Currentzis’ Ukraine-Spagat

Das musste so kommen. Dem griechischen Dirigenten Teodor Currentzis wird seine Lebensentscheidung so langsam zum Problem. Er hat in Russland studiert, hat seine Musikerkarriere dort aufgebaut und mit der Gründung des russischen Ensembles und Chors MusicAeterna den Schwerpunkt seiner Arbeit sehr erfolgreich zuletzt nach St. Petersburg verlegt – um zugleich als inzwischen hochgefragter internationaler Star auch im Ausland tätig zu sein.

Denn „Ausland“, das ist in der Klassik immer noch schwergewichtig der Westen, innerhalb seiner Deutschland eine der feinsten Adressen. Darum war es konsequent vom Griechen mit dem russischen Pass, sich mit dem SWR Symphonieorchester einen deutschen Klangkörper (einen der besten) als Auslandsstützpunkt zu wählen.

Aber dann kam der 24. Februar 2022. Ein Sturm brach los. Der Westen fiel über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Russen her, selbstgerecht und doppelzüngig, als hätte es die dreistellige Millionenzahl an Opfern US-amerikanischer und europäischer Kollonialkriege seit 1945 nie gegeben. Dagegen sehen die doppelten Standards westlicher Ethik gesellschaftsweite Empörung über den russischen Krieg vor, verbunden mit dem täglichen Ruf nach immer mehr Waffen. Wer den Gesslerhut der Geißelung des völkerrechtswidrigen, grausamen etc. russischen Angriffskrieges nicht grüßt, fliegt raus aus der Wertegemeinschaft westlicher Gesellschaften.

Solch meinungsfreiheitlich-demokratisch verordneter Gesinnungsschnüffelei fielen einige russische Musikerkollegen von Currentzis zum Opfer. Sie waren allzu verstrickt in Putins Machtgefüge. Das Gros der anderen, durch hochdotierte Chefdirigentenposten oder Solisten-Stargagen im Westen bestens abgesichert, grüßte den Hut.

Currentzis aber schwieg und schweigt. Das Online-Klassikmagazins VAN führt in einem gründlich recherchierten Beitrag zum Thema Currentzis‘ Beziehungen zur halbstaatlichen VTB-Bank oder zum Gazprom-Konzern an. Aber Currentzis‘ Ensemble MusicAeterna ist basisdemokratisch und staatsfrei organisiert, allein vom Kartenverkauf kann es nicht existieren; es braucht und nutzt sympathisierende Unterstützer aus Wirtschaft und Politik. Mehr ist es nicht. „Ein Skandal“ also, resümiert VAN ironisch, „dass man ihn in Dortmund, Salzburg oder Hamburg weiter auftreten lässt!“ Das Magazin führt indes auch Kommentare des flamboyanten Dirigenten an, die putinkritisch sind. So sagte er etwa 2018, »alles (in Russland sei) korrupt, wir kennen das seit mehr als 1000 Jahren. « Und 2017 kritisierte er mit deutlichem Seitenblick auf Valerij Gergjev die in der Tat zu verurteilende Verhaftung des Regisseurs Kirill Serebrennikov: „Bekannte Männer veruntreuen offen riesige Geldsummen und bleiben frei, leiten nach wie vor Staatstheater und genießen große Privilegien. Gleichzeitig landen Menschen, die echte Arbeit leisten, Menschen, die in der modernen Kunst etwas Neues schaffen, das in der ganzen Welt anerkannt wird, im Gefängnis.“ Er unterschrieb die Petition zur Befreiung Serebrennikovs. All das lange vor dem Februar 2022.

Die letzte Meldung in der Angelegenheit stimmt nun allerdings wirklich traurig. Wenn selbst ein so integrer und besonnener Mann wie Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner Philharmonie, dem transatlantischen Druck nach langem Zögern nachgibt und das nächste Kölner Currentzis-Konzert im Januar 2023 mit Verweis auf den russischen Krieg absagt, muss der Druck der NATO-Sittenrichter wirklich extrem wirksam sein.

„Teodor Currentzis und die Mitglieder des SWR Symphonieorchesters stehen mit aller Deutlichkeit hinter dem gemeinsamen Appell für Frieden und Versöhnung“, zitiert VAN die Erklärung des Dirigenten und seines fabelhaften deutschen Orchesters zum Krieg. „Zaghaft“ nennt VAN solche Worte. Sie klingen aber nur „zaghaft“, weil die NATO lange vor dem Ukraine-Krieg Begriffe wie „Frieden“ oder „Versöhnung“ oder auch nur “Diplomatie” aus ihrem Denken und Wortschatz gestrichen hat. Sie wären die Lösung. Putin, innenpolitisch fraglos anfechtbar, hat außenpolitisch bis zum 24. Februar 2022 überzeugend versucht, ihnen alle Türen zu öffnen. junge Welt, Oktober 2022

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