Nadelör Zeitenwende.

Der Begriffeaufwärmer

Das Wort bleibt hängen. Zeitenwende. Eine begriffliche Übergröße. Der Begriffeaufwärmer im Kanzleramt nutzt das Wort, um die Tatsache zu beschreiben, dass sich menschheitlich in der Welt gerade Allesentscheidendes tut.

Er hat ein Handycap. Das Ding, das er gerade dreht, muss durch ein Nadelör. Das Nadelör einer Zurückführung dieser Zeitenwende auf den – bitte immer dran denken – „grausamen“, „blutigen“, „menschenverachtenden“, den vor allem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ Wladimir Putins gegen die unschuldigen, mutig das Banner der Freiheit gegen die grausame, menschenverachtende – s.o. – russische Tyrannei schwingenden Ukrainer.

Aber nachdem draußen in der Welt längst nicht allein die Freunde des marokkanischen Fußballs ­begreifen, dass der Hase anders läuft, als in Berliner Jagdbeschreibungen vorgegeben, wird sich mit der Zeit wohl nicht verhindern lassen, dass ganz langsam auch der Block der notorischen Qualitätsmedien-Nutzerinnen im Spitzenland Europas bröckelt: Auch dieses Kamel wird, so etwas deutet sich an, am Ende nicht durchs Nadelör gehen.

Der Begriffeaufwärmer und seine Leute wissen es natürlich längst. Bevor sie, wenn denn nötig, Diskussionen über Probleme, die am Ende nicht durch Nadelöre passen, á la Erdogan in versteht sich demokratischer Manier freiheitlich und nunmehr auch offen verbieten – dürfen alle möglichen Menschen in diversen Talkshows und interaktiven Gesprächsforen alles mögliche zum Besten geben, was Gutversorgten so durchs Hirn wieselt, wenn der Tag lang ist. Im Mittelalter redeten sie sich die Köpfe heiß um die Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben.

Galilleo Galilei

Die eher party-scholastischen Spitzfindigkeiten unserer Tage haben mit den lateinisch mittelalterlichen (siehe „Name der Rose“) etwas gemeinsam: es gibt für ihre Freiheiten eine rote Linie. Wer sie übertritt, wie es Männer wie Kopernikus, Giordano Bruno oder Galilei taten, war des Todes. Heute bekommt man, schon, wenn man der roten Linie nahekommt, bei freilich noch lebendigem Leib, die öffentlichen Mittel gekürzt, wie es den Nachdenkseiten geschieht; man bekommt den Geheimdienst auf den Hals, wird als „extremistisch“ gebrandmarkt, wie die junge Welt; oder sie stecken einen bei schon gar nicht mehr so lebendigem Leib fern jeder Rechtsstaatlichkeit für Jahre in eine Isolierzelle des schlimmsten britischen Hochsicherheitsgefängnisses, als nur erst einer Warteschleife für die Auslieferung an den schlimmsten Unrechtsstaat unserer Zeit: die Vereinigten Staaten von Amerika.

Die katholische Kirche hat 400 Jahre gebraucht, ihre mörderischen Irrtümer zuzugeben, sie hat sich bis heute nicht bei den Millionen Opfern ihres weltweiten Glaubensterrors entschuldigt. Dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, bestreiten heute trotzalledem nicht einmal mehr die Evangelikalen. Und so kreisen die Sonnen der Menschheit nicht mehr unhinterfragt um die leidgeprüfte Erde der Yankee-Demokratie seit, neben vielen anderen, Julian Assange der Weltöffentlichkeit mit einem brutal deutlichen Video sowie der Veröffentlichung digitaler Korrespondenzen der US-Außenpolitik die Augen öffnete für Wesen und Wirken der selbsternannten Weltführungsmacht.

Das absolute Supremat dieser ganz speziellen Sorte Demokratie gleicht 2023 dem absoluten Supremat Gottes im christlichen Mittelalter. Beide, der eine einzige Gott und die einzigmögliche Demokratie, überwölbten und stabilisierten die Wirklichkeit der beiden, aufeinander folgenden europäischen Zeitalter. In beiden ist die Arbeit der großen Mehrheit der Bevölkerungen Bedingungen für die Existenz jeweils einer kleinen Bevölkerungsminderheit, eine Konstellation, die verlässlich für Krisen und Kriege sorgt. In ihrer Folge gerät heute der zumindest nach außen erhobene ethische Anspruch der Machtsysteme jener beiden Zeitalter in immer heftigere Konflikte mit ihrer Evidenz.

Die Kirche hat sich seit Galileo, Bauernkriegen und Schisma glänzend durchgemogelt, sie hat sogar Nietzsche überlebt. Es steht gleichwohl 2023 nicht gut um sie. Der Demokratie bürgerlicher Provenienz geht es kaum besser. Ihr Narrativ wird – so, wie es aussieht – zumindest für von Korruption nur oberschichtig betroffene Völker angesichts immer fadenscheinigerer Lügen der nunmehr digitalisierten Kolonialherren immer unglaubwürdiger.

Und wir, ziemlich fernab der weltrevolutionären Vorgänge der Gegenwart – der Ukrainekrieg ist ja nur als Vorspiel gedacht –, nehmen mit Blick auf die Geschichte staunend einmal wieder zur Kenntnis: Sie bewegt sich offenbar wirklich. junge Welt, Januar 2023

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