862 – Orakelmaschine.Heiner Goebbels Völklingen (2023)

No 862 © HG

Schon der Titel. Ein Anlass zur Verwirrung, selbst die Fachwelt rätselte: »862 – eine Orakelmaschine«. Was soll die Zahl, wie kann eine Maschine orakeln? Klar, der Urheber Heiner Goebbels misstraut dem Eindeutigen, Rätsel sind ihm sympathisch. Ihm geht es wie Hegel in seiner Ästhetik: »Was wir als Gegenstand durch die Kunst oder das Denken so vollständig vor unserem sinnlichen oder geistigen Auge haben, dass der Gehalt erschöpft, dass alles heraus ist, und nichts Dunkles und Innerliches mehr übrig bleibt, daran verschwindet das absolute Interesse.«

Am ersten Septemberwochenende hatte die Orakelmaschine Premiere. »Weltpremiere« kann man nicht sagen. Das Stück ist allein aus der Beschaffenheit und der Aura des Orts entstanden, der Goebbels zu dieser Arbeit inspirierte. Darum kann es einzig im Zusammenhang der Kohlenstampfmaschine der Völklinger Hütte aufgeführt werden. Bis 1987 wurde hier Roheisen hergestellt; seit 1994 als letztes erhaltenes Denkmal dieser Art Metallurgie ist sie Teil des Weltkulturerbes der UNESCO. Mit seinem weithin sichtbaren Hochofen wird das Völklinger Weltkulturerbe am kommenden als dem letzten von drei Wochenenden die letzten drei von neun Vorstellungen des Spektakels um die Kohlenstampfmaschine präsentieren.

Es war Heiner Goebbels offenbar wichtig, sein Publikum vorweg mit dem Areal bekannt zu machen. Es geht folglich mit einer »Proménade architecturale« los, mit dem einleitenden Gang durch eine Geschichte, die in Gestalt der Völklinger Hütte wie begraben ist, aber nicht tot.

Im werdenden Dunkel schlängelt sich eine Karawane von rund 130 Gestalten des Premierenabends in leichter Outdoorbekleidung durchs industrielle Gräberdenkmal. Überall von grüner Natur überwucherte Eisen- und Stahlgerippe; Metallkessel, dick verschraubt, halb unter Haselzweigen, erstarrt unter dickem Rost; dachlose Backsteinruinen, zersprungene Scheiben, Wassertümpel, rostige Leitern zu Plattformen, auf denen sich leere Handräder gen Himmel recken.

Die Magie scheintoter Geschichte lebt von Anfang an auch direkt am Spielort. Hochhausgroß ragt dort der Kasten mit der Weltkulturerbeinventarnummer 862 aus der Vegetation; das Rätsel der drei Ziffern ist mithin keines mehr. Seine im Dunkel liegenden unteren Teile dienen als Bühne, als Verwandlungsort sowie mit allem anderen auch als Projektionsfläche. Wie schon öfter in Goebbels’ Stücken ist fürs Publikum kein Übergang von der Bühne zum Raum erkennbar. Die Leute sitzen auf einer Tribüne etwa hundert Meter vom performativen Geschehen, aber eben nicht von ihm »entfernt«; man fühlt sich mittendrin, denn das »Theater«, der »Konzertraum« geht bis an den Horizont. An beiden Seiten ragt scharf beleuchtet oder als Silhouette schwarzer Blätter dichtes Buschwerk auf. Rechts vom Kasten zeigt eine Eisenbrücke schräg in die Luft. Zusammen mit einer langen Trasse, die lehmig glänzend mittig von der Tribüne bis zur Maschine führt, ergibt sich eine Andeutung von Zentralperspektive.

Eine heimelig analoge Glocke läutet dreimal. Blackout. Spannungsgeladenes Warten. Die zentral im Hintergrund des Bildes stehende Maschine lässt aus dem Dunkel ihres schwarzen Schweigens – wie der Drache des Besitzes in Wagners »Ring« – erst leise, dann immer lauter, metallisch kurze, aggressive Laute und Klänge hören. Wasserdampfwölkchen und Trockeneisnebel bilden sich. Eine Dampfspritze zischt aggressiv dazwischen. Im Tröpfchenregen schnarrt eine Metallsaite kreissägenartig. Amüsiert nimmt man in Abständen aus den in den Büschen rundum verteilten Lautsprechern die Töne aus den Kehlchen diverser Singvögel wahr, die Schreie von Möwen, Krähen, das Gurren von Tauben, das Summen von Bienen, das Heulen von Hunden, von Wölfen. Rhythmen diffundieren Entdeckungen, sie stellen sich durchgehend ungewollt ein, sind zugleich hochwillkommen. Goebbels’ Samples lassen sich als Pressluftbohrer hören, als Kriegskrach, als was immer – der Zufall komponiert mit. Erst in der Phantasie der Menschen auf der Tribüne vollendet sich das Kunstwerk im Bewusstsein von rund hundertdreißig Kunstfreundinnen.

Goebbels ist ein Daniel Düsentrieb immer anderer Resonanzen von Klang, Geräusch, Musik und Sprache, im wechselnden Licht wechselnder Orte und Bilder durchlebter Räume. Sie sind grenzenlos. Denn – Klangbild, Farbharmonie – was in der Sprache längst angelegt ist, erfüllt sich in dieser Art Kunst: Die Ohren lernen zu sehen, die Augen sperren die Ohren auf.

Ein Stück ohne sichtbare Performer. Die Musiktheatermaschinisten von »862« arbeiten an diesem Abend unsichtbar im Hintergrund an Dampfhebeln und Videogeräten (René Liebert), an Lichtdesigncomputern (Marc Thein), an Zuspielgeräten für Vogel- und Menschenstimmen, für komponierte Musik und perkussive Klänge und Geräusche (Willi Bopp). Ein Zeitalter lebt auf, das draußen im Gelände als endgültig untergegangen zu erleben war. In der Kunst wiederersteht die Wirklichkeit der Völklinger Hütte. Wie war die Arbeit darin, was hat sie angerichtet in ihrer Stadt und in der Welt, seit sie in der Zeit der großen Gründerkrise 1873 fertiggebaut wurde? Wie stand sie da, als es noch den Kaiser gab, den Hindenburg, den Hitler, den Adenauer?

Das weitere Rätsel für Außenstehende: Warum hieß dieses magisch in Kunst zum Leben erwachte Riesentrum von einer Kohlenstampfmaschine bei jenen, die lange Zeiten darin schuften mussten, »Paradies«? Soweit herauszufinden war: Dieses Paradies galt unter den Arbeitern als eine Art noch nicht ganz so heißer Vorhölle im Vergleich zur sich anschließenden Hölle der Kokerei, in der die gestampften Kohlepakete auf ihren Schmelzpunkt bei 1.200 Grad Celsius erhitzt und zu Koks verbacken wurden.Verräterisch redundant weist ein gehöriger Teil des Feuilletons immer wieder auf Heiner Goebbels’ erklärte Aversion gegen die Einbahnstraßen des Denkens hin. Goebbels biete keine Lösungen, loben sie, keine echten Alternativen oder andere Illusionen, bravo. Daran ist richtig, dass Goebbels zu fragen wünscht, nicht zu antworten, er will ohne Gitter und Geländer denken. Allerdings, die erklärte Offenheit Goebbelscher Kunst schließt das Schweifen des Geists auch in geschichtlichen Räumen nicht aus, nicht das Stöbern auch in den sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen. Diese Art Konsequenz der Freiheit des Denkens mag sich das bürgerliche Feuilleton nun aber so gar nicht zugestehen. Sagen wir also: Heiner Goebbels hat der in der Kohlenstampfmaschine 862 von ihm erneut lebendig gemachten Industriewirklichkeit des imperialistischen Kapitalismus nicht zu knapp Hinweise beigegeben, auch für den um Dialektik bemühten Blick auf weitergehende Zusammenhänge.

Die über das ganze Stück verteilten Stimmen aus historischen Aufnahmen welt- und zeitferner Ethnien mögen in diesem Sinn als Botschaften aus der Natur erscheinen, als Nachrichten aus dem Äther vergangener Zeitgeschichte und fremder Welten. Sagen wir also: Die Stimmen könnten die Leute auf der Tribüne ans Elend, an die Millionen Toten und an die Not erinnern, die das Völklinger Roheisen wegen der weiterverarbeitenden Industrie über die Völker gebracht hat. Zu hören wären da grob gerechnet also die Stimmen der Opfer kolonialistischer Räuberei.

Naturbezug auch in der Art, wie die Blätterkulisse der »Orakelmaschine« lichtinszeniert ist. Ein Höhepunkt die Stelle, an der die Projektionen auf diverse Teile der Kohlenstampfmaschine in ein – hier endlich einmal dramaturgisch sinnvoll eingesetztes – Video übergehen: Unten im Dunkel des Maschinensockels entsteht in Lichtrechtecken, die als erleuchtete Hüttenfenster zu deuten wären, eine Ahnung von denen, deren Arbeit diesem Ort seine Bedeutung verlieh. Derweil oben auf der vollen Fläche des Maschinenkastens ein Videomeer von im selben Wind flutendem – vom selben Kaltlicht wie die realen Blätter an den Seiten angestrahlten – grünen Blattwerk wogt. Ein technisch perfekt hergerichtetes Blickfeld. Der Triumph der Natur, im Moment überwältigend, es stellen sich Verbindungen her, die schwindelig machen.

Nachdenkliches dazu. Der Klang der Stimme Hannah Arendts mit Brecht: »Wir brauchen keinen Hurrikan, wir brauchen keinen Taifun / Denn was er an Schrecken tun kann, das können wir selber tun.« Oder Heiner Müllers poetische Dystopie »Maelstromsüdpol« und Helmut Heißenbüttels Stimme, die zu Distanz zum Wort und seinen Bedeutungen mahnt, zu kritischem Abwägen, zum langen Sich-Öffnen statt zum schnellen Urteil. Immer wieder eingeschoben schalten sich die Stimmen ein, unmerklich begleitet, unterstrichen, in Frage gestellt von Goebbels’ Samples (am präparierten Klavier auch als Musiker dabei: der Komponist).

Goebbeles’ Musik ist auf eine Weise sie selbst, die, soweit erkennbar, noch keinen Namen hat. Darin scheint wie in einer Art Kunstkokerei bei 1.200 Grad alles mit allem zu verschmelzen. Eine Musik latenter oder unberechenbar offener Entladungen, stets fraglicher Dauer, schier unendlichen Zurruhekommens. Kaum hat sich etwas eingesenkt, wird es von etwas Neuem überblendet. Ein Angebot, Hermeneutik spielerisch hinter sich zu lassen – indes, als etwas hinter sich zu lassen, was man schon einmal vor sich gehabt hat – la fantaisie au pouvoir!

Goebbels Kunst der Verschmelzung und Osmose verführt gelegentlich dazu, Mimetisches zu erkennen. Nicht dass er etwas den Sinnen Zugängliches gestaltgetreu in Töne übersetzte, Töne wie etwa die des Kuckucks in Beethovens 6. Sinfonie. Die Autonomie der Kunst Goebbels’ erfüllt sich, indem die arbeitende Phantasie das materiell Vorhandene in etwas umformt, für das die Formulierung »der Wirklichkeit ähnelnd« nur eine unter vielen Möglichkeiten wäre. So etwas hat Goebbels mit Hilfe seines kongenialen Saxophonisten Alfred Harth schon im Programm »Eislermaterial« vorgeführt. Auf Eislers Vertonung von Brechts »Die haltbare Graugans« spielt Harth eine Improvisation im gefühlt authentischen Idiom der zoologischen Graugans; solch Mimesis macht Spaß, ohne dass einem die ganze Kunst der dabei aufgewandten musikalischen Erfindung entgeht.Da »komponiert« einer entlang der fließenden Ränder der Genres und Aggregatzustände ein elementares Welttheater aus Vorgängen und Zuständen für Auge und Ohr, für die Haut, die Nase – und fürs Hirn. Resonanz und Transformation sind zwei Goebbelssche Schlüsselbegriffe fürs Verhältnis von Klang und Inhalt zugespielter Stimmen oder fürs empathische Zusammenstimmen aller Dinge rund um und auf Heiner Goebbels’ Völklinger Weltbühne vom September 2023.

»862 – Orakelmaschine« wirkt wie eine Weiterentwicklung, wie die erste Pleinairanwendung des Konzepts von Goebbels’ vorletzter Arbeit »Stifters Dinge« (2012), ein Werk, das rund um die Welt einige hundertmal in Spielstätten aufgeführt wurde, die Platz bieten für den Aufbau einer Theater- und Musikmaschinerie mit vier übereinander geschraubten mechanischen Klavieren, drei Wasserbecken, mit genügend Raum auch fürs Publikum. Goebbels verwandelt sich den Orten an. Er bedient sich dieser Orte; er wühlt sich in ihre Aura, in ihre Geschichte hinein und erschafft darin – ihre Wirklichkeiten unterwandernd – »Räume der Imagination«, ein Lieblingswort des Künstlers Goebbels.

Zeitlich und inhaltlich zentral läuft plötzlich, sich perspektivisch verengend, von vorn nach hinten, Weiß auf Schwarz, ein Text über die Trasse vor der Tribüne auf die Kohlenstampfmaschine zu. Simultan zu hören die Stimme der Autorin, ein Interview mit Marguerite Duras. Indirekt auch ein Interview mit der Orakelmaschine, dem zweiten Rätsel des Stücktitels. Im Einführungstext heißt es, vielleicht ein wenig gewaltsam vergleichend, ihr »ursprüngliche(r) Zweck habe darin bestanden, Antworten zu formen auf den hohen Energiebedarf einer von Ausbeutung und Fortschrittsglauben getriebenen Gesellschaft«.

Nun orakelt, sparsam begleitet von Goebbels’ Samples, die französische Schriftstellerin auf die Frage, wo künftig (das Interview fand im Herbst 1985 statt) die Antworten sein würden: Es werde nichts anderes mehr geben als Antworten (die Orakelmaschine wäre auf diesem Weg, wenn nicht enträtselt, so doch verständlicher geworden). »Im Grunde werden alle Texte Antworten sein«, fährt Duras fort. »Ich glaube, dass der Mensch buchstäblich in Informationen ertrinken wird. Das ist nicht weit von einem Alptraum entfernt.« Es werde niemanden mehr geben, der liest, klagt sie melancholisch – »überall werden Monitore hängen« (alle werden fernsehen, vom Arbeitsplatz bis in die Verkehrsmittel, vom Klo bis zum Abendbrottisch und Schlafzimmer). Ein gutes Alleinsein gäbe es nicht mehr. Die Zeit sei kein Ort mehr zum Verweilen und Besinnen, sie sei nur noch Maß der Schnelligkeit, mit der global möglichst das Maximum ans nächste Maximum gehechelt wird. Solche Gedanken über die intellektuell gelassen ertragene Barbarei marktradikaler Ökonomie laufen an diesem Abend über den Weg. Die Menschheit ist dieser Barbarei in den seither vergangenen Jahrzehnten ein beunruhigend gutes Stück nähergekommen.

Der Lauftext verschwindet, Zeile für Zeile gelesen, im fernen Dunkel. Da dämpfen Trockeneisnebelwolken die Luft, die weiße Schrift, projiziert in die weißgräulichen Wolken, wird brüchig, sie verblasst und erscheint wieder, sie verhaucht. Ein poetischer Effekt spontan kalkulierter Allegorik des Chef de l’imagination dieser Aufführung.

Da scheint nun auch in der Sphäre der schönen Künste etwas im Gange. In den Wissenschaften schon lange, vorneweg in der Biologie tummeln sich immer mehr Disziplinen mit freudig zu begießenden Ergebnissen in den Beeten der anderen. Heiner Goebbels’ Arbeit gibt Anlass zur Vermutung, dass es vielleicht nun auch mal in den Beeten der noch immer überwiegend sorglich getrennten Kunstgattungen losgeht.

Goebbels, der gern davon erzählt, wie er staunend, immer auf der Suche nach Wundern für seine Kunst, an den Küsten Tasmaniens oder Patagoniens gestanden hat, ist darüber als Künstler zum Ethnologen geworden, ein Soziologe und Linguist war er schon, wer weiß, wohin es ihn noch treibt? Er hat sich einer recht neuen Art Kontrapunkt, einer neuen Polyphonie aller Künste verschrieben.

Eine Polyphonie der Wirklichkeiten. In dem einem eisenstarrenden Urgebüsch gleichenden Friedhofsgarten des untergegangenen Indus­triezeitalters lässt Goebbels, gefiltert durch die Gegenwart der Aufführung, Extrakte der Wirklichkeiten dieses Zeitalters in etwas – auf andere Art lebendig Geistigem – wiedererstehen, als Kunst. Die Welt wird buchstäblich zum Theater, das Theater ist die Welt. Die Gegenwart der Welt im August 2023 ist freilich so düster wie an diesem Abend der Himmel über Völklingen. Das Zeitalter der Industrie ging unter. Sein menschheitsverachtender Egoismus freilich hat digital prächtig überlebt, so könnte man Marguerite Duras und mit ihr Heiner Goebbels verstehen, soweit die dunkle Seite von »862«.

Goebbels bietet in der Denkmaschine seiner Schöpfungen allerdings immer auch ein gewichtiges Quentchen an Positivem. Schon in seiner Art Blick auf die Natur, deren Schönheit er in der grünen Blätterflut jenes Videos feiert, ist, bestätigt durchs überwuchernde Grün ringsum, das Positive angelegt. Auch in einigen der Bilder unten im schwarzen Sockel der Kohlenstampfmaschine: mitunter ein Hauch biedermeierlich naiver Idylle einer irgendwann lebendigen Zeit, nun nur angedeutet in erleuchteten Fenstervierecken einer imaginierten Behausung, vielleicht eine Eisenwerkstatt. Oder der Friede einer Hütte im Krieg der Paläste? Schließlich wird auch im gesprochenen Singsang, den gesungenen Sätzen der zugespielten Stimmen aus der Ferne – auch die im Saarland Kolonisierten mögen dazugehören – eine Kraft laut, in der Hoffnung wohnt.

Aber natürlich, all dies könnte irgendwen auch auf ganz andere plausible Gedanken bringen, es läge in Richtung der Absichten des Künstlers Goebbels. Was ihm missfiele: Wenn die Leute über die erhellenden Überlegungen in ihren Köpfen das sinnlich integrale Erleben der Aufführung vergäßen, die Musik vergäßen, die Geräusche, die Klänge, auch die Lichter auf den Wassertröpfchen und auf den Blättern, den Geruch der Außenwelt im Dunkeln. Heiner Goebbels begreift den Menschen anthropologisch und historisch konkret. Am Ende treten die bis dahin als Schatten hinter Fenstern nur zu Ahnenden in Erscheinung. Wie im Ausklang der konventionellen Open-Air-Vorstellung eines romantischen Theaterklassikers verlassen junge Menschen in biedermeierlicher Kleidung – ein kleiner Chor mit Friedrich Silchers volkstümlichem, von Chamisso gedichteten Lied »Frisch gesungen« auf den Lippen – seitlich das Sockelhäuschen, spazieren am Gebüsch vorbei auf die Tribüne zu, ein Fahrrad mit Licht gondelt an ihrer Seite, sie gehen unbekümmert durch die Büsche ab. »Ein wehmütig-optimistisches Schlusstableau«, so Wolfgang Sandner in der FAZ, »unwirklich zugleich«.

»Freigeist« – die mediale Öffentlichkeit von 2023 in den Knochen, erkennt man den schönen Begriff wehmütig-pessimistisch nur noch als Ingredienz einer versunkenen Welt. In Goebbels ist sie noch einmal lebendig. Er mag nicht Partei sein, denn er verzichtet ungern auf jene, die meinen, einer anderen Partei anzugehören. Aber er gibt auf seine Art keine Ruhe. Er ist kein Auf-, er ist ein Anrührer. Er rührt etwas in den Menschen an, die ihm zuhören. Ein neugieriger Gärtner, liebt er es, dem Wachsen zuzusehen, er liebt Offenheit und Überraschungen. Wie jeder echte Gärtner und Freigeist zögert er. Und gibt am Ende die Hoffnung nicht auf. Schon im zentralen Lauftext von »862 – Orakelmaschine« endete Marguerite Duras’ Beschreibung marktradikaler Barbarei in der gedämpften Fanfare eines sehr schönen Credos: »Ich erinnere mich, dass ich etwas gelesen habe, in einem Buch eines deutschen Autors aus der Zwischenkriegszeit. Es hatte den Titel ›Der letzte Zivilist‹ von Ernst Glaeser. Dort habe ich gelesen, dass, wenn die Freiheit die Welt verlassen hat, immer noch ein Mensch übrigbleiben würde, um von ihr zu träumen. Das glaube ich. Ich glaube sogar, dass es schon begonnen hat.« junge Welt, September 2023

PRINTTEXTE / MUSIK

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