Giotto di Bondone
Nichts ist so sehr Nische, als dass in ihm nicht Platz wäre für noch eine Nische. In der klassischen Musik, einer schon eigentlich dramatisch marginalisierten Sphäre, gibt es die Nische alte Musik, gemeint damit: alles vom frühen Barock rückwärts bis zu den gregorianischen Mönchen. Außer im Zusammenhang von Räucherstäbchen und Kundalini Yoga kommt alte Musik heute in nennenswerterem Umfang vielleicht noch in anderen Regionen des Wellness- und Esoterikbereichs zum Zug, im Bereich Klassik ist sie Sache schon arg exklusiver Kreise.
Aber wie in archäologischen Museen, in Galerien alter Meister oder beim Anblick mittelalterlicher Kathedralen, ja, weil übers Hören emotional zugänglicher, vielleicht besser noch als in den Denkmälern bildender Künste erlaubt alte Musik Geistesabenteuer. Man kann in ihr, trotz aller Fremdheit, ahnen, wie sich das angefühlt haben mag, als im Zeitalter christlichen Glaubens die Welt noch ganz und die Arbeitsteilung nur schwach entwickelt war. Am gregorianischen Choral etwa waren während der Karolingerepoche unisono nur Männerstimmen beteiligt. Musik war kein Genuss, sie war Offenbarung und Andacht. Niemand hielt sie für „Kunst“, so wie etwa Eltern, die ihrem Kind vor dem Einschlafen vorlesen oder vorsingen, nie auf den Gedanken kämen, sie wären darstellende Künstler.
Man war im Lauschen aufs Wort Gottes eins mit denen, die da sangen; man sang oder sprach mit, stumm oder laut. Daran änderte sich grundsätzlich auch nichts, als Kopernikus die Mutter Erde aus dem Zentrum des Bilds vom Himmel verbannte und die Naturwissenschaft der Theologie zuzusetzen begann. In der wachsenden Schönheit und Pracht eines Wohlklangs, in dem immer mehr Stimmen, auf immer neue und farbigere Art zusammen klangen, hörten die Menschen die Größe und Pracht Gottes. Das moderne Ohr, beim Hören auch alter Musik gewohnheitsmäßig auf Konzertmodus eingestellt, hört darüber hinaus, wie in den Motetten und Messen der großen Renaissance-Komponisten, sehr langsam und unterschiedlich, das Diesseits über
die Transzendenz triumphiert. Guillaume Dufay machte den Anfang, lang wirkend weit über seine nordfranzösische Heimat hinaus. Noch in Orlando di Lassos Psalmvertonungen oder Palestrinas Messen, ist Gott in einer Weise Klang geworden, dass man ihm bis heute dafür danken möchte, dass die Menschen ihn sich ausgedacht haben. Nicht zufällig fanden die großen Neuerungen europäischer Musik während der Renaissance und Reformation in Gegenden statt, in denen die Geschichte auch sonst vorankam: In Frankreich, Flandern, Oberitalien und England.
In Thomas Tallis großer Motette „Spem in alium“ geht das noch für die Renaissance typische, erhabene Dahinströmen der Stimmen über in eine mit dynamischem und rhythmischem Maßwerk reich ausgestattete, akzentuiert rhythmisierte Monumental-Architektur. Bei Aufführungen dieser Motette am Anfang des 16. Jahrhunderts kommunizierten die über den Innenraum der Kathedrale verteilten acht Chöre über die Köpfe der Gläubigen hinweg; eine Architektur ging in die andere über.
Ähnlich verfuhren die zwei Chöre zu je fünf und vier Stimmen, die sich alljährlich zu Beginn der Karwoche das grandiose Hin und Her von Gregorio Allegris „Miserere“ zusangen. Sie waren an verschiedenen Ecken der Sixtinischen Kapelle aufgestellt. Unter Michelangelos epochalem Deckenweltbild schlug dieses Stück mehrstimmigen A-Capella-Gesangs noch einmal den Bogen von der Gregorianik bis zum vielstimmigen, an manchen Stellen schon himmlisch homophonen Choralsatz.
Obgleich von den Ländern Mitteleuropas durch den dreißigjährigen Krieg in seiner Entwicklung am meisten, geradezu dramatisch zurückgeworfen, begann seltsamerweise das geschundene Deutschland seit dem 17. Jahrhundert die Musik mit Meistern wie Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude und schließlich Johann Sebastian Bach mehr und mehr zu überstrahlen. Mit dem frühen „Gesamtkunstwerk“ Vokalpolyphonie waren nicht nur Fundamente geschaffen, auf die noch Beethoven in seiner Missa und Brahms in seinem Requiem zurückkamen. Mit ihnen entstand ein für Jahrhunderte verbindlicher, bei aller regionalen Verschiedenheit einheitlicher, supranational ausstrahlender Musikstil, einer der großartigen, vor allem friedlichen Beiträge Europas zur Weltkultur. Junge Welt, Oktober 2016
Dufay: 13 isorhythmische Motetten – / Paul van Neevel (Harmonia Mundi France), Ockeghem: Missa l’homme armé u.a. – Oxford Camerata / Jeremy Summerly (Naxos); Josquin: Missa Pange lingua u.a. – The Tallis Scholars / Peter Philips (Gimell/note 1); Orlando di Lasso: Psalmi Davidis Poenitentiales – Collegium Vocale Gent / Philippe Herreweghe (Harmonia Mundi France); Palestrina: Missa Viri Galilaei – La Chapelle Royale / Ensemble Organum / Philippe Herreweghe (Harmonia Mundi France); Tallis: Spem in alium – The Tallis Scholars / Peter Philips (Gimell/note 1); Allegri: Miserere – The Tallis Scholars / Peter Philips (Gimell/note 1).