Die Akustik der Elbphilharmonie sieht sich immer neuen Prüfungen gegenüber. Ende Mai prüfte Teodor Currentzis sie auf Tauglichkeit in Sachen Heterophonie. Und vergangenen Montag war wieder mal eines dieser choralsinfonischen Schlachtschiffe dran, Arnold Schönbergs „Gurrelieder“. Beides auf eigene Art Atem beraubend.
Sitzt man weiter oben, hat die große helle Bühnenscheibe die Form eines Ovals. Montag war es randvoll. Stühle, Notenständer, vier Harfen, Schlagwerk. Wenn es losgeht Legionen von Streichern. Zehn Hörner, acht Posaunen, sieben Flöten. Die zwei Chöre rücken erst nach der Pause ein. Und keine Sekunde im etwa zweistündigen Verlauf das Gefühl, eine einzige Piccoloflöte wäre da überflüssig.
Um die Jahrhundertwende machte sich Schönberg ans Werk. Es ging ursprünglich um Klavierlieder auf die heute finster schwülstig wirkenden Texte des dänischen Spätimpressionisten Jens Peter Jacobsen. Um 1910 war daraus eine Art Lied-Oratorium geworden. Ein Jahr vor Beginn des ersten industriellen Völkerschlachtens die Uraufführung. Arnold Schönberg, begreift man, war lange schon Schönberg, bevor er Schönberg wurde. Weltbekannt war er erst 1920 mit Erfindung der Zwölftonmusik. Aber schon die „Gurrelieder“ sind „großer Wurf“. In ihnen rührt er an extrem letzte Möglichkeiten der mit Wagners „Tristan“ tonal und orchesterquantitativ bereits in Endzeitdimensionen schwelgenden Sinfonik Beethovens. Klangkosmen dringen ans Hörerohr. Aber über Wagner hinaus – und für so etwas ist die Akustik des großen Saals wie geschaffen – nimmt man überall Details wahr, Abwechslung in jedem Takt. Bei Auftritt der Waldtaube etwa geht es wie Flügelschlag durch Flöten, Harfen, Streicher; wenn von Rossen gesungen wird, kantappert der Rhythmus kunstvoll durch alle Orchestergruppen. Schönbergs Palette an assoziativ weiterzudenkenden Farben und Klangfilmen scheint unendlich. Kent Nagano hat das mit den Philharmonikern eindrucksvoll erarbeitet.
Es geht beiläufig um eine Ehegeschichte. König liebt junge Frau. Königin eifersüchtig. Vergiftet Nebenbuhlerin. König traurig. Torsten Kerl als König und Dorothea Röschmann als Geliebte (vor Jahren bewunderte ich sie als Bach- und Mozartsängerin) schienen überfordert im Versuch, sich aus dem Riesenorchesterklang stimmlich herauszuheben. Claudia Mahnke als Waldtaube und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Bauer – musikalisch an Wagners Mime erinnernd – sind von Schönberg unterscheidbarer komponiert, sie hatten es leichter.
Nach der Pause erklingt ein musikalisch interessanterer, der neuen Musik schon auf der Spur befindlicher Schönberg, es götterdämmerte, die Stunde der auf pianissimo gedämpften Kontrabassinstrumente. Für 1913 überraschend endet das oratorisch gigantische Chorfinale allerdings nicht zauberberg-pessimistisch. Das letzte tonale Wort des abgründig humorvollen Erfinders der Dodekaphonie, der nach den „Gurreliedern“ für nie mehr als etwa fünfzehn Musiker komponierte, steht in C-Dur und malt einen triumphalen Sonnenaufgang. Unvergesslich.
Das gelang auch Teodor Currentzis, dem charismatischen, russisch-basierten Griechen. Mit György Ligeti und Luciano Berio hatte er die Partituren zweier Klassiker der Moderne mitgebracht, Claude Vivier (1948-1983), der kanadische Einzelgänger, wird das noch werden. Currentzis Programm testete aus, was musikalisch entsteht, wenn die einzelnen Stimmen der Polyphonie eigene und immer eigenere Wege gehen. Ein kluger Kopf hat das Ergebnis „Heterophonie“ genannt. In Ligetis „Athmosphere“, seit Kubricks Film „2001“ eine Art Kleiner Nachtmusik der Moderne, entsteht in der Übereinanderschichtung mikroskopisch kleiner Stimm-Module ein vielfarbiger Raumklang, seltsamerweise funktionierte das in dem großen Raum der Elbphilharmonie an diesem Abend nicht (jedenfalls von meinem Platz nicht wahrnehmbar). Das Gegenteil Viviers „Lonely Child“. Eine einzige große Melodie der Einsamkeit (MusicAeterna Chor), der sich die begleitenden Instrumente (Mahler Chamber Orchestra) vielfach variiert anverwandeln, ohne auf homophone Art eins mit ihr zu werden. Der Höhepunkt Berios „Coro“. Eine Textcollage aus Dichtungen der Völker und Indigenen Lateinamerikas, Asiens, Afrikas und Europas, verbunden durch einen Text Pablo Nerudas, man möchte es eine Collage Völker verbindender Globalisierung nennen. Angeregt durch die Musik der zentralafrikanischen Banda Linda schafft Berio in „Coro“ durch das Zusammenwirken vieler rhythmisch und linear leicht variierender aber autonomer, gegeneinander versetzter und sich wiederholender Einzelteile einen faszinierenden Gesamteindruck, eine Klangfläche, einen Kontrapunkt, eine Melodie, angereichert durch Zitate der musikalischen Idiome verschiedener Völker. Die Choristen sind übers Orchester verteilt. Sie springen mitten in den Geigen oder Bläsern auf und singen, eine Verkörperung der Aufhebung des Gegensatzes auch von Chor und Orchester. Eine Missa solemnis der Neuzeit, kammermusikalisch gedacht, oratorisch im Eindruck.
Die Elbphilharmonie, so scheint es, nutzt die Gunst der Stunde. Die faszinierend leichte Schönheit des neuen Gebäudes lockt, es ist mit den schwierigsten Stücken ausverkauft. Wunderbar, an Abenden wie letzten Montag und Ende Mai zu erleben, dass die Leute, endlich einmal mit dem Unbekannten in Berührung, enthusiastisch reagieren. Junge Welt, Juni 2017