Brahms.1.Klavierkonzert.Melnikov.Bolton.

Nicht jedes Eigenschaftswort eignet sich dazu, Hauptwort zu werden. Im Fall der großen Klavierkonzerte des 19. Jahrhunderts liegt es indes nahe, das subjektivierte Adjektiv noch per Superlativ in eine Hierarchie zu bringen. Denn die Konzerte fürs Soloklavier von Schumann, Grieg, Tschaikowski und Brahms – alle in Moll – machen sich zwar gegenseitig den Ruf des Populärsten und Meistgehörten streitig. Das Schlachtrossigste aber ist ohne Frage das Werk des Russen. Geht es allerdings darum, welches am ungewöhnlichsten ist und zumindest im ersten Satz auch am sperrigsten und längsten, zudem dasjenige, das am schwersten einleuchtet, ist das d-Moll Klavierkonzert von Johannes Brahms unschlagbar.

Ivor Bolton

Die neue Aufnahme mit dem Pianisten Alexander Melnikov und dem von Ivor Bolton geleiteten Sinfonieorchester Basel beantwortet die genervte Frage, warum denn aber bei der Unmenge an vorhandenen Aufnahmen nun noch eine? von Beginn an. Denn die vielen Extremkontraste des Eröffnungssatzes, das ungewöhnliche Changieren zwischen Moll und Dur und die sich daraus ergebenden Strecken harmonischer Unklarheit, sogar der fast aufdringlich sinfonische Auftritt und die sich bald 25 Minuten hinziehende zeitliche Ausdehnung leuchten dem Rezensentenohr von 2021 endlich einmal ein, warum?

Als der junge, noch unbekannte Brahms Anfang 1854 eine Sonate zu vier Händen für sich selbst und Clara Schumann zu schreiben begann, fügte sich die Arbeit nicht, er versuchte, eine Sinfonie daraus zu machen, der Sinfoniker Beethoven saß ihm im Nacken, Brahms traute sich noch nicht. So wurde es ein Klavierkonzert. Dass das Werk in dieser Aufnahme so plausibel klingt, muss an der Fähigkeit des Dirigenten Bolton liegen, die musikalischen Folgen jener Selbstzweifel – die vielen, oft eben harmonisch nicht recht zusammenklingenden Orchesterteile und konzertanten Bläser, der zu groß wirkende sinfonische Anzug, die Länge – auszubalancieren und die vermeintlichen Schwächen der Partitur in die Tugend einer über weite Strecken kammermusikalisch anschaulichen Stimmenvielfalt zu verwandeln. Vielleicht aber auch liegt es am historisch-kritisch ausgedünnten Basler Orchesterklang oder – ganz besonders – am Blüthner-Flügel aus der Brahmszeit, den der Pianist Alexander Melnikov in diese Produktion mit- und einbrachte? Es liegt natürlich an allem zugleich.

Die Folge: das alte Pianoforte mit seinem geringeren Volumen, seiner, sich aus Farbigkeit und Transparenz ergebenden Charakteristik, ist zwar, wenn es die gewichtigen Orchesterpassagen begleitet, gut vernehmbar. Umgekehrt lässt es freilich selbst in seinen lyrisch zurückhaltenden Solo-Partien auch den Orchestersatz gut hören.

Sasha Malnikov

Melnikovs erstes Hervortreten im Takt 91 wirkt nicht, wie in vielen anderen Aufnahmen, selbstbewusst maestoso. Stattdessen verwandelt sich der im gewaltigen ersten Thema dem Tempo wie ein Klotz am Bein hängende 6/4-Takt mit Eintritt des Klaviers unter Melnikovs Händen in ein tänzerisch leichtes Ostinato. Aber dieser Pianist bleibt, außer in den vollgriffigen Fortissimo-Passagen, den hochschwierigen Oktavtrillern, selbst an beschwingten Stellen nachdenklich, zurückhaltend, wie umschattet. Er beherrscht die Kunst einer – per fließender Zurücknahme von Tempo oder Dynamik am Anfang oder Ende einer Phrase oder eines Motivs erreichten – Verstärkung des Eindrucks.

In den choralisch langen Noten des Adagio schwelgen Orchester und Klavier in dieser Dialektik klangvoll intensivierter Abschattierung. Boltons Streicher hüllen sich in ein, durch Non-vibrato mögliches, zart durchsichtiges Piano, wie es unter historisch-kritischen Musikern immer üblicher wird. Melnikov stellt die sich reibend modern dahinpurzelnde Harmonik des an Schumann erinnernden solistischen Piano kontrastierend dagegen. Großartig, wie organisch sich dann die leise Notturno-Stimmung in ein hymnisches Tutti-Fortissimo auswächst und wieder zurückfällt in eine, extremer als vorher, in Dunkel und Pianissimo getauchte Wärme. In sie hinein träumt zweimal der unbegleitete Hammerflügel, immer knapp überm Stillstand der Bewegung und wie sich die Augen reibend, kindlich vor sich hin, für mich die schönste Stelle dieser Aufnahme.

Im Rausschmeißer, dem Rondo, zeigt Melnikov, wie gut er auch fetzig kann. Wie schon im ersten Satz, dort allerdings herausragender, tritt das Horn hier noch einmal so prachtvoll aus dem Tutti hervor, dass eins doch bedauert, dass man in Basel noch keine Naturhörner besetzt. Hineinhören. Es lohnt. Junge Welt, November 2021

Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll op. 15, Cherubini: Èliza, ou le Voyage aux Claviers du Mont Saint-Bernard (Ouvertüre) – Sinfonieorchester Basel / Ivor Bolton (Harmonia Mundi France).

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