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Maschinenmusik 2024
Wie hätte wohl 1786 Mozart komponiert, hätte ihn statt des ständigen Hufgeklappers, des Lärms eisenbereiftter Kutschenräder auf dem Kopfsteinpflaster der Wiener Schulerstraße Nr. 845 (heute Domgasse 8) beim Komponieren des „Figaro“ der Sound der digitalen Maschinenwelt genervt? Er hatte es außerakustisch am Ende des 18. Jahrhunderts mit gereift revolutionären Verhältnissen zu tun. Dagegen erleben die Komponisten des 21. Jahrhunderts im nie zuvor dagewesenen, energiegeladen ausgeleuchteten Hochgeschwindigkeitskrach der Gegenwart ein geopolitisches und ethisches Weltchaos. Krach und Krise, in der Musik gehören sie zusammen.
Mozart gehörte zu den ersten Komponisten, die im Lauf ihres Lebens ein modernes Problem bekamen. Das Kind und der Heranwachsende hatten als musikalische Diener noch allein den Geschmack eines adeligen Herrn und seiner Bubble bedient. Dann kam das Publikum. Es bezahlte Eintritt für die Musik. Als Kleinunternehmer im Wien der 1780er Jahre hatte Mozart gegen Gage und Honorar mehr und mehr den Musikbedarf eines schnell wachsenden Markts von privaten und öffentlichen Konzertgesellschaften und Notendruckereien zu decken. In der Donaumetropole entstand so eine zu ihrer Zeit neue Art von Musik. Es waren nicht nur deren neuartige Verläufe, ihre ungewohnten harmonischen Reibungen, die harten Kontraste, die für Unruhe und Ablehnung im Publikum sorgten. Es war auch ein neuer Klang, eine neue Dynamik..
Bereits der 21Jährige Mozart begeisterte sich vor Ort für Klang und Spielbarkeit der 1777 brandneuen Hammerflügel des Augsburger Klavierbauers Johann Andreas Stein. Aber das Publikum hatte noch immer das Cembalo im Ohr, den Klang feudaler Vergangenheit. Aus den leise und laut (piano – forte) zu spielenden Hammerflügeln dagegen strömte der beunruhigende Klang einer Zukunft, die in den Jahren bis zur Französischen Revolution 1789 immer lauter zu vernehmen war, so etwas hörten nicht alle gern.
Mit Stichworten wie Klang, Dynamik, mit dem Notendruck kommen die musikalischen Produktivkräfte in den Blick, die Musikinstrumente, sowie die sich im Zentraleuropa des 19. Jahrhunderts mehr und mehr industrialisierende technologische Entwicklung um die Musik herum – für zweihundert Jahre ein toter Winkel bürgerlicher Musikwissenschaft. Der geht vielleicht jetzt erst richtig auf, dass die Entwicklung der Musik und ihrer Produktivkräfte nicht erst mit der Entstehung der mittelalterlichen Choralpholyphonie begann, nicht allein in Europa und ganz sicher nicht getragen allein von Männern.
An ihrem Ur-Anfang (so unter vielem anderen Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis, Leipzig 1977) fand sich irgendwo in den Weiten menschenleerer Kontinente getrommeltes Hohlholz und geblasenes Schilfrohr. Den Menschen der Urgeschichte erging es – trommelnd, blasend, rufend, zupfend, sprechsingend – wie Mozart: sie wollten (und mussten) kommunizieren, sie waren nicht allein auf der Welt. Aus Schilfrohr wurden gelochte Holzflöten, sie mutierten zu per Klappen bedienten Oboen, Klarinetten, Fagotten; aus Tiergehörn wurden mit einem Mundstück zu blasende einfache Metallrohre, wurden Konzerthörner, Ventiltrompeten, Zugposaunen, Saxophone. Die technische Entwicklung sorgte für immer virtuosere Spielbarkeit der Instrumente, für gesteigerte dynamische Volumen; sie schuf im Dienst stilistischer Standards die Möglichkeit klanglicher Vereinheitlichung. Aber auch die Schärfen und Kanten, die schrillen harmonischen Verstöße gegen Gewohntes in den Partituren etwa des Bachsohns Carl Philipp Emanuel oder denen Mozarts traten für viele unangenehm deutlicher vors Ohr. Mit Herbert von Karajans Anstrengungen erreichte die affirmative, die glättende, entmaterialisierende Anwendung modernster Technik Ende der Achtzigerjahre in einem glanzvoll musealen Auf-der-Stelle-Treten ihren ästhetischen Höhepunkt. Karajan nutzte den technologischen Fortschritt allein reproduktiv zu Herstellung und Absatz klanglich exzellenter Exemplare des Immergleichen.
Als produktiv dagegen erwies sich die Anwendung neuester Technik in Bereichen, die von den Besitzern des kolonialen Blicks in der Kultur lange als Tumult, als – so noch von meinem 1922 geborenen Vater – „Hottentottenmusik“ beschimpft und als „Unterhaltung“ ausgegrenzt und herabgesetzt wurden. Es war aber der aus Rhythm and Blues und Boogie-Woogie entstandene Rock’n Roll, der sich schon Ende der 1940er Jahre elektrischer Klänge bediente, Chuck Berry war ein bedeutender Wegbereiter. Einer wie Jimi Hendrix führte 1968 in Woodstock der höchst innovative Gebrauch elektrischen Stroms und seiner Widerstände als Verstärker, Verzerrer und Zerstörer der Töne zu völlig neuen Darstellungs- und Klangmöglichkeiten eines Saiteninstruments, das einst dem Minnesang vorbehaltenen war. In Hendrix‘ Version der US-Hymne lädt und lehnt sich ein sich mehr und mehr maschinell verselbständigender Klang mit Semantik auf, mit deutlich kriegsfeindlichem Einspruch. Aber es war vielen einfach zu laut, vielleicht auch zu politisch. Zumindest die Lautstärke führte noch zu Tumulten, als Bob Dylan Mitte der 1960 Jahre von der Akustik zur Elektronik konvertierte.
Gezielt produktive Wege ermöglichte die Elektronik sechs Jahre nach Ende der Nazi-Barbarei. Das Studio für Elektronische Musik in Köln machte sich 1951 an die – sie war eben noch marktgerecht ein Kriegskind – nun auch ästhetische Nutzung neuester Elektrotechnologie. Komponisten wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen gingen ans Werk. Die Ergebnisse des Kölner Experimentallabors kamen zunächst nicht über die Reichweite angesagter Neue Musik-Festivals hinaus. Sie verbreiteten sich – etwa zwei Jahrzehnte nach Entstehen der weltweiten Jugendkultur – in den 1970er Jahren im Schaffen von Gruppen wie „Kraftwerk“, die sich als einzige deutsche Rockgruppe-ever in der Rock’n Roll Hall of Fame wiederfindet.
Anno 1976 gründete der Frankfurter MusikstudentHeiner Goebbels (Jahrgang 1954) das „Sogenannte Linksradikale Blasorchester“. Er war ausgebildet in der musikalischen Tradition europäischer Konservatorien. Aber am im Konservatorium dominierenden Bewahren (lat. conservare) des Bewährten vermisste er womöglich die zeitgeschichtliche Dynamik. Jedenfalls folgte 1979 dem linken Frankfurter Bläserradikalismus auf einem Pflaster, unter dem der Strand lauerte, die Gründung des Duos „Goebbels/Harth“. Der Saxophonist Alfred Harth bildete zusammen mit Freund Goebbels ab 1982 auch den Kern der Experimental-Rockband „Cassiber“. Der Pianist Goebbels wurde zum Keyboarder, der Komponist begann, sich den Musikmaschinen zuzuwenden. “Cassiber“ gehörte bis 1992 zur Avantgarde internationaler Jazzfestivals und Experimentalrock-Konzerte. Goebbels nutzte alle Gelegenheiten, neue Klangzustände zu erforschen. Er arbeitete mit Sequenzern, Synthesizern, probierte Tonband-Loops, experimentierte mit Feldaufnahmen. Als die Rechner die dafür notwendige Riesengröße erreicht hatten, verwendete er eine Zeit lang bevorzugt Sampler.
Der Klang der Zeit. Ein Marketing-Baustein. Das Umfeld Marketing einmal beiseite, wäre „der Klang der Zeit“ eine geeignete Bezeichnung auch für das, was Komponisten wie Heiner Goebbels im Sinn haben. Alle kennen den Klang der Zeit, in der sie leben. Aber, scheints, nicht alle wollen hören, wie die Komponisten der Gegenwart ihn ästhetisch codieren und aufbereiten. Es ist wie mit fremden Sprachen. Wie soll ohne ausreichenden Wortschatz, ohne ein Gefühl für den, einen Sinn nahelegenden Satzbau Zugang zum Fremden entstehen? Einem Gestalter des Klangs der Zeit vorzuwerfen, seine Kunst sei unverständlich, wäre ähnlich seltsam, wie wenn nur des Deutschen mächtige Deutsche einem Griechen oder Chinesen ankreideten, man könne ihn nicht verstehen.
Für den Umgang mit dem Fremden haben Jaques Deleuze und Felix Guattari das Wortungetüm „Deterritorialisierung“ erfunden. Der erkennende Intellekt deterritorialisiert sich aus den hergebrachten Territorien der Welterklärung. Der Gedanke (hier von einem Nichtstrukturalisten aufgegriffen und ausgelegt) ist nicht unsympathisch: er erinnert an den Stand paradiesischer Unschuld im Begriff der „Grazie“ in Kleists „Marionettentheater“, auch an die Dialektik des „Baums der Erkenntnis“. Jenseits von Vorurteilen und Ideologien, unberührt auch vom Konflikt zwischen Wahrnehmen und Denken kommt das Ich in die Lage, die Dinge für Momente sein und werden zu lassen, was sie sind.
So mag der Eindruck entstehen, die Maschine bringe – über den Klang – Bedeutungen hervor, sie könne Geschichten erzählen, die Frage nach einem Wesen in den Maschinen taucht auf. Im Thema KI scheint zwischen Marketing und Menetekel im dritten Jahrtausend die Angst zu gipfeln, die Maschine, autonom geworden, könnte sich gegen die Menschen wenden in der Absicht, sie zu vernichten. Heiner Goebbels, der in seinen – alle maschinell erzeugt oder zugespielt – aus Musik, gesprochener, gesungener und gelesener Sprache, aus unbewegten und bewegten Bildern und aus Theaterelementen bestehenden „Installationen“ allein den Maschinen die Performance überlässt, gibt auf die Frage, ob Maschinen eine Seele haben, eine einfache Antwort: „Ich glaube schon. Sie wurden ja von Menschen gemacht.“ Im Blick auf seine Installation „862 – Orakelmaschine“, sie bedient sich als Konzertsaal und Bühne der rostigen Reste einstiger Stahlproduktion in der saarländischen Völklinger Hütte, fügt er hinzu: „Es gibt doch kaum etwas Schöneres als die sogenannte Funktionalität der Industriekultur, die auch von Menschen gemacht wurde, aber richtig abstrakt ist die nie.“
Vor Ort, im Auge den von üppiger Vegetation umwucherten, von Lichtdramaturgie und Projektionen illuminierten haushohen Kasten der titelgebenden Völklinger Kohlenstampfmaschine, im Ohr Goebbels‘ vom harschen Klang elektronischer Technik inspirierte Maschinenmusik, meldet sich im Kopf die Philosophie: in der Kunst, flüstert sie, erschließt sich Geistiges über die Sinne, über Bilder, Klänge, Temperaturen. Bingo. Das könnte der Weg sein, auf dem Sinnlichkeit und Seele in die Maschinen gelangen, ohne dass Himmel, Kosmos oder Microsoft dazwischenfunken. In den Maschinen der Kunst darf das Publikum im Fall von Künstlern wie Heiner Goebbels eine Seele vermuten, der im Unterschied zur Ware künstliche Intelligenz weder Amazon noch Facebook, weder Musk noch Gates weder J. P. Morgan noch Blackrock auflauern.
Wie aus profaner Materie Geistiges entstehen kann, ist in „The Coast“ in Goebbels‘ Installation „Stifters Dinge“ (2013) zu erleben. Ein urgewaltiger Liegeklang trägt das Stück durchgehend, in ihm via Imagination der sturmerfüllte Horizont einer riesigen Küste. „Ich weiß noch wie ich durch Lausanne ging, wo wir das Stück produziert haben“, erinnert sich der Komponist. „Da waren Bauarbeiten und große Wasserrohre lagen da auf der Straße herum; und da habe ich die Techniker gebeten, doch mal zwei mitzubringen und ein System zu erfinden, wie man maschinell damit umgehen kann. Unter dem Rohr haben wir dann vorgeschlagen, einen Ventilator anzubringen. Und da das Rohr zufällig eine bestimmte Länge hatte, wurde es ein tiefes G, eine Bassorgel. Aber durch den handelsüblichen Ventilator hatte das dann so eine Windzusammensetzung, das ergab den Ton, wahrscheinlich mit einigen Klangeffekten noch ausgestattet. Aber im Grunde war das etwas ganz Archaisches, ein Orgelton“.
Vom Orgelton zurück zur Akustik des Schilfrohrs scheint die Strecke viel kürzer, als in der anderen Richtung. Bis zu den vorgeblich, sagen wir, die fehlenden Sätze der „Unvollendeten“ nachliefernden Giga-Rechnen der Zukunft scheint in viel kürzerer Zeit der entwicklungsgeschichtliche Sprung ungleich größer. Wer 2024 die jüngste Musikgeschichte des Westens untersucht, wird eine andere Eigenschaft der Musikmaschinen entdecken: die zwingende Logik der Algorithmen sorgt fortwährend auch für eine zwar weitgehend unsichtbare, aber umso wirksamere Schleifung der uralten abendländisch-kolonialen Grenzen zwischen den Künsten und den angrenzenden Sparten der Wissenschaft.
Der Klassiker György Ligeti fand nicht überall Verständnis, als er gegen Ende seines Lebens (1923-2006) in mein Radiomikrofon bekannte, er interessiere sich, was die Inspiration angehe, deutlich mehr für die Naturwissenschaften als für die Musik, er rede ohnehin fast nur noch mit Neurobiologen, Kernphysikerinnen, Informatikerinnen, Ethnologen, Linguisteninnen. Nicht, dass die Künste uninteressant geworden wären. Nur sind die Maschinen und ihre Rationalität, so meint man zu verstehen, endlich so langsam wirklich dabei, ihren Platz im Bewusstsein nicht nur der die Musik Herstellenden, sondern auch der sie Liebenden zu besetzen.
Über Steffen Krebber, Jahrgang 1976, ist zu lesen, er sei „Komponist, Klangkünstler und Forscher. Seine Arbeit oszilliert zwischen Computermusik, instrumentaler und elektroakustischer Komposition, Klangkunst, Forschung, Sprache, Erkenntnistheorie, Soziologie und Medienkunst.“ Wie gänzlich untrocken es bei so viel kreativer Gelehrtheit zugehen kann, erhellt Krebbers reimgeschüttelter Werktitel „Lass mich bei den chicken Villen in den Wicken chillen“ von 2022. Das bei vielen Komponistinnen in Krebbers Alter und darüber hinaus mehr oder minder häufige Bündnis ihrer neuen Musik mit der Rockmusik (etwa Johannes Motschmann) liefert eine Erklärung für den, wie man hört, wachsenden Erfolg ihrer Kunst bei jüngeren Leuten in ganz Europa.
Aus dem Grazer Institut für elektronische Musik stammt die technische Quelle, zugleich das „Instrument“ der Musik Krebbers, der IKO. Diese gänzlich neuartige Sorte Lautsprecher kann, so der Künstler, „Schallstrahlen – sogenannte Beams – in jede Richtung des Raums schicken (…). Im Gegensatz zu den herkömmlichen Surround- und Stereosystemen – die mit einer Vielzahl von, den Hörer umgebenden Lautsprechern eine Illusion von Raum und Bewegung schaffen, die auf eine fixe Position des Hörers angewiesen ist und den Raum, in dem die Lautsprecher performen, marginalisiert – geht der IKO mit dem Raum, in dem er steht, gewissermaßen eine Komplizenschaft ein. Denn die Beams werden hauptsächlich über die Reflexionen der Begrenzungen des Raums hörbar, so dass Schallquellen hinter ihnen entstehen und der Raum durch die nun hörbare Materialität seiner Grenzen erweitert wird. Der Raum wird mit Strömungen und Verwirbelungen gefüllt, die je nach Position oder Weg des Hörers variieren. Gleichzeitig bleibt das Erleben zwischen den Hörern kommunizierbar. Diese Entwicklung im Bereich der Audiosysteme ist ein produktives Bild für grundlegende wissenschaftliche und ästhetische Veränderungen, die in den letzten Jahren gefordert und zum Teil schon begonnen wurden. Die alten Systeme erscheinen dabei als die lange Geschichte von Objektivismus, Strukturalismus und Poststrukturalismus. Sie sind in strikter Trennung von Subjekt (Hörer) und Objekt (zu kontrollierender Klang) auf Wiederholbarkeit unabhängig vom Raum ausgerichtet. Der IKO wird auf die neuen wissenschaftstheoretischen Strömungen ‚agential realism‘ und ‚neoanimism‘ projiziert, die versuchen, die Welt ohne Subjekt-Objekt-Bifurkation (Teilung, Spaltung, d.A.) zu denken und die verschiedenen Abhängigkeiten, Gemische und Gemengelagen unter den vermeintlich abgegrenzten Entitäten neu zu betrachten und darzustellen.“
Für das überlange Zitat aus Krebbers, zugegeben, zunächst vielleicht etwas „nerdig“ (Krebber selbst) anmutenden Aufsatz mit dem Titel „Amphiferenz und animistischer Twist. SELBSTlaut: Denkende Dinge“ sei nachträglich um Vergebung gebeten. Aber das Zitat müsste Menschen entgegenkommen, die es nicht nur materialistisch und historisch mögen, sondern gern auch dialektisch. Denn hinter „Amphiferenz“, so Krebber, verberge sich nicht weniger als ein „gegenseitiges, ineinanderfließendes Aufrufen.“ Wer da nicht an Modelle wie Leibnitz’ Monaden denkt, wird es schwer haben mit dem Verstehen musikalischer Maschinen.
Es sind die der Produktion geschuldeten Verhältnisse in der Welt und die der Reproduktion gewidmeten Überlegungen im Kopf, die seit längerem zu tanzen beginnen, selbst den Prinzipien ist, vielleicht auch bald in der Klassik, nach Tänzeln. „Der allegorische Raum des IKO“, sagt Krebber, „kann soziologisch, ökologisch, physikalisch, musikhistorisch und auf viele andere Arten gelesen werden. Die Musik, der Klang selbst, agiert und denkt in diesem gesellschaftlichen Raum in verschränkten Zuständen mit Komponierenden, Hörenden, Orten, historischen Modellen und anderen Agenten.“ Da beginnt sich allerhand aufzulösen, neu zu sortieren, sich auf neuen Wegen, mit neuen Begriffen zu bewegen, was wir seit Jahrhunderten unter „Musik“ verstanden. Als Bert Brecht die Musik seines Freundes Eisler begriff, schlug er in Bewunderung vor, dafür künftig das Wort „Misuk“ zu verwenden. Das Publikum, ab bald vielleicht nicht länger eine Ansammlung vereinzelter isolierter Individuen, kann in der Misuk von morgen in den anderen zu sich kommen. Es kann sich, sich im verbeamt wie greifbaren Raum bewegend, Raum und Klang mitgestaltend, am Entstehen des musikalischen Kunstwerks beteiligen, kann, die neue Musik wie die Musik seit Jahrhunderten genießend, Teil des Kunstwerks werden (soweit, sehr verkürzt ein Bruchteil von Krebbers aufregenden Gedanken; der ganze Text)
Heiner Goebbels ist mit der Uraufführung von „862 – Orakelmaschine“ von der theoretischen Kritik in die Praxis gegangen, er hat in Völklingen den Kontext gewechselt. Es ist, als dürfe sich das Publikum über solche Entwicklungen freuen. Denn neue Räume, hinweg über alte Grenzen, bergen eine, anno 2024 noch kaum zu ahnende neue Art von Künsten und Kunstgenuss. „Ich kann viel besser in solchen Räumen arbeiten“, so Heiner Goebbels, „als in sogenannten Kunsträumen, die eigentlich nur für Repräsentation und für Getue gemacht sind. Opernhäuser, Theater, Schauspielhäuser, sind fürs Getue gemacht. Darum liebe ich solche Räume, die einem nicht verzeihen, wenn man nur so tut, als ob.“ August 2024
Bäche von gesalznen Zähren.Rademanns Bachkantaten
„Unsere Gesellschaft lässt ein wichtiges Erbe mehr und mehr fallen: die Musik Johann Sebastian Bachs.“ Richtig. Aber wer klagt da im großen Namen Bachs „unsere Gesellschaft“ so schwerwiegender kultureller Versäumnisse an? Nochmal richtig, die FAZ, das Familienblatt der Klavierstunden zahlenden Höheretöchterväter.
Immerhin kommt auf den Seiten des gehobenen Leitproduzenten deutscher Meinung klassische Musik noch zu Wort. Man kann das nur begrüßen im Fall der Neuaufnahme aller Bach-Kantaten des ersten Leipziger Jahrgangs (1723-24) aus den Händen und Mündern der Gaechinger Cantorey und ihres Cantors Hans-Christoph Rademann. Man muss wissen, Rademann wurde in einem Staat geboren und ausgebildet, der sich in den Augen der an der Spitze der FAZ bestimmenden Herren zum Unrechtsstaat machte, indem er unter anderem die Bachpflege zu rendite-ignoranten Eintrittspreisen bis in hinterste Thüringerwaldwinkel vorantrieb. Ein Musiker wie Hans Christoph-Rademann hat vermutlich ab ovo intus, worum es beim Erbe Johann Sebastian Bachs und bei der Pflege dieses Erbes geht.
Vielleicht Zufall, dass das Volume 1 der Edition im ersten Werk des Jahrgangs gerade mit der zweiteiligen (für vor und nach der Predigt) Kantate BWV 75 „Die Elenden sollen essen, damit sie satt werden“ beginnt. Musiker wie Rademann musizieren so etwas, als liege im Titel dieser Kantate die Essenz eines Humanismus, den die bürgerliche Bachpflege allzu schnell hinter einer bombastischen Religiosität Bachs verschwinden lässt. Es mag an Rademanns struktureller Uneitelkeit als Dirigent liegen, dass bei ihm alles Bemerkenswerte an der Musik Bachs, seine – stets auf Höhe des Inhalts, diesen erhellend – ins hörende Bewusstsein dringende Form einleuchtet, Inhalt und Ausgangspunkt: Bachs tiefe Empathie fürs Schicksal der Menschen, die Kenntnis der vielerlei Grenzen, die ihnen gesetzt sind.
Rademann lässt erklingen und aufblühen, was Bach alles mitbrachte an Ingredenzien für seine Kantaten, als er im Mai 1723 aus dem Dienerdasein an feudalen Höfen in die demokratisch regierte Handelsmetropole und Universitätsstadt Leipzig einzog: bunt gemischt Concertos, Motetten, Choräle, Da capo Arien im italienischen Stil, meist solistisch begleitet von geblasenem Blech oder Holz, von der hohen, ventillosen Bachtrompete oder der damals neuen Oboe (da caccia und d‘amore). Solistische wie begleitende Instrumente spielen so textverständlich und klangschön wie die Gesangssolisten und der Chor singen. Wenn sich für den Bachstil der Gaechinger Cantorey das Attribut „unaufgeregt“ aufdrängt, wäre das nicht die höfliche Umschreibung für „eher langweilig“. Es greift in Rademanns Idee von dieser „Music“ (Bach) eine kunstvoll frohe Dialektik von Zurücknahme und Intensität, dialektisch die Steigerung des einen durchs andere, der dynamische Kontrast.
Anders als sonst oft bei den Contra-Altisten führt sich die Altstimme Alex Potters ganz unexotisch und mit barockfarbenwolkig jungmännerhaften Colloraturen als charakteristisch natürliche Klangfarbe auf; auch die anderen drei Register sind mit Sängern besetzt, die ihre Brillanz unter viel Substanz verstecken. Die zweite CD der Box beginnt als Chorbekenntnis erwachender bürgerlicher Subjektivität mit einem abgesetzten dreifachen „Ich“, Fortsetzung: „ich hatte viel Bekümmernis“. In einem zu Herzen gehenden Dialog zwischen der leidenden Seele, selbstredend ein Weib (Miriam Feuersingers mädchenhaft direkter Sopran) und ihrem einfühlenden Spitzentherapeuten Dr. Jesus (Benedikt Kristjánsson) entwickelt sich – „Ach, Jesu, meine Ruh“ – der tiefchromatische Eindruck von einer der Grundlagen bürgerlichen Wesens und Unwesens: der Depression (Goethe hat sie unüberbietbar psychopoetisch am Ende des „Faust“ in der Szene von dessen Erblindung aufgeschrieben). „Bäche von gesalznen Zähren“ mögen sich da auch über die Seelen der Hörenden ergießen; die Kantate BWV 21 – sie geht gut aus! – übt eine gewisse therapeutische Wirkung auch auf die Gemeinde trostbedürftiger Ohren aus.
Man kann Rademanns Fähigkeit, komplizierte musikalische Zusammenhänge verständlich zu verbalisieren, auf YouTube bewundern. Man findet sie – dankbarer Sinne und frischen Kopfs – in den Neuaufnahmen der ersten Lieferung dieses Kantatenjahrgangs auf musikalisch hohem Niveau wieder. junge Welt, Mai 2024
J. S. Bach: Das erste Kantatenjahr, Vol. I, BWV 75, 76, 21.3, 185, 2, 24 – Natasha Schnur/ Miriam Feuersinger /Alex Potter / Patrick Grahl / Benedikt Kristjánsson / Tobias Bernd / Matthias Winckhler / Gaechinger Cantorey / Hans Christoph Rademann (hänssler Classics)
Neunte 200
Gehören in der Abteilung Schrifttum die Bibel und Marxens Kapital zu den Alltime-Spitzen auf den Listen des Weltkulturerbes, liegen auch im Bereich Musik die Linken nicht schlecht im Rennen. Ob die “Internationale” bereits auf der UNO-Liste angelangt ist, war kurzfristig nicht zu ermitteln. Mit oder ohne UNO gehört das Lied der global kämpfenden Arbeiterklasse zu den zweifellos populärsten und bekanntesten Musikstücken der Menschheit. Es teilt diesen Status mit dem großen aktuellen Geburtstagskind des musikalischen Weltkulturerbes, mit der am 7. Mai 1824 in Wien uraufgeführten neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens.
200 Jahre hat sich das Bürgertum abgemüht, dieses ultimative Kunstwerk wegzufeiern und totzuehren. Machten die Bürgerlichen die Neunte im sich friedlich einrichtenden Europa des Jahres 1972 mit einer gewissen Berechtigung zur Hymne des Europarats, war Beethovens sinfonischer Schlusspunkt ab 1985 die offizielle Hymne eines Kontinents, der sich, zusteuernd auf einen Sieg über den Systemkonkurrenten, unseliger Traditionen erinnerte. Schillers Ode an die Freude war, als der 23jährige(!) Beethoven sich erstmals mit dem Text befasste, ein tyrannenfeindliches Trinklied, sein Verfasser wurde im Zuge feudaler “Cancel Culture” auf Jahre kriminalisiert und verfolgt; der ältere Schiller gestaltete die Ode kurz vor seinem Tod verträglicher. Und Beethoven unter den Augen der Spitzel und Zensoren Metternichs macht daraus nach drei Jahrzehnten Auseinandersetzung mit dem Text ein chorsinfonisch ragendes Manifest solidarisch kämpferischer, ungeteilter Humanität.
Schon die Deutschfaschisten hatten sich, ohne rot zu werden, kriegstüchtigkeitshalber der Neunten bedient (Herr von Karajan mit Hitlergruß). 1990 wurde Beethovens Weltbotschaft universellen Friedens abermals in den Dienst westlicher Werte genommen: die elysische Freude darüber, dass „alle Menschen Brüder“(innen) werden, geriet beim Großereignis mit dem uralten Leonard Bernstein in der Berliner Philharmonie am Ende der „friedlichen Revolution“ zum Triumphgeheul einer beutegierigen Siegermeute.
Die neunte Sinfonie wird auch derlei überleben. Es gereicht den strikt freiheitlichen Beethoven-Freundinnen nicht zum Vorteil, dass sie auf die Frage nach den Werten der neunten Sinfonie immer undeutlicher nuscheln, immer hilfloser weglassen müssen, was der Tonsetzer ein für alle Mal in die Noten schrieb. Die Musik des revolutionären Volksheers der Franzosen hatte er bereits 1805 in der fünften Sinfonie in der Partitur. Sie ertönt auch noch zwanzig Jahre später im Finale der neunten Sinfonie. Revolutionsmusik von vor dem Thermidor. Das Verhältnis des alten Beethoven zum standortorientierten Napoleon wurde am Ende immer zwiespältiger.
Theodor Adorno kann man einiges nachsagen. Unter anderem zu Beethoven hat er sich klug eingelassen. Die Neunte, schrieb er, das Werk an seinen historischen Ort stellend, war „die musikalische Rettung der Welt im Stande des Subjektivismus.“ Das kann man so stehen lassen. junge Welt, Mai 2024
Ein Klangpsychologe. Bruckners Neunte.Roth
Der im Februar 2002 verstorbene, für seine Bruckner-Interpretationen vielgepriesene Dirigent Günter Wand beantwortete einmal die Frage, warum er in seinem Leben so gut wie keinmal ein Werk Gustav Mahlers dirigiert habe, sinngemäß: Gustav Mahler habe in seinen Sinfonien sein intimstes Seelenleben in einer Weise offenbart, die es ihm, Günther Wand, als Musiker unmöglich mache so etwas zu dirigieren. Mit solcherlei Ansichten, möchte man denken, lag er im Fall der bombastischen, schroff durchgeformten und scheinbar ohne Melodien auskommenden Bruckner-Sinfonien goldrichtig.
Nun hat der französische Noch-Gürzenich-Orchesterchef Francois-Xavier Roth (er wird 2025 Teodor Currentzis beim Orchester des SWR ablösen) in seinem Projekt mit allen Bruckner-Sinfonien mit dem Kölner Gürzenich Orchester nach der dritten und der siebten Sinfonie Bruckners in der dritten Lieferung der Edition den Sprung ans Ende gemacht. Bruckners Neunte. Bruckner war sich wie alle anderen, welche die Neun erreichten, bewusst: diese Sinfoniezahl war besetzt. Arnold Schönbergs Worte bleiben im Gedächtnis, dass gehen muss, wer über die Neun hinaus ist. Bruckner hat sich in seiner Neunten gleichwohl heftig auch mit Beethovens Neunter auseinandergesetzt.
Bruckner lässt sich in manchem Belang mit Schubert vergleichen. Auch der hatte seine ganz besondere Art, mit den bis dahin fürs Gros der Komponierenden ehernen Gesetzen des Sonatenhauptsatzes umzugehen. Auch Schubert hatte nach Schumanns Diktum „herrliche Längen“, auch er ging mit seinem Material nicht diskursiv um, er ging in vielen Wiederholungen variativ vor, in Modulen, und auch er ließ eine seiner bedeutendsten Sinfonien nach bereits zwei Sätzen für immer liegen; seinen Landsmann Bruckner hinderte am Ende eine schwere Krankheit und schließlich 1895 der Tod daran, den drei vollendeten Sätzen seiner neunten einen Finalsatz hinzuzufügen. Der langsame Satz Adagio, er steht wie in Beethovens Neunter an dritter Stelle, war sinfonisch sein letztes Wort. Die beiden Sätze davor – das Scherzo, ähnlich unscherzhaft wie bei Beethoven und wie bei ihm an zweiter Stelle, sowie das einleitende Mysterioso – sind eine vollendete Zusammenfassung des in Bruckners Leben sinfonisch Geleisteten. In allem hörbar darüber hinaus Ausgriffe in die musikalische Zukunft, harmonisch extreme Reibungen, metrisch konträre Schichtungen, eine Architektur von einer noch nicht dagewesenen Ausdehnung in sich selbst und einer, trotz der vielen Generalpausen und Blockbildungen, geradezu fliegenbeinzählerischen Kohärenz.
Man kann das hören, wenn François-Xavier Roth Bruckner Neun dirigiert. Was ihn mit Wand verbindet: der hart erarbeitete Überblick. Wo ist etwas noch auslaufende Sequenz, wo beginnen die Metamorphosen, beginnt die Osmose eines neuen Motivs, wo endet es, wenn überhaupt? Wand wie auch Roth folgen dem zwanghaften Tüftler Bruckner bis in Einzelheiten, sie verlieren sich nicht dabei. Man meint zu hören, wie die Gewalt der Gestaltlogik des Werks ihren wehrlosen Urheber bisweilen übermannt, wie sie mit ihm durchgeht. Roths Fundus an unterschiedlichen Charakteren der bei Bruckner so wichtigen Pausen scheint unerschöpflich, ein Klangpsychologe. Das Glitzern der Klangflächen aus hohen Streichern an Stellen dessen, was von der Durchführung noch erahnbar ist, die kompakten Akkorde der Blechbläser – sie erschlagen oft alles andere – sind in Einzelklängen vernehmbar: im Klang der Hörner, der Trompeten, der Bassposaunen. Roth ist ein Meister auch der Balance, auch einer der Ökonomie dynamischer Stufung.
Hört man Bruckner aus den Händen der Mitglieder des Kölner Gürzenich Orchesters und seines Dirigenten, taucht am Ende die Frage auf: gerät dieser, besonders im abschließenden Adagio ein Leben summierende Abschied eines großen niederösterreichischen Komponisten an nicht wenigen Stellen nicht auch auf intime Weise in den von Wand verabscheuten seelischen Exhibitionismus? Roth scheut die Frage nicht. Er beantwortet sie, indem er – den abgründigen Gefühlshaushalt Bruckners einmal beiseite – die, einen alten Menschen zuverlässig begleitende Bilanzierung gelebten Lebens Klang werden lässt. Ohne Programm. Allein im Vertrauen auf die emotive Wirkung etwa jener, in den Beginn des Adagio hineinschreienden None aufwärts. Ist es ein Umweg, den der Geist macht, wenn er sich über die Sinnlichkeit Zugang zu den Dingen verschafft oder ist es der direkte Weg?
Francois-Xavier Roth und Anton Bruckner bringen ins Grübeln. Es gibt inzwischen unzählige Bruckner-Aufnahmen. In diese Neuaufnahme hineinzuhören und vergleichend zu überprüfen, ob da zum Thema Bruckner bemerkenswert Neues aufgetaucht ist – lohnt.
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 9 d-Moll – Gürzenich Orchester Köln / Francois-Xavier Roth (Harmonia Mundi France)
Meister im Schatten.Isabelle Faust acapella.
Die Geige. Ein seltsam Ding. Gefertigt aus dem Holz uralter Bergfichten, ein geschwungener Kasten bespannt mit Tiergedärm. Was für Töne lassen sich ihm entlocken! Man denkt an Paganini, ans Beethovenkonzert oder an, wer sie kennt, Salvatore Sciarrinos wunderbare Capricen. Als Violinheiligtum gelten Bachs (1685-1750) Sonaten und Partiten für Solovioline, was gibt es Schöneres als die Chaconne d-Moll?
Gewiß nichts Schöneres und Bedeutenderes. Aber es gab Zeitgenossen Bachs, auch ältere, meist selbst große Geiger, die Musik für die Solovioline komponierten. Isabelle Faust stellt diese Meister im Schatten mit einer neuen CD, wohin sie gehören, ins Licht. Faust klingt wie eine geborene Barockgeigerin, freilich eine des 20. und 21. Jahrhunderts, die in ihrer Ausbildung und Karriere alle Höhen und Tiefen einer zweihundertjährigen Aufführungstradition überlebte. Fausts Doppelgriffe, wenn sie Barock spielt, strotzen vor Farbenpracht, ihre Triller sind rokokohaft flüchtig. Sie braucht kein Vibrato, um den langen Tönen, weich oder spitz, Leben einzuhauchen. Den Bogen sehr nah am Griffbrett, kann sie auf der Geige raunen und verhauchen.
Johann Georg Pisendel oder Heinrich Ignaz Biber kennen vielleicht nicht wenige. Aber Vater und Sohn Nicola Matteis? Oder die Namen Nicolas Guillemain und Johann Joseph Vilsmayr? Faust holt sie alle hervor. Das Problem barocker Soloviolinisten: die Melodiestimme musste auf den nur vier Saiten einer Geige immer wenigstens andeutungsweise Mittelstimmen und Bassbegleitung mitspielen, das hing ihr bisweilen am Bein wie ein Klotz. Nicolas Guillemain (1705-1770) löste das Problem, indem er, die Zweistimmigkeit aussetzend, ziemlich in die Mitte seines achtteiligen „Amusement pour le violon seul“ eine durchgehend einstimmige Aria setzte – für Faust ein Heimspiel sanglicher Tongebung und so schatten- wie abwechslungsreicher Phrasierungskunst.
Der 1683, zwei Jahre vor Bachs Geburt verstorbenene Geigerkomponist Heinrich Ignaz Franz Biber führt die Zweistimmigkeit einer Solovioline in seiner Passacaglia gipfelnd in die funktionierende Illusion über, da spielten zwei. Faust auf der tiefen Saite gibt als Bassfundament vier absteigende Noten vor. Auf das Zeitmaß der im Ohr verklingenden Basstöne lässt sie – mit blitzschnellen Fingern von der tiefen G-Saite zur hohen E-Saite und zurück springend – zwischen den absteigenden Tönen variative Improvisationen auf die Harmonien des Bassgangs in die Höhe schießen. Man weiß nicht, ob es schwerer ist, sich so etwas auszudenken oder noch schwerer, es so zu spielen. Dass Faust es spielt wie selbsterfunden, muss bei aller Leidenschaft am Bedacht liegen, mit dem sich diese Solistin den Noten widmet.
Eine Hommage an den Nichtgeiger Sebastian Bach, der zu den Meistern dieses Albums in interaktiver Beziehung stand. Sie haben von ihm genommen, was er, den Sack zumachend, von anderen an Anregung bekam. Analog zum Denkmal könnte man es ein „Hörmal“ nennen, was Isabelle Faust den a capella Geigenden und ihren barocken Komponisten da errichtet hat. Als ein „Hörmalrein“ eine schöne Empfehlung. junge Welt, März 2024
Isabelle Faust solo. Arbeiten für die Solovioline: Matteis sr. Fantasie a-Moll, Matteis jr. Ayres für Violine / Pisendel Sonate a-Moll / Guillemain Amusement für Geige allein / Vilsmayr Partita Nr. 5 / Biber Passacaglia g-Moll (Harmonia Mundi France)
Wagner. Aber piano.
Die Musik Richard Wagners (1813-1883), für viele, zumal linke Musikfreundinnen, bleibt sie ein Problem. Sie erscheint Ihnen pompös, aufgeblasen, mit zu viel Germanentum belastet. Kein Wunder, dass die Faschisten des alten Europa mit diesem auf so typischdeutsch zwiespältige Weise deutschen Komponisten so viel anfangen können. Es ist nichts verkehrt an solcher Wagnerkritik, sie wird Wagner im Ganzen nur nicht ganz gerecht. Der auf seine Art nicht minder genialische Rossini brachte es auf den Punkt: „Wagner hat große Momente – aber schreckliche Viertelstunden.“
Wer sich den gelegentlich doch etwas ausufernden Viertelstunden Wagners nicht aussetzen mag, höre die neue CD des russischen Pianisten Nicolai Lugansky mit Klavierbearbeitungen später Opern Wagners. Der Russe präsentiert einige der nicht gar so seltenen „großen Momente“ im Klang eines Steinway D „Edward“. Der Flügel verschlankt die voluminösen Orchesterklänge Wagners, er zeigt sich imstande, deren harmonische Wendungen, ihre dynamischen Steigerungen und Erschlaffungen plastisch vors Ohr zu bringen.
„Isoldes Liebestod“ am Ende der CD, eine von Wagners - so die Wagnerenthusiasten – narkotischsten, von erotischen Mythen umspermten Partituren, ließ einen vor wenigen Jahren verstorbenen Amsterdamer Musiker und Freund die Braue heben: „Der Wagner hat viel bei seinem Schwiegervater geklaut“ (der Schwiegervater, zwei Jahre älter als Wagner, war Franz Liszt, Vater der Wagnertochter Cosima). Zwischen zwei Genevern in der Amsterdamer Musikerküche war zu hören, der Schwiegersohn habe sich in den weltweit als wagnereigen bewunderten, hundsgemeinen Harmonien des „Tristan“ an den Erfindungen des Schwiegervaters bedient. Darüberhinaus entsteht unter Luganskys Fingern gerade in den Klavier-Arrangement des „Liebestods“ die Vorstellung: der späte Wagner hat lediglich Liszts bis in den Impressionismus hineinwirkende Dekonstruktion der thematischen Arbeit der Wiener Klassik genial, aber eben auch ein bisschen diebisch von Liszts Klavier auf die vielen Stimmen seines großen Orchesters übertragen.
Aber wie er das gemacht hat! Hört man es auf so einem Konzertflügel, gespielt von einem wie Lugansky, hat es sich mit dem Widerstand gegen Wagners opulente Aufdringlichkeit. Noch Extremisten unter den Wagnerabgeneigten, sofern nicht auch lisztophob, werden zugeben: sogar Bauernfängerstücke wie der „Einzug der Götter in Walhall“ im „Rheingold“ klingen auf Klaviertasten so übel nicht. Man fühlt sich an die Anekdote der beim Schachspiel eine Wagnerplatte hörenden Brüder Hanns und Gerhard Eisler erinnert. Sagt Hanns irgendwann in die musikgetränkte Stille: „Was für ein skandalöser Dreck – aber genial!“
Man kann sich über die oberlehrerhafte Bedeutungshuberei der Leitmotive ärgern. Nimmt allerdings Nicolai Lugansky die Sache in die Hände, wird Wagners bewundernswertes Geschick erkennbar, die über Stunden verteilte Riesenmenge an Leitmotiven wohlorganisiert in den spätromantischen Flow der musikalischen Form einer Kette von Fantasien zu verwandeln, eine „unendliche Fantasie“ sozusagen mit einer Unzahl von Themen. Und last but not least die Melodien: sie haben in der ungeheuren Stimmgewalt weltberühmter Brünhilde-Darstellerinnen die Tendenz, in den Hintergrund zu geraten; auf dem Klavier ertönen sie in Relationen, die es erleichtern, sie wirklich schön zu finden.
Als der Musikalienmarkt so richtig zu boomen begann, war Richard Wagner alt. Den Siegeszug seiner Opern zunächst in Europa, dann weltweit, begünstigte ein erst nach seinem Tod entstandener Weltmarkt für Musikalien. Vor dem Erscheinen der Tonträger erreichte eine Masse an Klavierbearbeitungen für zwei und vier Hände ein Maß an Verbreitung der Musik des liebenswürdig-garstigen, auf krummen, hässlichen Wegen antisemitischen Stehaufmännchens aus Sachsen, das durch Ticketverkauf an eine kleine Schicht kaufkräftiger Wagnerfans nie möglich geworden wäre. Versuch macht klüger.
Richard Wagner: Berühmte Opernszenen Nicolai Lugansky, Steinway D (Harmonia France / Outhere)
Begnadete Besoffenheit
Vielleicht waren es die Frühlings- und Sommergrillen, die den Biedermeierischen nach Heine während der Romantik besonders im Winter, wenn es warm hinterm Ofen war, durch die Ganglien schwappten. Vielleicht aber ging es Robert Schumann fünf Jahre vor der 1848er Revolution auch noch durchgehend gut. Sein Klavierquartett Es-Dur op. 47 klingt danach. Zumindest, wenn es wie hier von Musikern gespielt wird, die über Dynamik und Form, über Schärfe oder Weichheit, orchestrale Fülle oder kammermusikalische Nähe und Durchsichtigkeit jedes Tons, über den sie verfügen, lange nachdenken.
Die Einleitung spielen die vier Solisten dieser Aufnahme fahl und verwunschen, sie kehrt nach Vorstellung zweier leichtfüßiger Themen überraschend wieder. Man muss das so musizieren können: Eben noch der mit fröhlichen Menschen prallvolle Tanzsaal – da zieht die Musik plötzlich eine dick gepolsterte Kabinetttür hinter sich zu, man ist in der Wiederholung der langsamen Einleitung im Dunkeln zu zweit allein mit ein paar verlorenen Oktaven, vielleicht mit sich selbst. Ist aber wohl nicht das Ding. Also schnell die Tür wieder auf und weiter geht’s! Der Wechsel, ein Lieblingskind der Romantik, der noch heile Schumann war mit ihm per Du.
In den Variationen des dritten, langsamen Satzes treten die Instrumente solistisch hervor. Jean-Guihen Quéras, von Isabelle Fausts Geige zuckersüß vorbereitet, singt die Melodie des Themas baritonal auf dem Cello. Zusammen mit der, unauffällig polyphone Farben mischenden, Bratsche Antoine Tamestits und mit den konzertierend perlenden Figurationen des Hammerflügels Sascha Melnikovs ergibt sich in diesen buchstäblich kantablen Andante-Variationen eine aufs zuendegehende 19. Jahrhundert vorausweisende, bis zu mostschäumende, süßweinölige Walzerseligkeit. Allein der Beginn: wie sparsam und kuschelig sich das Allerweltsthema da per Portamento und voll ausgereiztem Rubato-Zögern in die Welt schmust, eine romantischer kaum denkbare Parodie der Romantik -– wie anders als nicht selten genug in den Aufnahmen mit der unförmigen Schmeichlei romantischen Kitsches.
Der Finalsatz hat einen tiefsitzenden, in immer neu aufbrechenden Fugati und Imitationen alles durchdringenden Kontrapunkt-Infekt. Er führt in eine stabile, wunderbar leichte Lebensfreude halb als Rondo getanzt, halb als Sonatensatz gedacht und geschwelgt. Es gibt viele gute Aufnahmen dieses Stücks. In dieser Aufnahme wird die Lebenslust des gerade noch nicht späten Schumanns ungekünstelt herzhaft beim Ton genommen. Schumanns geradezu berstendes Gutdraufsein am Ende seines an romantischem Überschwang, an kompositorischem Schalk und begnadeter Besoffenheit wahrlich nicht armen Klavierquartetts wird als wie dergestalt beschrieben wahrscheinlich erst hörbar, wenn gespielt von Musikern solcher Güte.
Das folgende Klavierquintett mit der kleineren Opuszahl 44 ist spürbar in derselben Zeit komponiert, hinzu tritt die zweite Geige Anne Katharina Schreibers, eine der mehreren Perlen unter den Konzertmeisterinnen des Freiburger Barockorchesters. Das Quintett ist von Schumanns beiden Prachtwerken für drei und vier Streicher mit Klavier das maximal berühmtere und das – nicht ganz zurecht – auch beliebtere. Es ist das instrumental kraftvoller aufgestellte und erinnert vielleicht in seinen von orchestraler Pracht begleiteten Klavierläufen hier und da diese oder jenen an Schumanns a-Moll-Klavierkonzert. Ganz exzeptionell der Trauermarsch, die opernhaft bis ins schauerlich Dramatische reichende, fast filmische Verwandlungskunst eines unscheinbaren, zweimal auftaktigen Trauermotivs. Es behauptet sich spielend gegen andere berühmte Lösungen der Trauer etwa in den langsamen Sätzen der Eroica oder der h-Moll Sonate Chopins. Den rhythmisch gedehnten B-Teil kann man wohl kaum seelendiesiger, kaum erratischer spielen als auf dieser Aufnahme. Im Agitato des C-Teils bekommt das verwandelte Trauermotiv plötzlich eine Art rhythmischen Schluckauf – megaschwer zu spielen, denn „zusammen“ – was soll das hier wohl genau heißen? Die fünf Ausnahmemusiker bewältigen das Problem nicht nur mit Spielfreude und Witz, sie sind für ein nicht ständig zusammenspielendes Ensemble erstaunlich vertraut miteinander. Sie feiern Party im Scherzo (mit dem herrlich verrückten zweiten Trio) und im Finalsatz des Klavierquintetts mit Fuge und Volksschwof am Ende, sie können auch derb und deftig, auf Höchstniveau. Eine Referenzaufnahme? Sowieso. Voll eine Lieblingsaufnahme. junge welt, 2024
Schumann: Klavierquartett Es-Dur op. 47, Klavierquintett Es-Dur op. 44 – Isabelle Faust, Anne Katharina Schreiber, Antoine Tamestit, Jean-Guihen Quéras (Harmonia Mundi France).
Jean Rondeau:Mozart Fantasie d KV 397
Die Macht der Gewohnheit macht auch vor der Musik nicht Halt. So kann es einem passieren, dass man jemand die Aufnahme der Fantasie d-Moll KV 397, gespielt vom Franzosen Jean Rondeau (lange Haare, voller Bart), wärmstens ans Herz legt. Man trifft auf Interesse. Anderntags ein File dieser Aufnahme hinterhergeschickt, wird sie mit viel Wohlwollen empfangen. Wieder allein, der Gedanke: diese Aufnahme hat für Nichtfachleute den Fehler, sie wird weder, wie in der allerdings schrumpfenden Vielzahl aller Aufnahmen, auf einem modernen Konzertflügel, noch, immer öfter, auf einem Hammerflügel gespielt – Jean Rondeau spielt sie auf einem Cembalo.
Weiterentags bestätigt ein E-Gespräch die Vermutung. Mein Gegenüber kannte die Fantasie, er mochte sie, er konnte Klavierspielen. Diese Version aber, gehört, ordnete er zurückhaltend unter „außergewöhnlich“ ein, sie erschien ihm geradezu „gewöhnungsbedürftig“. Natürlich: der Cembaloklang. Mozart, wäre dazu zu sagen, ist mit diesem Klang in den Ohren, mit solchen Ebenholztasten unter den Fingern aufgewachsen. Er hatte nicht Schumann im Ohr und im Herzen, als er die d-Moll Fantasie komponierte, er kam aus der rückwärtigen Geschichte, aus dem Barock. Der Klang des Flügels zur Schumannzeit wäre seinen Ohren so fremd gewesen, wie 2024 dem Ohr 4.0 der Klang eines Cembalo aus dem Jahrhundert vor den Instrumenten mit nicht mehr gezupften, sondern behämmerten Saiten.
In Mozarts Herz wimmelte es zur Zeit der Niederschrift der d-Moll Fantasie – wahrscheinlich 1782 – besonders im Anfang von den durchbrochenen Akkorden Sebastian Bachs, später mehr noch von den Musikverläufen und vom Geist der modernen Fantasie ihres Erfinders, des zweitältesten Bachsohns Carl Philipp Emanuel. Die vielen jähen Umschläge der Stimmung und wie sie gestaltet sind – schroff, überraschend – sind eigenster Mozart, auch natürlich das zag liebe Thema nach der Einleitung.
Kam hinzu: mein Medienpartner zählte zu den vielen Opfern einer wundersamen Dialektik des technischen Fortschritts. Die Anlage, auf der er KV 397 hörte, taugte nicht viel. Man hört nun aber die große Besonderheit des Klangs wirklich alter Instrumente – sie wurden für die unmittelbare Wahrnehmung gemacht – desto besser und oft erst überhaupt, je technisch elaborierter die benutzte Anlage ist. Auf einer minderen Anlage überhört man nicht allein das metallene Zirpen, der von mechanisch veranlassten Haken gezupften Saiten. Anders, als auf dem modernen Konzertflügel, auf dem alle vier Register in einem wunderbar ausgeglichenen Klangraum ertönen – nur freilich in einem einzigen –, hat auf dem Cembalo oder einem Hammerflügel jedes Register seinen eignen Raum und seinen charakteristischen Klang. Der Ton kommt überaus klar ans Ohr, es vermag die Töne voneinander zu trennen. Ihr Ineinanderklingen, ihr Verklingen geschieht auf natürliche Weise, es gibt ja weder Pedal noch die Möglichkeit von Leise und Laut (Pianoforte), die Struktur des Satzes tritt eingängiger und schärfer als gewohnt hervor. Weiters sind die Akkorde nicht wie auf dem modernen Instrument als Ganzheit zu hören, sondern in den Einzeltönen, die das Ohr sich zusammenhört (wie in der Malerei ein grüner Farbton gelegentlich erst bei näherem Hinsehen als aus vielen blauen und gelben Tönen gemacht erkennbar wird).
Jean Rondeaus Kunst besteht darin, solche Vorzüge zu nutzen, sie spürbar zu machen. Darum ist er in der aktuellen Klassikwelt so interessant und erfolgreich. Er wirkt authentisch. Ohne irgend Guru zu sein, ist er, was selten geworden, glaubwürdig auch in der Art, wie er sein Repertoire spielt. Man kann ihm allzu große Freiheiten im Umgang mit dem zu Mozarts Zeit viel sparsamer eingesetzten Rubato, im Umgang mit den Verzierungen vorwerfen. Mozarts Fantasie d-Moll ist ein sehr – Wort und Bewusstsein davon gab es damals noch nicht – „individualistisches“ Stück. Rondeau spielt es individualistisch, er spielt es im Idiom der beiden Bachs, im Sinn der nichts ausschließenden Seinserfülltheit Mozarts und auch im Zeitgefühl – so mag man es hören – der Ängste und Sehnsüchte seiner modernen Zuhörerschaft. Eine aus solchen Gründen von vielen guten Aufnahmen bemerkenswerte.
Mozart: Fantasie d-Moll KV 397 – Jean Rondeau, Cembalo (Erato/Warner Classics)