende Noten vor. Auf das Zeitmaß der im Ohr verklingenden Basstöne lässt sie – mit blitzschnellen Fingern von der tiefen G-Saite zur hohen E-Saite und zurück springend – zwischen den absteigenden Tönen variative Improvisationen auf die Harmonien des Bassgangs in die Höhe schießen. Man weiß nicht, ob es schwerer ist, sich so etwas auszudenken oder noch schwerer, es so zu spielen. Dass Faust es spielt wie selbsterfunden, muss bei aller Leidenschaft am Bedacht liegen, mit dem sich diese Solistin den Noten widmet.

Heinrich Ignaz Franz Biber Passacaglia g-Moll

 Eine Hommage an den Nichtgeiger Sebastian Bach, der zu den Meistern dieses Albums in interaktiver Beziehung stand. Sie haben von ihm genommen, was er, den Sack zumachend, von anderen an Anregung bekam. Analog zum Denkmal könnte man es ein „Hörmal“ nennen, was Isabelle Faust den a capella Geigenden und ihren barocken Komponisten da errichtet hat. Als ein „Hörmalrein“ eine schöne Empfehlung. junge Welt, März 2024

Isabelle Faust solo. Arbeiten für die Solovioline: Matteis sr. Fantasie a-Moll, Matteis jr. Ayres für Violine / Pisendel Sonate a-Moll / Guillemain Amusement für Geige allein / Vilsmayr Partita Nr. 5 / Biber Passacaglia g-Moll (Harmonia Mundi France)

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