Gustav Mahler hat es gewusst. Schon in den langen Perioden, in denen er, zu Lebzeiten und danach, dem Unverständnis nicht aussterbender Banausen und Philister ausgeliefert war – seine Zeit würde kommen. Ob er auch geahnt hat, wie sich seine Musik in der Zeit, da sie sich – erst mit Beginn der 1960er Jahre – schließlich weltweit durchzusetzen begann, mit dem Zeitgefühl immer wieder neuer Generationen Musizierender immer neu aktualisiert? Deren Erfahrungsschatz, analog zum immer größer werdenden Abstand zur Zeit der Werkentstehung, wächst und wächst.
Aktuelles Resultat: Die Neuaufnahme von Mahlers 4. Sinfonie mit dem französischen Dirigenten Xavier Roth, er arbeitet in diesem Fall mit seinem, auf den Instrumenten der Entstehungszeit der Werke musizierenden Ensemble Les Siècle.
Nicht, dass schon allein die Wahl alter Instrumente die Entstehung von etwas aufregend Neuem garantierte. Es ist die Idee des Dirigenten vom Stück, die den Unterschied macht. Und trägt sie, wie in diesem Fall, in dem der Klang der mehr als hundert Jahre alten Fagotte, Oboen, Klarinetten, Trompeten von Les Siècle die Idee des Dirigenten trägt, wäre von einem Glücksfall zu reden.
Mit Einsetzen der „spitzigen Vorschlagsquinten und gedudelten Motive der Flöten und Klarinetten“ (Hans-Heinrich Eggebrecht) zu Beginn des ersten Satzes fällt der ungewohnt scharfe, charakteristisch farbige, die Faktur des Satzes grell ausleuchtende Ton der Instrumente von Les Siècle ins Ohr. Er schafft eine beim Publikum eher unbeliebte, weil weithin unverstandene Distanz zum Gehörten. Sie liegt im Zentrum der Absichten dieses Komponisten, sie macht ihn modern.
Mahler gilt Fachwelt wie Publikum als „unpolitischer“ Künstler. Aber was soll das schon heißen? Er wurde 1860 im böhmischen Iglau in eine wohlhabende bürgerliche Familie hineingeboren. Ein prügelnder Vater, später die für einen, trotz seiner Erfolge Provinzler Gebliebenen schockierende Erfahrung des modernen Großstadtmollochs Wien, schließlich die auf den ersten Weltkrieg zulaufende, schier unaufhaltsam erscheinende Zuspitzung imperialistischer Weltaufteilung – über die normalen Katastrophen der bürgerlichen Familie hinaus durchlebte Gustav Mahler eine entscheidende, besonders spannungs- und endzeitstimmungsgeladene Phase europäischer Weltgeschichte. Statt wertend in Worten, hat sich Mahler dem Geschehen ausführlich im Denken und in der Sprache der Musik gewidmet. In ihr fand er Zuflucht und eine sehr persönliche Form des Kommentars zur Sorte Welt, die ihm seine Klasse da zumutete. Es ist nicht mehr die Idee, wie Theodor Wiesengrund Adorno schreibt, die per Musik illustriert, orchestriert, demonstriert wird. Als Mahlers Musik ist es die Idee selbst, die sich hören lässt.
Hans-Heinrich Eggebrecht zitiert in seinem Buch über „Gustav Mahlers Musik“ einen Brief des 19jährigen. Schon früh beginnt der, sich selbst aufzuspalten. Er kommt mit der bürgerlichen Wirklichkeit nicht klar. Hie die äußere Welt, die „Zivilisation“, laut, brutal und voll Lügenhaftigkeit, voll „moderner Heuchelei“. Dort das, was er ihr entgegensetzt: Eggebrecht nennt es „das Andere“, weil Mahler es nicht auf den Begriff bringen mag. Wer seine langsamen Sätze kennt, weiß: sie sind wunderschön, aber auch in ihnen geht die bürgerliche Dichotomie von Paradies und Welt, von Freude-Oden-Traum und Börsenkriegswirklichkeit nicht auf. Nach Beethovens optimistisch-apotheotischen Lösungsversuchen am Beginn des Jahrhunderts lösen sich an seinem spätromantischen Ende – darin gleichen sie Opiaten – in Mahlers Adagios die Visionen des besten Teils der Bürgerklasse in die Geschichtslosigkeit geradezu außerirdischer Glücksgefühle auf. Aber nichts gegen das Glück! Es ist wie mit Hegels Idealismus: es kömmt drauf an, was im Fall von Mahlers Adagios das Ohr – in ihm erst vollendet sich das musikalische Kunstwerk – draus macht.
Schon an der Frage, wie mit Mahlers Darstellung der Außenwelt umzugehen wäre, haben sich die Geister geschieden. Unbestritten: Mahler verwendet dafür das musikalisch Gegebene, Abgetane und Abgestandene; er entnimmt es nicht der Hochkultur, er bedient sich bei Pop und Schlagern seiner Zeit. Das ist lange als seine Art Neo-Klassizismus verstanden und musiziert worden, am Anfang verstand man ihn einszueins als „romantisch“
Aber Mahler, wie er in einem Brief schreibt, distanziert sich vom rastlosen Kulturbetrieb seiner Epoche als von der „ewigen Jetztzeit“. Sie ähnelt in ihrer Geschichtsfeindlichkeit und Abgeschmacktheit der Gegenwart. Wie zu Mahlers Lebenszeit (1860-1911) scheint 2022 diese Gegenwart zauberbergmäßig auf die Katastrophe zuzutaumeln – mit dem nicht unwichtigen Unterschied, dass der sich beschleunigende Abstieg der westlichen Weltführungsmacht das globale Kräfteverhältnis derzeit dramatisch verändert. Mahler richtet das Abgeschmackte sinfonisch so her, dass in ihm die strukturelle Verlogenheit historischer Endzeiten hörbar wird.
Daraus haben Eggebrecht, vor ihm Adorno, abgeleitet, die Realwelt-Darstellung bei Mahler müsse als sarkastisch karikierender, bitterer Spott auf die Kapital-Welt gespie(ge)lt und gehört werden; Dirigenten wie Michael Gielen haben das seit den 1980er Jahren beispielhaft vorgemacht.
Xavier Roth geht andere Wege. Ich höre bei ihm im ersten Satz, um den es in der Vierten hinsichtlich der Distanz beispielhaft geht, eher den mozartschen Ansatz des humoristischen Spätwerks „Ein musikalischer Spaß“ KV 522. Ganz im Sinn des musikalischen Kehraus in der Coda von Mahlers Eröffnungs-Allegro musizieren Les Siècle Mahler, wie der seinen ersten Entwurf überschrieb: als „Humoreske“. Da hat ein Freigeist einen banalen Betrieb zum Besten, er stellt ihn mit größter Raffinesse bloß. Aber Mozart machte sich einen gutmütigen Spaß über seine minderbegabten Kollegen, als die er sich in KV 522 kunstvoll verkleidet. Ohne an den ätzenden Stellen das Ätzende, Mahlers Angeekeltsein, zu unterschlagen, bläst Roth, wie der Wiener Klassiker, aus der Asche des Eventkulturmülls schon der Mahler-Zeit die Glut echten Musikantentums, das aktualisiert diese Musik.
Und das „Andere“? Auch noch die linksbürgerliche Mahler-Exegese verlegt das Territorium des Anderen ins Jenseits uneinlösbarer Ewigkeit. Aber was hindert alle, die statt der Ewigkeit mehr die Geschichte interessiert daran, Gustav Mahlers magische zweite Sätze als Vorgriff zu hören auf eine Zeit, in der sich – so es der Menschheit gelingt, die Blutsauger vom Hals zu kriegen – ein Wohlsein ausbreitet im Gefühl einer Welt, die sich die haltbaren Voraussetzungen geschaffen hat für ein Leben ohne Angst. junge Welt, Oktober 2022