In der Geschichte der Musik des bürgerlichen Abendlands nimmt die Variation einen Sonderplatz ein. Von Buxtehudes La Capricciosa über die davon angeregten „Goldbergvariationen“ hin zu Mozarts verstreuten Glanzleistungen wie etwa der berühmte Kopfsatz der A-Dur Sonate K. 331 und bis zum Gipfel, Beethovens Diabelli-Variationen: ein Musikhimmel denkender, spielerisch genau gedachter Gefühle.
Aber es geht mit den Variationen in zumindest einem Werk noch weiter. Mit Robert Schumanns Sinfonischen Etüden op. 13 tut sich der romantische Schritt in eine Freiheit auf, die vom Quintenzirkel bis zum Sonatenhauptsatz alles im Sinn hat, um es hinter sich zu lassen. Natürlich wäre ohne Bachs Wohltemperiertes Klavier nicht denkbar, was Schumann mit den vier absteigend einleitenden Noten der Sinfonischen Etüden macht, die signalhaft das eigentliche Thema sind. Aber was der alte Bach an Wissen und Souveränität über die Tonarten weitergab, kommt nun nicht mehr in Form ausgeklügelter Modulationen und linearer Polyphonie daher. Es hebt sich in orchestralen Strudeln, in paganinesken Kapriolen, in eine sich an die alten Regeln nicht länger gebunden fühlende Schärfe akkordischer, rhythmisch charakteristischer Sechzehntelketten auf oder – emotiv entgegengesetzt – in weit ausholende Momente der Trauer, tief einverstandener Besinnung, kapriziös charmanter Selbstironie.
Der französische Pianist Eric Le Sage spielt das alles uneitel virtuos, verschwenderisch genau, auf einem Steinway des späten 19. Jahrhunderts. Er hat mit einem Kollektiv großartiger Partnerinnen und Partner Schumanns gesamte Musik für und mit Klavier aufgenommen, ein in vieler Hinsicht komplettes Panorama pianistischer Romantik á la Schumann.
Hoch zu loben bei der Gelegenheit das Label alpha, Primus der Pariser indipendent Produktionsfirma outhere Music; es hat sich musikalischer Qualität verschrieben, vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Schumann-Klavieredition ist eine Großtat diskografischer Produktivität. Die Zeiten sind vorbei, als so etwas von den Großen, den Majors kam (Deutsche Grammophon, Decca, Philips, EMI, Teldec, Sony Classical) – oder doch wenigstens von deren Ablegern fürs Interessante (Archiv Produktion, Deutsche Harmonia Mundi, Erato, Virgin Classics). Soweit Majors überhaupt noch da sind, existieren sie nur mehr dem Namen nach. Statt eines Programms haben sie eine Marktstrategie, statt Bildung ihre Topmanager immerhin noch Wikipedia. Das eine schließt das andere nicht unbedingt aus. Aber die drei übriggebliebenen Majors konzentrieren sich auf Blockbuster komm raus auf Zugpferde wie Jonas Kaufmann, Anna Netrebko, aufs zweihundertste Silvesterkonzert der von einem Dirigenten der Stunde dirigierten Wiener Philharmoniker. Reichlich Idole und Superstars gibt es eigentlich nur noch im Spitzenfußball.
Da, wo jetzt Outhere Music mit alpha hineinzuwachsen scheint, brillierte als Marktführer der Independents mit einem erlesenen Katalog des Besonderen bis vor kurzem die im schönen Arles ansässige Firma Harmonia Mundi France. Wie alle anderen wurde sie am Ende aufgekauft von irgendeinem investitionshungrigen Getränkekonzern, die Folgen immer gleich: mehr Umsatz-Gängiges in immer dooferer Verpackung, immer schlauerer Vermarktung – weg mit den bilanzbedrohenden Wagnissen, die auf etwas so Ungewisses setzen wie die Zukunft der Tonkunst. Rosa Luxemburg hat es kommen sehen. Die Barbarei nimmt Gestalt an.
Dagegen spielen Musiker wie Eric Le Sage und die Seinen an. Was aus ihnen und aus denen wird, die in ihrer Neigung zur Musik ohne sie aufgeschmissen wären, steht in den Sternen (und hoffentlich nicht in denen des Star sprankled banner). Auch da, nach allem, was man so hört, liegt die Hoffnung im gar nicht mehr so fernen Osten. junge Welt, April 2022
Schubert: Sämtliche Werke mit Klavier – Eric Le Sage, Klavier / Antoine Tamestit, Jean-Guihen Queras, Paul Meyer ua. (alpha/outhere Musik)