Globke

Hans Globke im Dienst (mit wegretuschiertem Hakenkreuz am linken Ärmel)

In einem alten Schwarzweißfilm kommt ein Mann auf die Kamera zu. Ein grauer Wintertag in den 1960er Jahren. Der Mann, geschätzt Anfang sechzig, geht nah am Kameraauge vorbei. Im Schatten der Krempe eines honorigen Filzhuts eine randlose Brille, im Ausschnitt eines grauen Wollmantels ein dunkler Kaschmirschal. Aus der Nähe wirkt es, als bemerke er niemand außer sich selbst, das täuscht. Aktentasche links, geht er die Straße hinab. Sein Gang wie alles an ihm: nicht steif aber kontrolliert, unerschütterlich korrekt, durch und durch ein Beamter. Er geht auf ein Gerichtsgebäude zu, schlüpft durch eine Hintertür hinein. Bis ganz zuletzt hat es dieser Mann geschafft, bei Gericht immer nur als Zeuge aufzutreten.

„Ein Mann mit Vergangenheit“, hat ein Kenner in Hans Maria Globkes Zeit über ihn gesagt. Als der Publizist Reinhard-M. Strecker die bis dahin bekannt gewordenen Bruchstücke der Vergangenheit Hans Globkes aufdeckte – der Deutschlandfunk stellte zuletzt noch 2021 fest, die Akten zum Fall Globke seien „bis heute nicht zugänglich“ – und als Streckers Buch über einige Dinge im Leben Hans Globkes 1961 schließlich herauskam, prozessierte Globke dagegen. Der Prozess endete mit einem Vergleich, das gerichtlich leicht beanstandete Buch überlebte seine erste Auflage nicht.

Adenauer und Globke

Globke war ein mächtiger Mann. Als Chef des Bundeskanzleramts ab 1953 war er der höchste Beamte, er war der personalpolitische und geheimdienstliche Strippenzieher im Staate BRD. In allen westdeutschen Berichten über ihn steht zu lesen, der Bundeskanzler Adenauer habe Globkes Können benutzt. Und habe zugleich den perfekten Verwaltungsjuristen und im Machthaben erfahrenen politischen Berater wg. Vergangenheit stets in der Hand gehabt. Diese Ansicht sieht darüber hinweg, dass es in den Hierarchiespitzen des kapitalistisch-liberalen Demokratie-Typs wenige, in der Öffentlichkeit weitgehend unsichtbare, außerhalb demokratischer Prozesse stehende Machthaber gab und gibt, welche die jeweiligen Bundeskanzler*innen, wenn nicht in der, so doch gut an der Hand haben: die CEOs der großen deutsch-internationalen Energie-, Chemie-, Technologie- und Finanzkonzerne. Sie führten Hans Globke schon auf den Listen ihrer „Freundeskreise“, als es noch der Vorgänger von Konrad Adenauer im deutschen Kanzleramt war, der sich durchgehend Globkes zweifellos überragender Fähigkeiten bediente. Irgendwo hat jemand diese Fähigkeiten klug auf den Punkt gebracht: „Hans Maria Globke konnte erbarmungslos schweigen.“

Dieser Staat BRD, der es für geboten hält, die Sicherheit des Staates Israel zur bundesdeutschen „Staatsraison“ zu erklären, weiß sich dem Staatsbeamten Hans Globke so dankbar, dass Globkes Porträt bis heute unangefochten im Bundeskanzleramt hängt. Ohne dass es viele wissen, ist allerdings seit langem bekannt und gut belegt: Hans Globke, 1898 als Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers in Düsseldorf geboren, hat bereits ab 1929 in seiner Eigenschaft als Regierungsrat im preußischen Innenministerium sein ganz besonderes Verhältnis zu den Juden Wirklichkeit werden lassen. So entstand im Oktober 1932 unter Globkes Federführung die „Verordnung über die Zuständigkeit zur Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 21. November 1932“, die erste verwaltungstechnische Maßnahme zur gesonderten Erfassung aller deutschen Juden. 1937 sorgte der nunmehrige Ministerialrat Globke ganz oben im Reichsinnenministerium unter Wilhelm Frick – der am 16. Oktober 1946 in Nürnberg gehängt wurde – per Verordnung dafür, dass deutschen Juden, damit sie nicht mehr entwischen konnten, ein „J“ in ihre Pässe eingeprägt wurde. Damit deutsche Menschen, denen ein „J“ aufgeprägt war, nicht länger deutsche Namen beschmutzten, ersann im Herbst 1938 führend Hans Globke die Regelung, in ihre Pässe einen zweiten Vornamen eintragen zu lassen: Alle jüdischen Wilhelme oder Friedrichs des Deutschen Reichs hießen künftig „Wilhelm Israel“ oder „Friedrich Israel“, alle deutschen Elfrieden oder Augustes jüdischer Abstammung hießen künftig „Elfriede Sara“ oder „Auguste Sara“.

Bereits 1936 hatte Globke die Nürnberger Rassengesetze der deutschen Reichsregierung dahingehend zur praktischen Anwendung empfohlen, dass es künftig für Deutschlands Volksgenossen galt, sich „im Blut rein“ zu erhalten. Die kurze aber heftige juristische Karriere des Straftatbestands „Rassenschande“ geht auf Hans Globke zurück. Den Beteiligten war schon 1938 klar, dass solche Maßnahmen einer bewussten Vorbereitung der physischen Vernichtung der deutschen Juden dienten, nicht nur der deutschen Juden. Um die Umsetzung dieses Ziels machte sich Hans Globke tatkräftig auch in den während des Krieges von der Nazi-Wehrmacht besetzten Ländern verdient. Aus seit 1961 öffentlich zugänglichen CIA-Unterlagen geht hervor, dass Globke „möglicherweise“ auch für die Deportation von 20000 Juden aus Nordgriechenland in polnische Vernichtungslager verantwortlich war. So hatte es Max Merten ohne Benutzung des Wörtchens „möglicherweise“ zu Protokoll gegeben, der Verwaltungsoffizier der in Griechenland ihr Unwesen treibenden Heeresgruppe E. Daraufhin hatte der hessische Oberstaatsanwalt Fritz Bauer ein Ermittlungsverfahren gegen Hans Globke eröffnet. Es wurde im Mai 1961 auf Intervention Konrad Adenauers an die Staatsanwaltschaft Bonn abgegeben, dort stellte man die Sache „mangels hinreichenden Tatverdachts“ ein.

Um Hans Globkes sich geradezu sadistisch austobende Judophobie nachvollziehen zu können, gilt es, neben der über die ganze Welt verteilten religiösen und kulturellen Ethnie der Juden eine andere Religion ins Auge zu fassen, den römischen Katholizismus. Der Zweitname Globkes, Maria, deutet es an: Globke war nach Erziehung und Selbstverständnis das, was man verharmlosend „streng katholisch“ nennt. Das lässt sich in dem, was er getan hat, bis in die Leibfeindlichkeit des Begriffs „Rassenschande“ zurückverfolgen. Es war der CDU, deren Geld, darunter die üppigen Parteispenden aus der Industrie, Hans Globke treulich verwaltete, es war derselben Partei, deren Geschicke er – eine Art früher CDU-Generalsekretär – aus dem Hintergrund lenkte und deren Werte er für die Zukunft prägte, es war der gesamten Rechten bis heute wichtig zu betonen, Hans Globke sei „kein Nazi“ gewesen.

Ein interessanter Gedanke. Globke war von 1922 bis zu deren Auflösung 1933 Mitglied der katholischen Zentrumspartei, einer ihrer führenden Repräsentanten war der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Diese Partei stand in engstem Kontakt mit dem 1939 als Pius XII. zum Papst aufgestiegenen ehemaligen vatikanischen Nuntius im Deutschen Reich, Eugenio Pacelli. Ein toxischer Kommunistenfeind, seit er 1917 von Revolutionären der bayrischen Räterepublik mit dem Revolver bedroht worden war (Globke hatte noch in den Adenauerjahren Pacellis „Rundschreiben über den atheistischen Kommunismus“ auf dem Nachttisch).  Berliner Statthalter dieses Papstes war zu Nazizeiten der Bischof Graf von Preysing, ein antikommunistischer Gegner Hitlers. Globkes Mitwirkung am „Widerstand“, auf die er sich nach dem Krieg herausredete, bezog sich vermutlich auf diesen Bischof und sein Umfeld, Preysing unterhielt 1944 auch Kontakte zu bürgerlich-aristokratischen Hitler-Gegnern: Globke unterrichtete also aus dem Innenministerium den Bischof von Preysing und über diesen den Papst über die Absichten der Nazis. Die Nazis nahmen dafür 1943 Globke trotz seines Antrags nicht in ihre Partei auf, mehr an „Widerstand“ war nicht.

Nazis oder Katholiken – für die Juden kam es auf‘s selbe heraus. Hans Globke konnte als faktischer Doppelagent gegen Ende des Krieges nicht mehr falsch liegen. Egal ob er faschistisch oder katholisch funktionierte: er war auf der Seite derer, welche aus sehr unterschiedlichen Gründen die Kommunisten und die Juden hassten und beide ausrotten wollten. Die Nazis haben, wie von ihrem Führer in seinem Zwangsbestseller versprochen, das Ausrotten im 20. Jahrhundert wahrgemacht. Das Papsttum in Rom brauchte für ähnlich erschreckende Dimensionen knapp zweitausend Jahre. Das Christentum, Eugen Drewermann hat es faktenreich erzählt, ist Erfinder des „Antisemitismus“, viele seiner katholischen Anhänger waren für Jahrhunderte seine mörderischen Praktiker. Aber: hat der Vatikan deswegen – wozu er mindestens so schlechte Gründe hatte wie die Bundesregierungen seit Angela Merkel – die Sicherheit Israels zu seiner Staatsraison erklärt? Und würde sich die römische Kurie endlich entschließen, sich für ihren Völkermord an den Juden unmissverständlich zu entschuldigen, sie müsste sich nicht nur an die Juden im Staat Israel wenden: Sie hätte bei der um vieles größeren, bis heute über den Erdball verstreuten und immer wieder verfolgten jüdischen Diaspora sehr ernsthaft und sehr lange um Vergebung zu bitten.

Spätestens an dieser Stelle müssen die Vereinigten Staaten ins Bild. Von der CIA war im Zusammenhang der Information über Globkes Mitwirkung an der Vernichtung von 20000 nordgriechischen Juden bereits die Rede. Der sehr spezielle US-Geheimdienst trat im Fall Globke direkt erstmals 1945 in Aktion. Der damalige CIA-Chef, Alan Dulles, saß schon im Winter 1944/45 an den Telefonen, Funkgeräten und Fernschreibern seines damaligen Hauptquartiers in Bern. Er muss gute Beziehungen zu den reichsdeutschen Eliten gehabt haben, er hatte den Überblick. Monate vor Ende des Krieges war er damit beschäftigt, die richtigen Leute für die künftig freiheitlich-demokratische Grundordnung Deutschlands zu rekrutieren.

Als Volltreffer neben Hans Globke (CIA-Deckname „Causa“) erwies sich dabei Reinhard Gehlen (CIA-Deckname „Utility“), Hitlers Kommunistenjäger Nummer eins; Gehlen war als Chef der Abteilung „Fremde Heere Ost“ Spezialist für die Ausrottung sowjetischer Kommunisten während des Nazi-Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion. Für die CIA baute General Gehlen nach Kriegsende einen deutschen Geheimdienst auf, die „Organisation Gehlen“. Globke integrierte sie 1949 als „Bundesnachrichtendienst“ (BND) in den tiefen Staat Adenauers; Gehlen bedankte sich mit Gefälligkeiten wie der kostenlosen Bespitzelung von CDU-Konkurrenten; er jagte wie gewohnt die auch in den drei Westzonen immer noch regen Kommunisten.

Wer im Internet den kurzen Wochenschau-Ausschnitt vom ersten Besuch Adenauers 1951 bei Pius XII. in Rom gesehen hat, wird für immer wissen: auch dieser Katholik schwamm zuverlässig im Kielwasser der Spitze seiner Glaubensrichtung. Nie ward ein Achtzigjähriger gesichtet, der im Frack, derart katzenartig leicht, den Kratzfuß vollführte, bevor er seinem gleichaltrigen Heiligen Vater Lippe auf Knochen die Hand küsste. Die so besondere Beziehung der BRD zum nach dem Krieg entstandenen Staat Israel gehört wie die Aussöhnung mit Frankreich und die Festlegung Westdeutschlands auf den NATO-Transatlantik zu den Grundpfeilern Adenauerscher Außenpolitik, der vatikanische Grundpfeiler bleibt ausgeblendet.

Wie außerordentlich – mehr „fragwürdig“ als „besonders“ – die Beziehungen der Bundesrepublik zum Staat Israel sind, wird mit der Wahrnehmung deutlich, dass es bei wichtigen Entscheidungen wie dem Wiedergutmachungsabkommen mit Israel ausgerechnet der Staatssekretär Hans Globke war, bei dem der Bundeskanzler, so Wikipedia, „auf gemeinsamen Spaziergängen im Garten des Kanzleramts seinen Rat“ einholte. Der Judenhasser Globke hat dieses Abkommen gehorsam und gewissenhaft maßgeblich mitgestaltet. Es diente laut Adenauers Bekundungen vor dem Bundestag in unnachahmlichem Deutsch der „seelischen Bereinigung unendlichen Leides“. Israel waren die vereinbarten bundesdeutschen 3,5 Milliarden Dollar hilfreich, sie waren abrufbar als Dienstleistungen und Warenlieferungen, heimliche Waffengroßlieferungen inklusive. Zu den „Dienstleistungen“ gehörte des General Gehlen kompetente Mithilfe beim von der CIA verantworteten Aufbau der Keimzelle aller israelischen Geheimdienste, des Mossad. Neben den geopolitischen Nahost-Vorstellungen der Vereinigten Staaten war es vor allem die prekäre Finanzlage des jungen Staates Israel, die es der Regierung Ben Gurion 1950 geraten erscheinen ließ, mit den Deutschen zu reden. Die antideutschen Proteste in der jüdischen Bevölkerung Israels waren daraufhin gewaltig, das waren, in proarabischer Argumentation, auch die Proteste der westdeutschen „Rechten, allen voran der sehr junge Bundestagsabgeordnete Franz-Josef Strauß.

Da legten zwei so fundamentalistische Judenfeinde wie Reinhard Gehlen und Hans Globke für den Staat Israel ihren Anti-Semitismus beiseite. Es war kalter Krieg. Die Karten wurden neu gemischt. Die Juden als Weltfeind waren out. Das Abendland sollte hinfort nur noch vor den Kommunisten gerettet werden.

Als nötig dafür erwies sich auch die Eingliederung der Shoa in ein neues Weltbild: Der Adenauerstaat musste moralisch und – ein für alle Mal! – auch materiell entschuldet, die „seelische Bereinigung unendlichen Leides“ musste ins Werk gesetzt werden. Aber bitte, ohne dabei den Pelz nass zu machen. Vielleicht war es der kühle Kopf Hans Globkes, dem die Idee entsprang: Man entledigte „Auschwitz“ seines komplexen historischen Hintergrunds und machte die Shoa zum isoliert-monolithischen Mythos der Schuld. Dem entgegen kam die bedingungslose Unterstützung leider nicht aller Juden in der Welt, sondern nur die Unterstützung aller israelischen Regierungen bis heute. So könnte es gewesen sein, so könnten die israelischen Regierungen viel später zur „deutschen Staatsräson Israel“ gekommen sein; das hatten sich Globke und die Seinen so gedacht (noch ohne „Staatsraison freilich, die machte erst Angela Merkel 2008 in einer Rede vor der Knesset erstmals öffentlich (1)).

Dann aber kam das Jahr 1960. Da saß seit dem 23. Mai ein gewisser Adolf Eichmann in israelischem Gewahrsam. Es erwies sich: der so sorgsam trockengewaschene Pelz drohte als die ganze Zeit triefend nass erkannt zu werden, es ließ sich nicht leugnen: man musste mit den Israelis über Hans Globke sprechen. Denn es bestand seitens der Bundesregierung die dringende Befürchtung, es könnte vor der versammelten internationalen Öffentlichkeit des Staatssekretärs Globke Verhältnis zu dem bald in Jerusalem vor Gericht stehenden Organisator des ersten industriellen Genozids der Weltgeschichte ans Licht kommen.

Ben Gurion hätte – wäre es öffentlich geworden – heftige Auseinandersetzungen im eigenen Land und in der Diaspora riskiert, hätte er sich auf Adenauers Drängen eingelassen, den Namen Globke im Prozessverlauf nicht in Erscheinung treten zu lassen. Auf welche Weise die Herren einig wurden, wird man, wenn alles gutgeht, in vielleicht 50 Jahren wissen, wenn die vollständigen Akten vorliegen. Fest steht: der Name Globke trat vom 11. April bis zum 15. Dezember 1961 während des ganzen Jerusalemer Prozesses gegen Adolf Eichmann nicht in Erscheinung (Alan Dulles, so ist aus den Akten der CIA zu erfahren, habe zeitgleich persönlich die Erwähnung Globkes in einem Artikel des US-Magazins Life verhindert).

Es ist, als werde in diesem Moment, wie in einem Brennglas, der Geburtsfehler des amerikanisch-deutsch formatierten deutsch-israelischenVerhältnisses sichtbar. Die israelische Regierung muss einfach gewusst haben, mit wem sie da in einer besonderen Beziehung stand. Sie kann sich keine Illusionen gemacht haben über den geistigen Leviathan der Judenvernichtung mit Namen Hans Globke, dessen Existenz sie da 1961 in Jerusalem vor der Weltöffentlichkeit verbarg. Wie konnten sich Juden nach alldem mit solchen Leuten einlassen, wie war es nach alldem für Juden möglich, mit solchen Leuten zu kuscheln?

Man stelle sich vor: der Staat Israel hätte 1961 aus Anlass des Eichmann-Prozesses vor den in Jerusalem versammelten Medien der Welt die vollständige Geschichte der Shoa erzählt. Man träume, er hätte den geschichtlichen Hintergrund und Zusammenhang der Vernichtungslager enthüllt, es hätte dem Gründungsmythos des Staates Israel entsprochen. So aber die Bilanz: Das Grauen – enthüllt. Die den Juden (vom Verbrecherstaat Deutsches Reich) auferlegte, für die Nachlebenden unvorstellbare Marter mit ihrem millionenfachen Ende im Gas – enthüllt.  Nicht enthüllt: das Netzwerk hinter Auschwitz, welches Globke geradezu idiomatisch verkörperte.

Die DDR hat diese Enthüllung ab Juni 1963 in einem aufwändigen Prozess in Leipzig (2) ins Werk gesetzt. Dessen zeitgeschichtliches Substrat und seine im Kern sachliche, akribisch belegte Richtigkeit ignorierte der Westen mit den üblichen Schubladenfloskeln von wegen „Halbwahrheiten“ und „Propanda-Show“: das Netzwerk der Globkes und Gehlens und ihrer, dem erwähnten demokratieenthobenen Milieu entstammenden Weisungsbefugten sollte unsichtbar bleiben. Es sollte die Vorbereiter und Profiteure, die Finanziers von Auschwitz und Nazis nie gegeben haben. Nur den letzten Mosaikstein ihrer Beweiskette mussten die DDR-Juristen schuldig bleiben: einen direkten Beleg für die persönliche Kooperation von Adolf Eichmann und Hans Globke. Es gab eine erdrückende Fülle eindeutiger Indizien. Nur noch das Dokument, auf dem Eichmann den Namen des Bonner Staatssekretärs direkt erwähnte, fehlte.

An dieser Stelle kommt Reinhard Streckers Buch über Globke erneut ins Spiel. Eichmanns Verteidiger brachte seinem Mandanten ein frischgedrucktes Exemplar in die Zelle nach Jerusalem mit. Eichmann las es, er machte sich auf vierzig engbeschriebenen Seiten Notizen. Von diesen Notizen wusste man, ihre Existenz war belegt. Seit 2006 sind sie wieder da. Sie fielen in den Tiefen des Koblenzer Bundesarchivs zufällig zwei Historikern in die Hände. Man hatte in den Bundesarchiven, wo sie hingehören, schon gar nicht mehr nach ihnen gesucht, so verschwunden waren sie; das Gros der Globke-Akten liegt ohnehin wohlverwahrt und unerreichbar in den unergründlichen Ablagen der Konrad-Adenauer-Stiftung. Im Internet sind Eichmanns Notizen in der arte-Doku „Globke – ein Nazi in der BRD“ zu sehen; wer 2023 danach im Internet recherchiert, wird sich wundern, sie wirken abermals recht verschwunden.

Mit ihnen aber hat die Welt die neben und über Eichmann welthistorische Rolle Hans Globkes nun schwarz auf weiß. Eichmann betont auf 40 Seiten mehrfach seine „Befehlsabhängigkeit“ von den Verordnungen des Innenministeriums, er fordert die Vorladung Globkes, der das alles als der Verantwortliche zu seiner, Eichmanns, Entlastung bestätigen könne. „Die Deportationsdienststellen“, kritzelte Eichmann auf den Block, „brauchten in die Kommentare (zu den Nürnberger Gesetzen, St. S.) ja nur Einblick zu nehmen, um zu wissen, ob die Person zu den vom Innenministerium festgestellten Personenkreis gehörte oder nicht“. Globke, das ist seitdem gesichert, war der Herr über Leben und Tod der Juden Europas. Eichmanns Schlussfolgerung über seinen ehemaligen unmittelbaren Vorgesetzen trifft ins Braune: „Hier Staatssekretär einer Regierung – da zum Tode verurteilt!“ Erst kommt das Fressen, dann die Doppelmoral.

Die Juden, bliebe zusammenzufassen, sind nicht das Problem. Nicht etwa die jüdischen Staatsbürger Israels oder die vielen Millionen jüdischen Opfer in der Diaspora. Ihr Martyrium, ihre Aschegräber werden schändlich missbraucht von einer Regierungspolitik Israels, die, neben allem anderen, worüber zu reden wäre, in einem historisch entscheidenden Moment die Aufklärung verweigert hat über Vorgeschichte und historisches Umfeld der Shoa. Aufklärung nicht, um mit irgend etwas recht zu behalten, Aufklärung, damit sich die Shoa nicht irgendwann irgendwo auf der Welt wiederholt. Die Schuldigkeit aller israelischen Regierungen gegenüber dem bald zweitausend Jahre weltweit befeindeten Volk der Juden wäre diese Aufklärung gewesen über die vollständige Geschichte der Shoa. Die israelischen Regierungen haben sich stattdessen für ein Bündnis mit der Welt der Globkes entschieden.

Die aggressiv expansive Regierungspolitik Israels auf der einen – das zum Himmel schreiende Leid der Juden auf der anderen. Beides wird derzeit im Westen fälschlich gleichgesetzt.

(1)   Die „Sicherheit Israels“ war im April 2004 erstmals in einem Essay des damaligen deutschen Botschafters in Israel als bundesdeutsche „Staatsraison“ bezeichnet worden, sein Name: Rudolf Dreßler, bis heute verschweigt dieser uns als linker Sozialpolitiker in guter Erinnerung gebliebene SPD-Politiker, was ihn dazu bewog. Der Begriff selbst wurde von Niccoló Machiavelli geprägt, der Chefideologe absolutistischen Machthabens, ein demokratischen Denkens extrem unverdächtiger Mensch.

(2) Auf der Seite des mdr ein Beitrag mit Originaltönen vom Globke-Prozess der DDR: Der Fall Globke – Adenauer und die Nazis.

junge Welt, Dezember 2023

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