Jürgen Kesting fährt groß auf. Am Beginn seines aktuellen Beitrags zum jüngsten Gericht, das der Westen medial derzeit zum Thema Ukraine inszeniert, zitiert er in der FAZ Thomas Mann. Der hat in zwei Aufsätzen von 1938 und 1940 seine Sicht auf das Münchner Abkommen und Hitlers Krieg dargelegt. Mit dem, was Kesting mit Thomas Mann einen „fauligen Frieden“ nennt und die „Selbstaufgabe der Demokratien“ macht er den Dichter zum Kronzeugen für die gegenwärtig kurrente Gleichsetzung Wladimir Putins mit dem Zocker aus Braunau, er identifiziert die Ukraine mit der Tschechischen Republik vor dem Krieg.
Ich habe nur den unverschlüsselten Anfang von Kestings Text in der FAZ gelesen, den Rest habe ich mir geschenkt. Schon im Vorspann ist alles gesagt. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine werfe „die Frage nach der Humanität in der Kunst“ neu auf, heißt es da. Die drei sich der grassierenden Putin-Geiferei verweigernden Klassikstars Gergiev, Netrebko und Currentzis hätten „die Welt erobert“ und Kesting, der die Hintergründe solcher Welteroberung erst im Nachhinein begriff, bekennt sich schuldig: „Wir haben ihnen Beihilfe geleistet“. Bei was? Bei nicht weniger als beim „Verrat an der Kultur – Kultur im übergeordneten Sinn verstanden als Grundlage der Humanität“.
Wer nicht gegen Putin ist, soll das heißen, verrät die Kultur. Die ihn aus allen Rohren beschimpfen, soll das heißen, gehören allein schon damit zu den Trägern einer grundlegenden Humanität. Dass das nicht ganz so einfach ist, verrät beispielhaft Kestings Wortwahl. In der Hitze des Moments nennt er Putin einen „vertiert-brutalen Revanchisten“. Das Adjektiv „vertiert“ gehört sicher nicht zum Sprachgebrauch eines grundlegenden Humanismus. Das hat Thomas Mann, der bekanntlich 1914 in einem berühmten Text zunächst als glühender Bellizist auftrat, mit Hilfe seines Bruders Heinrich im Lauf der 1920er Jahre auch erkannt. Er dachte Heinrichs, auf der ruhmreichen europäischen Aufklärung basierenden Humanismus bis auf die Formel vom „Antikommunismus“ als der „Grundtorheit des 20. Jahrhunderts“ weiter.
Thomas Mann hätte es schon 1914 – als auch die Sozialdemokratie sich, wie heute wieder, erstmals als vaterländische Speerspitze von Hochrüstung und Kriegshetze empfahl – besser wissen können. Nicht nur sein Bruder, auch andere große bürgerliche Autoren wie Hermann Hesse, Karl von Ossietzky oder Theodor Wolff (ab 1916) konnten es. Dabei gab es zu Zeiten des ersten Weltkriegs noch kein Internet. Man hielt sich damals im Unterschied zu heute aber noch weitgehend an die alte Bildungsbürger- und Juristenregel „audiatur et altera pars“ – man sollte die andere Seite hören, ihre Verlautbarungen zur Kenntnis nehmen und erst danach wägen und entscheiden. Aber wo in den achso freiheitlichen Gesellschaften des Westens hätte man in den vergangenen Jahren die bald unzähligen Verhandlungsangebote und Friedens-Vorschläge der russischen Seite authentisch und ohne hasserfüllte Verfälschungen mitgeteilt bekommen?
Jürgen Kesting hat es, was das Münchner Abkommen angeht, offensichtlich nicht einmal für nötig gehalten, sich durch drei Klicks im Internet auf den neuesten Stand zu bringen. Dort können alle, die es wissen wollen, in den lange Zeit geheimgehaltenen Dokumenten des britischen Außenministeriums erfahren, dass die westlichen Verhandlungspartner Hitlers diesen in Wahrheit von Anfang an dazu bringen wollten, dasselbe zu tun, was heute die USA von Europa fordern: gen Russland zu ziehen. Auf heute übertragen, wären demnach alle US-Freunde objektiv gesehen Appeasement-Politiker, die dem waffenstarrenden, einen Krieg nach dem anderen entfachenden US-Imperium ein mit NATO-Raketen bestücktes Land an der Westgrenze Russlands nach dem anderen genehmigen – warum eigentlich, wer hat den Nutzen davon? Und: wer bitte ist da seit Implosion der Sowjetunion und seit Auflösung des Warschauer Pakts 1991 (und dem nie begründeten, demonstrativen Weiterbestehen der NATO) nur drohend, zerstörerisch und allzeit kriegsbereit gewesen?
Kesting hätte auch den Link https://m.youtube.com/watch?v=soAYH-y82H8 anklicken können, auf dem der Journalist Thomas Röper eine andere Geschichte des Ukraine-Kriegs erzählt. Ob sie der Wahrheit näher ist als die herrschende Erzählung spielt zunächst einmal keine Rolle: Es ist die Erzählung der anderen Seite. Sie wird den zurzeit völlig zurecht gegen auch diesen Krieg empörten (und gegen Putin aufgehetzten) Menschen in Deutschland seit Jahren gezielt vorenthalten.
All jene, die heute ihre Empörung gegen den ukrainischen Krieg äußern, müssen sich allerdings die Frage gefallen lassen, warum sie zu den Kriegen der NATO, zu den nach Millionen zählenden Opfern ihrer Drohnen, Bürgerkriege und Putsche – die alle dem Zweck der Installierung NATO-höriger Regierungen dienen –, geschwiegen oder nur kurz die Achseln gehoben haben? Macht das die subjektiv meist absolut echte und gerechte Empörung der derzeitigen Majorität unserer Bevölkerung in diesem Krieg glaubhafter, macht es sie begrüßenswert? Ist der Syrer, die Afghanin, die Kurdin, der Nigerianer, der Somalier, die Sudanesin und wo sie alle herkamen – ist eine oder einer der im Mittelmeer Ertrunkenen, die alle durch die Kriege der NATO zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen wurden, weniger Wert als es ein Mitglied der Ukrainebevölkerung ist? Junge Welt, März 2022