Es ist immer das Gleiche mit Teodor Currentzis. Der Mann polarisiert. Auch die heute veröffentlichte letzte Folge seiner Mozart/da Ponte-Trilogie, der „Don Giovanni“, wird weltweit wieder Begeisterung und Preise abräumen, die Augen vieler Fachleute werden erneut leuchten, für Teile des Feuilletons wird Currentzis gleichwohl weiter ein „Hyperventilierer“, ein Mann des Dauerspressivo bleiben, und die Freundin, die mir schon seine formidable Rameau-CD mit der Begründung zurückschickte, Currentzis’ flamboyante Art von Klassik beunruhige sie, wird auf den neuen „Don Giovanni“ panisch reagieren. Denn auch mit Mozarts „Oper aller Opern“ bleibt Teodor Currentzis seinem Credo treu: Er will eine Klassik, die sich in ihrer Art zu wirken – nicht in ihrer Machart – mit Rock’n Roll vergleichen kann. Und Sex & Drugs & „Don Giovanni“ – das funktioniert.
Ein atemberaubender Anfang. Bei großen Mozartdirigenten der Vergangenheit wie Bruno Walter oder Josef Krips hört man zwei bedrohliche, durch eine Dreiviertel-Pause getrennte Riesenakkorde von fünf Vierteln Länge. Dirigenten, denen es weniger um Überwältigung als um Notentreue geht, dirigieren, was in der Partitur steht: Nur die Hälfte des Orchesters spielt da die zweimal fünf Zählzeiten der Riesenakkorde. Die Geigen haben nach einem Viertel Auftakt zwei lange Synkopen, die tiefen Streicher und Fagotte drei Halbe zu spielen, also sechs Zählzeiten, ein Viertel der Basstöne „steht über“ – das ergibt Binnenspannung. Am Anfang der Neuaufnahme bei Currentzis’ tönt es in der Tat bedrohlich und überwältigend – aber die Binnenstruktur ist trotzdem zu hören.
In keinem Konzerterlebnis ließe sich die grelle Anschaulichkeit und Makellosigkeit herstellen, in der Currentzis per neuester Computertechnik Mozarts Partitur bis ins Detail in geschliffen scharfe Klänge und Linien verwandelt. Als ich ihn einmal darauf ansprach, dass Mozart selbst seine Opern jeden Abend anders spielte – er liebte Improvisation, kleine Wackler gehören dazu – war die Antwort: „Wenn wir life spielen, machen wir das auch – es ist eine andere Ästhetik.“ Er nutzt seine Erfahrungen mit der Lebendigkeit des Zufalls auch in der digitalen Perfektion. Das trotzige Lachen des Titelhelden am Ende von „Fin ch’an dal vino“ etwa und besonders alles, was der genialische Maxim Emelyanytschev am Continuo-Hammerflügel an Kommentar und Begleitung beisteuert, hat die Frische und den Witz des Spontanen – aber es ist genau kalkuliert, abgesprochen, aufgeschrieben.
Mal explosiv wuchtig mit akzentuiert kraftvollem Brio, mal tänzerisch geschmeidig oder lyrisch hingegeben, lässt Currentzis die von Mozart in Gefühle und Verhalten seiner Figuren einkomponierte Soziologie hören: Rücksichtslos, geradezu existenzialistisch nur dem Ego verpflichtet, setzt sich der Zwangshedonist Don Giovanni über die abgewirtschaftete Himmels- und Höllenordnung seiner Klasse hinweg. Die sogenannte „Champagner-Arie“ ist pure Lebensgier. Im Gegenentwurf – da fühlt sich Leporello ins Leben eines Herrenmenschen ein – entwirft sein Diener in der „Register-Arie“ eine Welt echt fröhlicher Lebenslust. Die Frauen der Oberschicht vermögen sich in mal mehr mädchenhaftem (Anna), mal mehr matronenhaftem (Elvira) Gezeter nicht zu lösen aus der Frustration, die sie an den Macho bindet; sie finden keine Liebe nirgendwo. Das Bauernmädchen Zerlina dagegen hat Liebe längst gefunden; für einmal Satin unterm Hintern ergibt sie sich dem Herrn, flieht ihn bei dessen erneuter Annäherung, um in zwei Liebesarien mit ihrem Masetto, deren Herzenswärme und Lebensklugheit selbst Adorno in vom kritischen Verstand ungeschütztes, helles Entzücken versetzten, zurückzukehren in die Gemeinschaftlichkeit des einfachen Lebens. Der adelige Wüstling aber kommt in der ganzen Oper nicht ein einziges Mal ans Ziel seiner Triebe. Das war Mozarts Blick auf den Zustand der herrschenden Klasse zwei Jahre vor der Französischen Revolution. Er hat im „Don Giovanni“ nicht nur Phänomenen wie dem zitternd einvernehmlichen Noch-Nicht der Erotik oder dem aggressiven Sichausleben parasitärer Lust ein ewiges Denkmal gesetzt, er hat ein Gesellschaftsbild seiner Zeit komponiert. Teodor Currentzis ist auch mit dem Abschluss der Trilogie wieder ein großer Wurf gelungen. Und dass ein Weltkonzern wie Sony mit Bogdan Roscic als Chef der internationalen Klassik eine Opernproduktion – der „Don Giovanni“ wurde im Herbst 2014 fast komplett schon einmal aufgenommen – einstampfen und mit bis auf zwei Ausnahmen (Gauvin / Kares) anderen Sängern wiederholen lässt, nur weil dem Dirigenten das Ganze beim ersten Mal nicht gefiel, ist ein rares Wunder des globalen Finanzkapitalismus. Junge Welt 2015
Mozart: Don Giovanni K. 527 – Tiliakos / Priante / Kares / Papatanasiu / Tarver / Gauvin / Loconsolo / Gansch / MusicAeterna / Currentzis (Sony Classical)