Carl Maria von Webers “Freischütz”. FBO. Jacobs.

Zwischenüberschriften junge Welt

Der »Freischütz« kam 1821 heraus. Carl Maria von Webers Oper war nicht allein ein sensationeller, sie war ein aus mehreren Gründen erstaunlich viel Neues bietender Erfolg. Schon die Stadt seiner Uraufführung. Bis 1821 kam das musikalisch Bedeutsame im Opernschaffen aus dem sich als koloniales Zentrum der damaligen Welt begreifenden Mitteleuropa, aus Wien, aus London, aus ganz Italien, aus Paris, das in dieser Zeit zur kulturellen Hauptstadt des europäischen 19. Jahrhunderts aufsteigt. Aber aus dem preußischen Berlin? Dass dort etwas wirklich Bemerkenswertes das Licht der Musikwelt erblickte, war neu. Und Webers (1786–1826) Großtat war in vielerlei Hinsicht die erste wirklich »deutsche« Oper.

»Deutsch« war auch Mozarts »Zauberflöte«, die 1791 in Wien uraufgeführt worden war; aber das »Deutsche« in ihr schlägt sich mit Sarastro, dem Worträucherer und ersten Menschenrechtsmachthaber der Operngeschichte, mit meinem Helden Papageno bis hin zu den bachisch Geharnischten vorerst nur in der Sprache nieder. Immerhin, bis dahin wurde auf deutschen Bühnen italienisch gesungen. Aber Mozart war in einem herzens- statt handelseinigen Sinn bereits ein einer Zukunft ohne Eigentumsdiktat zugewandter Europäer; in seine »Zauberflöte« fließt viel Italienisches und einiges Gluck-Französische ein neben vielfach »deutscher« Musik. Webers Oper aber lebt in ihren Formen, ihrem Ausdruck, ihrer musikalischen Kraft im Kern aus dem noch kaum erschöpften Einklang, dem auch kulturellen Nährboden der übergroßen Bevölkerungsmehrheit jener Gebiete, die später unter der Bezeichnung »Deutschland« zusammengefasst wurden.

Während der »Freischütz« triumphiert, arbeitet Beethoven an »Missa solemnis« und »Diabelli-Variationen«, er hatte seine große Oper »Fidelio« nach vielem Hin und Her schließlich während des Wiener Kongresses doch noch groß herausgebracht und war bereits der alles überragende Gigant der Szene, er prägte und lastete.

Mehrerlei Romantik

Da trifft es sich, dass mit einer Neuaufnahme des »Freischütz« jetzt René Jacobs hervortritt. Derselbe belgische Dirigent, der sich beim selben Label Harmonia Mundi France vor nicht allzu langer Zeit mit Beethovens »Leonore/Fidelio« einen Namen gemacht hat (jW, 21. 12. 2019). Sein »Instrument« ist erneut das Freiburger Barockorchester (FBO), dazu ein vom früheren Countertenor René Jacobs mit Metierkenntnis zusammengestellter Sängercast.

Auch die »Leonore« ist eine deutsche Oper. Aber welche Differenz zwischen »Zauberflöte«, »Leonore/Fidelio« und »Freischütz«. Dreierlei Deutschsein. Dreierlei Idee von Oper. Webers Lebenszeit war eine glühend heiße Epoche. Vieles schmolz dahin oder verband sich zu Neuem, um erneut wachsend dynamisch stabil zu werden. Energiequelle bis weit ins folgende Jahrhundert: die Ideen der französischen Revolution, mit auch musikalischen Folgen. Die Geburt einer neuen Musiksprache – genuin bürgerlich, pathetisch, triumphalistisch – verdankte sich dem französischen Komponisten François-Joseph Gossec. Der verstorbene Musikautor Ulrich Schreiber weist in seinem zweibändigen Opernführer darauf hin, dass Gossec neben vielem anderen für die orchestrale Emanzipation der Naturhörner sorgte; Weber baute sie, dem deutschen Wald huldigend, im »Freischütz« wegweisend aus. Hatte schon Mozart in seinen Moll-Werken, den Klavierkonzerten, Fantasien, in seinem wunderbaren Streichquintett und an manch anderer Stelle ausgesprochen romantische Momente, sind diese bei Beethoven kaum zu zählen. Undenkbar ohne Gossec der Ton der »5. Sinfonie« oder des Trauermarschs der »Eroica«.

Karl Friedrich Schinkel

All das trägt sich, sich überlagernd und gegenseitig durchdringend, binnen ungefähr fünfzig Jahren zu. Was aber ist davon im seither etablierten Verständnis »romantisch«? Mit Sicherheit lässt sich vieles von dem, was seit anderthalb Jahrhunderten als »Romantik« gilt, in die Nuanciertheit aufgeschriebenen Nachdenkens über die Epochen der Künste nicht mehr einsperren. Die Romantik, wenn man so will, beginnt – zeitgleich mit dem Rokoko, aber ästhetisch völlig anders ausgerichtet – mit Carl Philipp Emanuel Bachs Klavier-Fantasien. Schaut man sich die Gemälde der Epoche an – Goya, David, Ingres, Schinkel, Delacroix, am Ende, extrem zukunftsweisend, William Turner –, überrascht, wie verschieden die Wege, wie gediegen, verharrend, geformt bei den einen; wie frei geschaut und meisterlich getan bei den anderen!

Schon der Barock hatte ja die Renaissanceordnung aus vollendet gestalteter farbiger Ruhe und geometrisch atmendem Raum aufgelöst – in eine im Westen regelbasiert affektierte Leidenschaft; nach Osten hin in eine exzessiv geordnete, echt deutsche – Händel wusste sich ihr zu entziehen –, eine weiter hinten echt russische Innigkeit. Mitten heraus aus dem sympathischen Zwischenspiel des Rokoko brechen in kurzer Folge Sturm und Drang und aus ihm – via Carl Philipp Emanuel Bach – die Wiener Klassik hervor. Ihre drei Meister verfolgten in der Sprache ihrer Länder gebannt die revolutionär-endgültige Überwindung des Mittelalters in Frankreich; allein Haydn wohl eher mit nur musikalischen Konsequenzen. In Beethovens, Mozarts und auf markant eigene Art auch in Schuberts Musik überdauert dieses Erlebnis auf je verschiedene Weise.

C. M. v. Weber

Aber kaum ist Beethoven 1827 tot, steht Schubert, der Spätling der Wiener Klassik, im Ruch, der erste wirkliche Romantiker gewesen zu sein. Und nun Weber. Schon auf dem Deckblatt des »Freischütz« ist zu lesen: »romantische Oper«. Mit ihren Feldern, ihren Auen, dem Jungfernkranz und mehr noch mit den theatermusikalischen Ausschreitungen der mittelalterlich höllischen Samiel-Sphäre gipfelnd im 2. Aktfinale der Wolfsschlucht, ist sie bis hin zu Wagner das Modell für »die« romantische Oper. Aber Weber ist elf Jahre älter als Schubert. Und der war gerade mal dreizehn Jahre jünger als der unangefochtene Erzromantiker Schumann. Hatten die einen die vorläufige Niederlage der Revolution seit Thermidor und Wiener Kongress noch nicht verdaut und mussten mit deren Ergebnissen ab 1815 die repressive Gewalt der Metternichschen Restauration erleben, trieben die um und nach 1800 Geborenen in einer langen Phase weiterer Prekarisierung und forcierter staatsterroristischer Unterdrückung schon auf die am Ende verlorene Revolution von 1848 zu.

Oper für eine kleine Welt

Der sechzehn Jahre ältere Beethoven hatte noch ein Jahr zu leben, als Carl Maria von Weber 1826 mit vierzig starb. Auch an Weber – konzentriert in der »Freischütz«-Ouvertüre – ist die neue Sprache Gossecs nicht vorbeigegangen. In ihr erklingt bei beiden die sinfonische Verheißung bürgerlichen Aufbruchs. Der Unterschied: Weber geht das Jacobinische ab, das dezidiert Martialische des einen Wimpernschlag lang revolutionären Bürgertums, Mars, das war der griechische Gott des Kriegs. Sein Sprachrohr Gossec dirigierte die Tausenden von Mitwirkenden seiner revolutionären Massenmusiken weit geöffneten Blicks in eine glorreiche Zukunft, Open air auf dem bis an den Horizont mit Menschen gefüllten Champ de Mars, dem Marsfeld.

Weber dagegen schrieb seine Opern für die überschaubare Welt der königlichen Staatstheater, er hielt sich zivil. Seine Romantik hat etwas vom Citoyen. Weder sein deutscher Wald noch der romantisch exaltierte Geisterspuk der Wolfsschlucht berühren sich mit dem, was Rousseau unter Natur verstand. Dabei hat, wie Rousseaus Botschaft, die packende Zweitwirklichkeit der Wolfsschlucht-Musik etwas modern Auflösendes. Die Malerei Eugène Delacroix‘ (1798–1863) macht über Gattungsgrenzen hinweg vergleichsweise deutlich, mit welchem Pfund Weber da wuchert. Aber anders als Beethoven war Weber kein republikanischer Berserker. Die wilde Kraft, die sich in Delacroix‘ Gemälde mit dem blitzhellen Krafthengst vor dunkelstürmischem Himmel ballt, wütet auch in der Unheimlichkeit der Wolfsschluchtmusik.

Eugène Delacroix

Das Unheimliche schafft Unruhe. Die mochten die Oberen schon damals nicht. Weber schirmt die Dynamik dieser Unruhe mit der Eindimensionalität des guten Glaubens ab. Er bedient in volkstümlich großer Musik die seichte Scheinheiligkeit des Biedermeier, ein Stil, der malerisch anschaulich wird in einer, wie bei Weber, technisch meisterlichen und malerisch vorzüglich duftenden Landschaftlichkeit des gar nicht immer nur biedermeierlichen Carl Spitzweg (1808–1885).

Dem guten Glauben gehört im »Freischütz« das letzte Wort. Aber die ganze Oper hindurch wird seine erleuchtete Eindimensionalität bis in Einzelheiten immer wieder durchkreuzt, durchwirkt und durchbrochen von der finster tremolierenden Unruhe des Unheimlichen, musikalisch ist sie der heiligen Ruhe ohnehin weit über. Weber verwirklicht im »Freischütz« die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, ein Moment, das unter den Künsten so radikal nur der Musik gegeben ist.

Jacobs und das FBO spielen es präzis und spannungsgeladen aus, sie stellen die bis heute unbestritten referentielle Dresdner Produktion der Deutschen Grammophon von 1973 mit Carlos Kleiber, der Staatskapelle und gesegneten Sängern nachgerade in den Schatten – einer anderen Sonne allerdings. Zumindest im Ohr jener, denen im kammermusikalisch durchhörbaren, barockinstrumentiert die Farben segmentierenden Klang des FBO nichts an Erscheinungsgröße fehlt, im Gegenteil: Webers neue Orchesterbehandlung bietet ihnen in Händen Jacobs’ und des FBO eine Romantik, die farbiger, präsenter und zeitgemäß expressiver ist als die des großen Kleiber.

Friedrich Kind

Dabei weiß René Jacobs offenbar, dass auch die historischen Schichten eines Werks erklingen müssen, wollen die ästhetischen einleuchten. Es gibt in dieser Oper der vielen Schichten, in der Literatur wenig beachtet, auch eine der Klassenlage. Nicht allein um Gut gegen Böse dreht sich alles. Die seit der Uraufführung gespielte Fassung des »Freischütz« beginnt nach dem C-Dur-Jubel am Ende der Ouvertüre mit etwas Drittem: In der großen Volksszene des Schützenfests tritt mit den Bauern – als Chor und solistisch im Schützenkönig Kilian – als erstes die übergroße Bevölkerungsmehrheit der damaligen Unterklasse auf. Ein aggressiv selbstbewusstes Spottlied gegen die feudale Obrigkeit unterstreicht die Konstellation. Kilians Lied erinnert an den vorrevolutionär trotzig kampfbereiten Figaro Mozarts, der in seiner Opposition in Webers Kilian allerdings schon nicht mehr allein ist (dass der »Freischütz«-Librettist Friedrich Kind ihn als »reichen« Bauern sieht, enthebt ihn nicht seiner Klasse). Weber habe, so der lesenswerte Musikschriftsteller und Weltbühnen-Autor Oskar Bie (1864–1938), mit dem »Freischütz« gegen viele Widerstände und Anfeindungen eine neue Art Kunst durchgesetzt, »die mit der Volkstümlichkeit Revolution verband, eben weil diese Revolution die des Volkes war.«

Biedermeierprobleme

Franz Schubert

Nun treten in Jacobs’ Neuaufnahme in einem Prolog als Protagonisten des Guten im »Freischütz« aber zuerst der Eremit und die weibliche Hauptfigur Agathe auf. Der Dirigent folgt damit dem Text der Urfassung Kinds. Der hatte den Eremiten nicht am Ende wie einen Deus ex machina aus dem Nichts kommen lassen wollen, die Oper sollte mit dem Prolog zyklisch-ethischen Halt und Rahmen bekommen. Aber Weber wollte Tempo. Er strich Kinds Prolog. Jacobs macht den Strich wieder auf. Das Problem: Woher nehmen die Musik für die beiden, von Weber nicht komponierten Prologszenen? »Gestohlen« hat Jacobs nur bei Schubert. Die Noten zur dito gestrichenen Auftrittsnummer des Erbförsters Kuno entstammen dem Trinklied aus Schuberts Singspiel »Des Teufels Lustschloss« (Zweitfassung von 1814); der Eremiten-Text wurde mehrheitlich mit Adagio-Teilen aus der Ouvertüre und anderem unterlegt, Agathe braucht im Prolog keine Noten, sie spricht anfangs nur.

Der »Freischütz« ist eine Oper des Biedermeier auch darin, dass er in der Zwischenklasse spielt. Die Jäger, extrem angepasst und untereinander konkurrierend, erstreben alle im Amt des Erbförsters das ihnen erreichbare Karriereziel. Max als männliche Hauptfigur hat es glücklich auch noch auf die Erbförstertochter Agathe abgesehen; er muss sie sich, so ein alter Brauch, durch einen Probeschuss erst noch verdienen.

Auch im Blick auf Agathes Cousine Ännchen geht Jacobs andere Wege. Er macht sie vom herkömmlich harmlosen Biedermeierpüppchen zur selbstbewusst aktiven Serva padrona, einer Dienerin als Herrin (so der Titel einer berühmten Oper Pergolesis); Theodor W. Adorno hat diesen selteneren, gesellschaftlich mehr am Unten orientierten Charakter des Kleinbürgertums in Kinds Ännchen ausgemacht. Ihre von der Bratsche Corina Golomoz’ herausgestrichene Bravour-Romanze »Einst träumte meiner seligen Base«, von Kateryna Kasper komödiantisch drall, mit natürlichem Vibrato vorgetragen, beglaubigen Ännchens dramaturgisches Gewicht eindrucksvoll. Ohne dass solche Anschauungen im »Freischütz« weiter verfolgt würden: Der C-Dur-Jubel am Ende der Ouvertüre, aus dem sich eingangs progressiv ja vielleicht der kraftvoll himmelwärts strebende Optimismus eines historisch noch weitgehend unbefleckten Bürgertums heraushören ließe, wird im Handlungsverlauf zurückgeführt ins Private: Aus Agathes vollem Jungfernherzen bricht am Ende ihrer großen Arie genau zur Musik des C-Dur-Jubels die Liebeserwartung, denn es ist der Jungmann Max, der sich im Moment im fahlen Mondlicht des Waldes nähert. Schließlich dient diese Musik ganz am Ende noch einmal – schon deutlich weniger kraftvoll instrumentiert – zur Bekräftigung des krass platten Happyends des »Freischütz«.

Vorbereitet von drei wundervollen Ensembles, entfaltet sich im fast zentral als zweites Finale angelegten Wolfsschluchtorbit eine andere wichtige Schicht der Oper: strukturelle Angst vor den Schrecken des Krieges, der Tod in den Texten des düsteren, von wenigen Accompagnati unterbrochenen Melodrams ist zentral. Die Handlung spielt in der Zeit unmittelbar vor Ende des Dreißigjährigen Kriegs; Kaspar, von Dimitri Ivaschtschenko psychosozial kernecht gesungen, ist ein markig baritonaler Landsknecht. Die Menschen von 1821 hat das Wolfsschluchtfinale in ihrem guten Glauben erschüttert, sie hatten dergleichen von den Napoleonischen Kriegen her noch gut in den Ohren und Knochen. Samiel zitiert etwas verfrüht Nietzsche (1844–1900): Gott ist tot. Bei Jacobs hat dieser Dienstleister der Hölle, bei allem Todesgeruch, einen kleinen Rest mephistophelisch bitterer Kritik. Wie anders dagegen noch die Höllensphäre in Mozarts, in Webers Geburtsjahr uraufgeführtem »Don Giovanni«. Da macht der adelige Höllenaspirant, ein Bariton, eine faustisch andere Figur als der, in Jacobs’ »Freischütz«-Neuaufnahme leider etwas seltsam timbrierte, biedermeierlich ängstliche Tenor Max (Maximilian Schmitt). Für ihn ist die Wolfsschlucht ein moralischer Alptraum und Absturz, fürs Auditorium ein hinreißender musikalischer Trip.

Im Hinblick auf ein operngeschichtliches Manko des »Freischütz« – er ist noch nicht durchkomponiert – wäre mit Hilfe der in dieser Aufnahme erklärtermaßen verwendeten Hörspieltechnik (den Hörenden soll auf diese Weise beim »Sehen« des Bühnengeschehens geholfen werden) mehr drin gewesen: Auch die modernisierten Singspieldialoge halten noch auf, auch sie wirken oft unbeholfen naturalistisch und altbacken. Eine Regie dafür vermisst man ebenso wie den klangvariabel atmosphärischen Einsatz digitaler Möglichkeiten der Klangerzeugung.

Im dritten Akt erfolgt mit dem Auftritt des Eremiten die ideologische Rettung. Alles ist auf Beruhigung gestellt. Das Orchestervorspiel ein Programm. Die Hörner in zunächst Sicherheit und Ordnung versprechender Rüstungsmusik wechseln den Ton: Jägerlich zivilmilitärisch erklingt ein Jahrhundert-Hörnerruf, der sicher auch Rossini gern eingefallen wäre; er ruft zum alles entscheidenden Probeschuss. Wieder ein Volksfest. Denn mit den Unteren kehrt noch einmal der protodemokratische Ton des Anfangs zurück, der Marschmodus mutiert zum Volkstanz.

Alles beim alten

Jacobs und Kind haben recht: Durch den Prolog am Beginn bekommt der fromme alte Mann am Ende mehr Wirklichkeit. Aber was ist das für ein Finale! Ein wahrer Berliner Bundestagsfestakt der Gegenwart. Denn da wird wie vor laufenden Kameras etwas gesundgebetet, von dem alle wissen, es ist die Krankheit. Trotz der megaspäten Abschaffung des unmenschlichen Probeschusses und trotz des Tods des bösen, am Ende richtig armen Kaspar bleibt – in der oratorisch gehobenen, musikalisch je höheren, desto uninteressanteren Welt, die da beschworen wird – alles beim alten. Allerdings, es entsteht Verstörung. So viel menschliche Schwäche, ausgenutzt von so höllischen Mächten – das hat einfach zu viel Ähnlichkeit mit allem, was die Menschen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus eigener Erfahrung allzu gut kannten.

Es war natürlich Richard Wagner (1813–1883), der sich 1844 mit den Worten »Nie hat ein deutscherer Komponist gelebt«, grammatikalisch anfechtbar, musikalisch aber nicht ganz unberechtigt, das Erbe Webers unter den Nagel riss. Zugleich setzte er das bis heute geltende Stichwort von der Geburt der »deutschen Nationaloper« in die Welt.

Im Booklet-Text zitiert Martin Bail zum Thema »Freischütz und deutsche Nationaloper« einen Aufsatz des bedeutenden Musikwissenschaftlers Alfred Einstein von 1941: »Die berühmte Wolfsschluchtmusik ist ein französisches Melodram, die Romanze Ännchens eine französische Romanze und die große Szene und Arie Agathes« – Polina Pasztircsak lässt ein anrührendes, stimmlich angenehm unaufgedonnertes Kleinbürgermädchen hören – »eine italienische ›Scena‹«. Italienisch wie Kaspars triumphstrotzende Vendetta-Arie »Schweig, schweig«. Nix mit deutsch. Die musikalisch echt bis ins feinste Nervennetz der Seele reichenden Nummern des »Freischütz« verdanken sich durchweg der Musikgeschichte Mitteleuropas, wie gut.

Nationalistischer Missbrauch

Spurenelemente deutschnationaler Vorstellungen von so etwas wie Vaterland, die sich die »Nationalen« – seit je anfällig für Plagiate – ins Wappen malten, gab es bereits 1821 in der linken Forderung nach konstitutionell vom Feudalismus befreiten, national geeinten Bürgerrepubliken. Aber der Nationalismus, wie wir ihn heute kennen, kam 1844 gerade erst auf, als der königlich-sächsische Hofkapellmeister Wagner seine Rede am Grab Webers hielt (dessen sterbliche Überreste er von London zum endgültigen Grab nach Dresden hatte überführen lassen). Als Denkschema und politische Bewegung war der Nationalismus, so Eric Hobsbawm in seinem Buch zum Thema, die Antwort der Herrschenden auf die zur selben Zeit im Entstehen begriffene Arbeiterbewegung.

Freiburger Barockorchester (in jung)

Er hat sich, der Nationalismus, deprimierend erfolgreich nicht zuletzt aufgrund der schweren Unterlassungssünden der deutschen Linken, schamlos unter den Nagel gerissen, was es heißen könnte, deutsch zu sein. Aber der durchgreifend nationalistische Missbrauch des irgendwie Deutschen an den Deutschen muss nicht zwangsläufig dazu führen, die Möglichkeit eines Deutschseins fundamental zu verwerfen. Auf dieser »Freischütz«-Neuaufnahme mit international aufgestellten Vokalisten, dem mehrheitlich deutschen FBO und dem Belgier René Jacobs klingt der »Freischütz« unbelastet europäisch, frisch und kraftvoll. Und das Hinhören auf das, was vielleicht »deutsch« sein könnte in den nicht wenigen, zu wirklichen deutschen Volksliedern gewordenen Nummern, lädt ein, Antworten zu finden auf die Frage: Was ist das, was könnte es sein, das »die Deutschen«, die das Land, in dem sie leben, irgendwann in momentan besonders fern erscheinender Zukunft begründet auch einmal »ihrs« nennen werden (Brecht, Kinderhymne), unterscheidet von den vielen Menschen jenseits ihrer Grenzen? junge Welt, Mai 2022

Carl Maria von Weber: Der Freischütz op. 77 WEV.C 7 – Christian Immler, Kateryna Kasper, Maximilian Schmitt, Yannik Debus, Matthias Winckhler, Dimitry Ivashchenko / Zürcher Sing-Akademie / Freiburger Barockorchester / René Jacobs (Harmonia Mundi France)

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