Currentzis.Tschaikowsky 6

Ungeachtet leidvoller Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus kennt, liebt und bewundert man in Russland die deutsche Kultur. Dagegen hätten die sich gewohnheitsmäßig allem Russischen überlegen fühlenden Deutschen – neben eventuell Tschechow, Tolstoi, Dostojewski – wohl noch nicht einmal Pjotr Iljitsch Tschaikowskyauf dem Schirm, hätte er nicht die Ballett-Renner „Schwanensee“, „Dornröschen“ und „Nussknacker“ komponiert.

Aus dem großartigen Mehr, das Tschaikowsky tatsächlich geschaffen hat, ragt sein letztes Orchesterwerk heraus, die drei Wochen vor seinem Tod im Oktober 1893 uraufgeführte 6. Symphonie, „Pathétique“ genannt. Der Dirigent Teodor Currentzis hat sie jetzt neu aufgenommen.

Sie ist etwas Besonderes. Adorno beschimpfte Tschaikowsky als Kitschproduzenten. Seiner Meinung nach durfte kein Komponist von Rang am Ende des 19. Jahrhunderts derart uneingeschränkt tonal schreiben. Gustav Mahler, über den Adorno eine bedeutende Monografie verfasste, war von Tschaikowsky begeistert. Für Strawinsky hat er wie kein anderer die russische Seele in Musik verwandelt.

Tschaikowsky schrieb seinem Bruder, er habe für die Instrumentation der Sechsten erheblich mehr Zeit aufwenden müssen, als bei allen früheren Arbeiten. Currentzis macht das hörbar. Sein eigentlich mehr mit Barockgeigen und Naturhörnern vertrautes Permer Elite-Ensemble MusicAeterna bewältigt auf modernen Instrumenten auch die großräumig romantischen Orchesterwerke Tschaikowskys in der für Currentzis typischen Plastizität und Drastik. Faszinierend, wie viele Schattierungen der Dirigent im in dieser Aufnahme extrem weiten Abstand zwischen sehr leise und sehr laut unterbringt.

Bis zur Durchführung lässt er die Musik sich aufrichten aus der Finsternis eines aus extremem Pianissimo aufsteigenden Bassmotivs. Das herzenswarme Seitenthema, aufgelockert von tänzerisch akzentuierten Saltando-Rhythmen leuchtet schließlich in fanfarenklingender Melodik, bevor es zurücksinkt ins sechsfache Piano der Bassklarinette (in der Partitur Fagott). Und so extrem präsent Currentzis’ Orchester im gerade noch Hörbaren war, so extrem überraschend lässt er darauf den Beginn der von Fugen wie von Furien durchrasten Durchführung detonieren. Ein Zitat aus der russischen Totenmesse rauscht vorbei wie das Dies Irae des Requiems, das Tschaikowsky mit dieser Symphonie für sich selbst komponierte. Dem kurzen Intermezzo in Tschaikowskys extravaganter Satzfolge möchte man die Walzerheiterkeit kaum mehr glauben. So maßgeschneidert künstlich die große Welt da zum Tanz lädt, so elementar, ja so verzweifelt bricht sich das Bekenntnis zum Leben im dritten Satz Bahn. Aber dieses Scherzo ist keines mehr. Bis dahin in der europäischen Symphonik als dritter Satz traditionell der lockere Aufgalopp zum großen Finale, wird es hier selbst zum Finale. Currentzis

inszeniert den Triumph gelebten Daseins als einen in grandios dosierter, langer Steigerung vorbereiteten, am Ende mitreißend orgiastischen Marsch. Und so glorreich und eben doch noch nicht endgültig in der russischen Geschichte 24 Jahre nach Tschaikowskys Tod in der Oktoberrevolution die neue Gesellschaft über die alte triumphierte, so klagend – lamentoso – kehrt seine 6. Symphonie im letzten Satz in den vielfarbig finsteren Weltschmerz des Anfangs zurück. Ein ganz unpolitischer, in seiner Homosexualität aber besonders preisgegebener Künstler beklagt, indem er ihrer Sehnsucht und Katastrophe eine Stimme gibt, die Kälte und Menschenfeindlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Zu müde für große Schlussgesten verschwindet die 6. Symphonie am Ende in tönendem Dunkel.  

Teodor Currentzis ist nicht nur ein inspirierender Dirigent, er schreibt auch inspiriert. Im Brief an Tschaikowsky im Booklet ruft dessen Melancholie die „lärmenden Tränen unserer Empfindsamkeit“ hervor. Seine Musiker habe er, Currentzis, in den tröstlichen Episoden angehalten, zu spielen, „als würden sie nach ihrem Tod aus dem Jenseits zurückblicken auf die Zeit ihrer ersten Liebe“, um schließlich abschließend zu fragen: “Aber in einer Welt zu leben, in der wir unfähig geworden sind, im Angesicht der Schönheit zu weinen, ist nicht einfach. Würdest du mir darin zustimmen, verehrter Pjotr Iljitsch?“                  Junge Welt, November 2015

Tschaikowsky: Symphonie Nr. 6 h-moll op. 74 – MusicAeterna / Teodor Currentzis (Sony Classical)

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