Ein Klangpsychologe. Bruckners Neunte.Roth

Der im Februar 2002 verstorbene, für seine Bruckner-Interpretationen vielgepriesene Dirigent Günter Wand beantwortete einmal die Frage, warum er in seinem Leben so gut wie keinmal ein Werk Gustav Mahlers dirigiert habe, sinngemäß: Gustav Mahler habe in seinen Sinfonien sein intimstes Seelenleben in einer Weise offenbart, die es ihm, Günther Wand, als Musiker unmöglich mache so etwas zu dirigieren. Mit solcherlei Ansichten, möchte man denken, lag er im Fall der bombastischen, schroff durchgeformten und scheinbar ohne Melodien auskommenden Bruckner-Sinfonien goldrichtig.

Nun hat der französische Noch-Gürzenich-Orchesterchef Francois-Xavier Roth (er wird 2025 Teodor Currentzis beim Orchester des SWR ablösen) in seinem Projekt mit allen Bruckner-Sinfonien mit dem Kölner Gürzenich Orchester nach der dritten und der siebten Sinfonie Bruckners in der dritten Lieferung der Edition den Sprung ans Ende gemacht. Bruckners Neunte. Bruckner war sich wie alle anderen, welche die Neun erreichten, bewusst: diese Sinfoniezahl war besetzt. Arnold Schönbergs Worte bleiben im Gedächtnis, dass gehen muss, wer über die Neun hinaus ist. Bruckner hat sich in seiner Neunten gleichwohl heftig auch mit Beethovens Neunter auseinandergesetzt.

Bruckner lässt sich in manchem Belang mit Schubert vergleichen. Auch der hatte seine ganz besondere Art, mit den bis dahin fürs Gros der Komponierenden ehernen Gesetzen des Sonatenhauptsatzes umzugehen. Auch Schubert hatte nach Schumanns Diktum „herrliche Längen“, auch er ging mit seinem Material nicht diskursiv um, er ging in vielen Wiederholungen variativ vor, in Modulen, und auch er ließ eine seiner bedeutendsten Sinfonien nach bereits zwei Sätzen für immer liegen; seinen Landsmann Bruckner hinderte am Ende eine schwere Krankheit und schließlich 1895 der Tod daran, den drei vollendeten Sätzen seiner neunten einen Finalsatz hinzuzufügen. Der langsame Satz Adagio, er steht wie in Beethovens Neunter an dritter Stelle, war sinfonisch sein letztes Wort. Die beiden Sätze davor – das Scherzo, ähnlich unscherzhaft wie bei Beethoven und wie bei ihm an zweiter Stelle, sowie das einleitende Mysterioso – sind eine vollendete Zusammenfassung des in Bruckners Leben sinfonisch Geleisteten. In allem hörbar darüber hinaus Ausgriffe in die musikalische Zukunft, harmonisch extreme Reibungen, metrisch konträre Schichtungen, eine Architektur von einer noch nicht dagewesenen Ausdehnung in sich selbst und einer, trotz der vielen Generalpausen und Blockbildungen, geradezu fliegenbeinzählerischen Kohärenz.

Man kann das hören, wenn François-Xavier Roth Bruckner Neun dirigiert. Was ihn mit Wand verbindet: der hart erarbeitete Überblick. Wo ist etwas noch auslaufende Sequenz, wo beginnen die Metamorphosen, beginnt die Osmose eines neuen Motivs, wo endet es, wenn überhaupt? Wand wie auch Roth folgen dem zwanghaften Tüftler Bruckner bis in Einzelheiten, sie verlieren sich nicht dabei. Man meint zu hören, wie die Gewalt der Gestaltlogik des Werks ihren wehrlosen Urheber bisweilen übermannt, wie sie mit ihm durchgeht. Roths Fundus an unterschiedlichen Charakteren der bei Bruckner so wichtigen Pausen scheint unerschöpflich, ein Klangpsychologe. Das Glitzern der Klangflächen aus hohen Streichern an Stellen dessen, was von der Durchführung noch erahnbar ist, die kompakten Akkorde der Blechbläser – sie erschlagen oft alles andere – sind in Einzelklängen vernehmbar: im Klang der Hörner, der Trompeten, der Bassposaunen. Roth ist ein Meister auch der Balance, auch einer der Ökonomie dynamischer Stufung.

Hört man Bruckner aus den Händen der Mitglieder des Kölner Gürzenich Orchesters und seines Dirigenten, taucht am Ende die Frage auf: gerät dieser, besonders im abschließenden Adagio ein Leben summierende Abschied eines großen niederösterreichischen Komponisten an nicht wenigen Stellen nicht auch auf intime Weise in den von Wand verabscheuten seelischen Exhibitionismus? Roth scheut die Frage nicht. Er beantwortet sie, indem er – den abgründigen Gefühlshaushalt Bruckners einmal beiseite – die, einen alten Menschen zuverlässig begleitende Bilanzierung gelebten Lebens Klang werden lässt. Ohne Programm. Allein im Vertrauen auf die emotive Wirkung etwa jener, in den Beginn des Adagio hineinschreienden None aufwärts. Ist es ein Umweg, den der Geist macht, wenn er sich über die Sinnlichkeit Zugang zu den Dingen verschafft oder ist es der direkte Weg?

Sinfonie Nr. 9 d-Moll – III. Adagio

Francois-Xavier Roth und Anton Bruckner bringen ins Grübeln. Es gibt inzwischen unzählige Bruckner-Aufnahmen. In diese Neuaufnahme hineinzuhören und vergleichend zu überprüfen, ob da zum Thema Bruckner bemerkenswert Neues aufgetaucht ist – lohnt.

Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 9 d-Moll – Gürzenich Orchester Köln / Francois-Xavier Roth (Harmonia Mundi France)

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Meistrin leidenschaftlichen Bedachts

Die Geige. Ein seltsam Ding. Gefertigt aus dem Holz uralter Bergfichten, ein geschwungener Kasten bespannt mit Tiergedärm. Was für Töne lassen sich ihm entlocken! Man denkt an Paganini, ans Beethovenkonzert oder an, wer sie kennt, Giacinto Scelsis wunderbare Capricen. Als Violinheiligtum gelten Bachs (1685-1750) Sonaten und Partiten für Solovioline, was gibt es Schöneres als die Chaconne d-Moll?

   Gewiß nichts Schöneres und Bedeutenderes. Aber es gab Zeitgenossen Bachs, auch ältere, meist selbst große Geiger, die Musik für die Solovioline komponierten. Isabelle Faust stellt diese Meister im Schatten mit einer neuen CD, wohin sie gehören, ins Licht. Faust klingt wie eine geborene Barockgeigerin, freilich eine des 20. und 21. Jahrhunderts, die in ihrer Ausbildung und Karriere alle Höhen und Tiefen einer zweihundertjährigen Aufführungstradition überlebte. Fausts Doppelgriffe, wenn sie Barock spielt,  strotzen vor Farbenpracht, ihre Triller sind rokokohaft flüchtig. Sie braucht kein Vibrato, um den langen Tönen, weich oder spitz, Leben einzuhauchen. Den Bogen sehr nah am Griffbrett, kann sie auf der Geige raunen und verhauchen.

   Johann Georg Pisendel oder Heinrich Ignaz Biber kennen vielleicht nicht wenige. Aber Vater und Sohn Nicola Matteis? Oder die Namen Nicolas Guillemain und Johann Joseph Vilsmayr? Faust holt sie alle hervor. Das Problem barocker Soloviolinisten: die Melodiestimme musste auf den nur vier Saiten einer Geige immer wenigstens andeutungsweise Mittelstimmen und Bassbegleitung mitspielen, das hing ihr bisweilen am Bein wie ein Klotz. Nicolas Guillemain (1705-1770) löste das Problem, indem er, die Zweistimmigkeit aussetzend, ziemlich in die Mitte seines achtteiligen „Amusement pour le violon seul“ eine durchgehend einstimmige Aria setzte – für Faust ein Heimspiel sanglicher Tongebung und so schatten- wie abwechslungsreicher Phrasierungskunst.

    Der 1683, zwei Jahre vor Bachs Geburt verstorbenene Geigerkomponist Heinrich Ignaz Franz Biber führt die Zweistimmigkeit einer Solovioline in seiner Passacaglia gipfelnd in die funktionierende Illusion über, da spielten zwei. Faust auf der tiefen Saite gibt als Bassfundament vier absteigende Noten vor. Auf das Zeitmaß der im Ohr verklingenden Basstöne lässt sie – mit blitzschnellen Fingern von der tiefen G-Saite zur hohen E-Saite und zurück springend – zwischen den absteigenden Tönen variative Improvisationen auf die Harmonien des Bassgangs in die Höhe schießen. Man weiß nicht, ob es schwerer ist, sich so etwas auszudenken oder noch schwerer, es so zu spielen. Dass Faust es spielt wie selbsterfunden, muss bei aller Leidenschaft am Bedacht liegen, mit dem sich diese Solistin den Noten widmet.

Heinrich Ignaz Franz Biber Passacaglia g-Moll

 Eine Hommage an den Nichtgeiger Sebastian Bach, der zu den Meistern dieses Albums in interaktiver Beziehung stand. Sie haben von ihm genommen, was er, den Sack zumachend, von anderen an Anregung bekam. Analog zum Denkmal könnte man es ein „Hörmal“ nennen, was Isabelle Faust den a capella Geigenden und ihren barocken Komponisten da errichtet hat. Als ein „Hörmalrein“ eine schöne Empfehlung. junge Welt, März 2024

Isabelle Faust solo. Arbeiten für die Solovioline: Matteis sr. Fantasie a-Moll, Matteis jr. Ayres für Violine / Pisendel Sonate a-Moll / Guillemain Amusement für Geige allein / Vilsmayr Partita Nr. 5 / Biber Passacaglia g-Moll (Harmonia Mundi France)

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Wagner. Aber piano.

Die Musik Richard Wagners (1813-1883), für viele, zumal linke Musikfreundinnen, bleibt sie ein Problem. Sie erscheint Ihnen pompös, aufgeblasen, mit zu viel Germanentum belastet. Kein Wunder, dass die Faschisten des alten Europa mit diesem ­ auf so typischdeutsch zwiespältige Weise ­ deutschen Komponisten so viel anfangen können. Es ist nichts verkehrt an solcher Wagnerkritik, sie wird Wagner im Ganzen nur nicht ganz gerecht. Der auf seine Art nicht minder genialische Rossini brachte es auf den Punkt: „Wagner hat große Momente ­ – aber schreckliche Viertelstunden.“

Wer sich den gelegentlich doch etwas ausufernden Viertelstunden Wagners nicht aussetzen mag, höre die neue CD des russischen Pianisten Nicolai Lugansky mit Klavierbearbeitungen später Opern Wagners. Der Russe präsentiert einige der nicht gar so seltenen „großen Momente“ im Klang eines Steinway D „Edward“. Der Flügel verschlankt die voluminösen Orchesterklänge Wagners, er zeigt sich imstande, deren harmonische Wendungen, ihre dynamischen Steigerungen und Erschlaffungen plastisch vors Ohr zu bringen.

„Isoldes Liebestod“ am Ende der CD, eine von Wagners ­ ­- so die Wagnerenthusiasten – ­ narkotischsten, von erotischen Mythen umspermten Partituren, ließ einen vor wenigen Jahren verstorbenen Amsterdamer Musiker und Freund die Braue heben: „Der Wagner hat viel bei seinem Schwiegervater geklaut“ (der Schwiegervater, zwei Jahre älter als Wagner, war Franz Liszt, Vater der Wagnertochter Cosima). Zwischen zwei Genevern in der Amsterdamer Musikerküche war zu hören, der Schwiegersohn habe sich in den weltweit als wagnereigen bewunderten, hundsgemeinen Harmonien des „Tristan“ an den Erfindungen des Schwiegervaters bedient. Darüberhinaus entsteht unter Luganskys Fingern gerade in den Klavier-Arrangement des „Liebestods“ die Vorstellung: der späte Wagner hat lediglich Liszts bis in den Impressionismus hineinwirkende Dekonstruktion der thematischen Arbeit der Wiener Klassik genial, aber eben auch ein bisschen diebisch von Liszts Klavier auf die vielen Stimmen seines großen Orchesters übertragen.

Aber wie er das gemacht hat! Hört man es auf so einem Konzertflügel, gespielt von einem wie Lugansky, hat es sich mit dem Widerstand gegen Wagners opulente Aufdringlichkeit. Noch Extremisten unter den Wagnerabgeneigten, sofern nicht auch lisztophob, werden zugeben: sogar Bauernfängerstücke wie der „Einzug der Götter in Walhall“ im „Rheingold“ klingen auf Klaviertasten so übel nicht. Man fühlt sich an die Anekdote der beim Schachspiel eine Wagnerplatte hörenden Brüder Hanns und Gerhard Eisler erinnert. Sagt Hanns irgendwann in die musikgetränkte Stille: „Was für ein skandalöser Dreck ­ – aber genial!“

Das Rheingold ­- Einzug der Götter in Walhall

Man kann sich über die oberlehrerhafte Bedeutungshuberei der Leitmotive ärgern. Nimmt allerdings Nicolai Lugansky die Sache in die Hände, wird Wagners bewundernswertes Geschick erkennbar, die über Stunden verteilte Riesenmenge an Leitmotiven wohlorganisiert in den spätromantischen Flow der musikalischen Form einer Kette von Fantasien zu verwandeln, eine „unendliche Fantasie“ sozusagen mit einer Unzahl von Themen. Und last but not least die Melodien: sie haben in der ungeheuren Stimmgewalt weltberühmter Brünhilde-Darstellerinnen die Tendenz, in den Hintergrund zu geraten; auf dem Klavier ertönen sie in Relationen, die es erleichtern, sie wirklich schön zu finden.

Als der Musikalienmarkt so richtig zu boomen begann, war Richard Wagner alt. Den Siegeszug seiner Opern zunächst in Europa, dann weltweit, begünstigte ein erst nach seinem Tod entstandener Weltmarkt für Musikalien. Vor dem Erscheinen der Tonträger erreichte eine Masse an Klavierbearbeitungen für zwei und vier Hände ein Maß an Verbreitung der Musik des liebenswürdig-garstigen, auf krummen, hässlichen Wegen antisemitischen Stehaufmännchens aus Sachsen, das durch Ticketverkauf an eine kleine Schicht kaufkräftiger Wagnerfans nie möglich geworden wäre. Versuch macht klüger.

Richard Wagner: Berühmte Opernszenen ­ Nicolai Lugansky, Steinway D (Harmonia France / Outhere)

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Begnadete Besoffenheit

Quintett op.47 1. Allegro brilante

Vielleicht waren es die Frühlings- und Sommergrillen, die den Biedermeierischen nach Heine während der Romantik besonders im Winter, wenn es warm hinterm Ofen war, durch die Ganglien schwappten. Vielleicht aber ging es Robert Schumann fünf Jahre vor der 1848er Revolution auch noch durchgehend gut. Sein Klavierquartett Es-Dur op. 47 klingt danach. Zumindest, wenn es wie hier von Musikern gespielt wird, die über Dynamik und Form, über Schärfe oder Weichheit, orchestrale Fülle oder kammermusikalische Nähe und Durchsichtigkeit jedes Tons, über den sie verfügen, lange nachdenken.

Die Einleitung spielen die vier Solisten dieser Aufnahme fahl und verwunschen, sie kehrt nach Vorstellung zweier leichtfüßiger Themen überraschend wieder. Man muss das so musizieren können: Eben noch der mit fröhlichen Menschen prallvolle Tanzsaal – da zieht die Musik plötzlich eine dick gepolsterte Kabinetttür hinter sich zu, man ist in der Wiederholung der langsamen Einleitung im Dunkeln zu zweit allein mit ein paar verlorenen Oktaven, vielleicht mit sich selbst. Ist aber wohl nicht das Ding. Also schnell die Tür wieder auf und weiter geht’s! Der Wechsel, ein Lieblingskind der Romantik, der noch heile Schumann war mit ihm per Du.

In den Variationen des dritten, langsamen Satzes treten die Instrumente solistisch hervor. Jean-Guihen Quéras, von Isabelle Fausts Geige zuckersüß vorbereitet, singt die Melodie des Themas baritonal auf dem Cello. Zusammen mit der, unauffällig polyphone Farben mischenden, Bratsche Antoine Tamestits und mit den konzertierend perlenden Figurationen des Hammerflügels Sascha Melnikovs ergibt sich in diesen buchstäblich kantablen Andante-Variationen eine aufs zuendegehende 19. Jahrhundert vorausweisende, bis zu mostschäumende, süßweinölige Walzerseligkeit. Allein der Beginn: wie sparsam und kuschelig sich das Allerweltsthema da per Portamento und voll ausgereiztem Rubato-Zögern in die Welt schmust, eine romantischer kaum denkbare Parodie  der Romantik -– wie anders als nicht selten genug in den Aufnahmen mit der unförmigen Schmeichlei romantischen Kitsches.

Der Finalsatz hat einen tiefsitzenden, in immer neu aufbrechenden Fugati und Imitationen alles durchdringenden Kontrapunkt-Infekt. Er führt in eine stabile, wunderbar leichte Lebensfreude halb als Rondo getanzt, halb als Sonatensatz gedacht und geschwelgt. Es gibt viele gute Aufnahmen dieses Stücks. In dieser Aufnahme wird die Lebenslust des gerade noch nicht späten Schumanns ungekünstelt herzhaft beim Ton genommen. Schumanns geradezu berstendes Gutdraufsein am Ende seines an romantischem Überschwang, an kompositorischem Schalk und begnadeter Besoffenheit wahrlich nicht armen Klavierquartetts wird als wie dergestalt beschrieben wahrscheinlich erst hörbar, wenn gespielt von Musikern solcher Güte.

v.l. Isabelle Faust, Alexander Melnikov, Antoine Tamestit, Jean-Guihen Quéras

Das folgende Klavierquintett mit der kleineren Opuszahl 44 ist spürbar in derselben Zeit komponiert, hinzu tritt die zweite Geige Anne Katharina Schreibers, eine der mehreren Perlen unter den Konzertmeisterinnen des Freiburger Barockorchesters. Das Quintett ist von Schumanns beiden Prachtwerken für drei und vier Streicher mit Klavier das maximal berühmtere und das – nicht ganz zurecht – auch beliebtere. Es ist das instrumental kraftvoller aufgestellte und erinnert vielleicht in seinen von orchestraler Pracht begleiteten Klavierläufen hier und da diese oder jenen an Schumanns a-Moll-Klavierkonzert. Ganz exzeptionell der Trauermarsch, die opernhaft bis ins schauerlich Dramatische reichende, fast filmische Verwandlungskunst eines unscheinbaren, zweimal auftaktigen Trauermotivs. Es behauptet sich spielend gegen andere berühmte Lösungen der Trauer etwa in den langsamen Sätzen der Eroica oder der h-Moll Sonate Chopins. Den rhythmisch gedehnten B-Teil kann man wohl kaum seelendiesiger, kaum erratischer spielen als auf dieser Aufnahme. Im Agitato des C-Teils bekommt das verwandelte Trauermotiv plötzlich eine Art rhythmischen Schluckauf – megaschwer zu spielen, denn „zusammen“ – was soll das hier wohl genau heißen? Die fünf Ausnahmemusiker bewältigen das Problem nicht nur mit Spielfreude und Witz, sie sind für ein nicht ständig zusammenspielendes Ensemble erstaunlich vertraut miteinander. Sie feiern Party im Scherzo (mit dem herrlich verrückten zweiten Trio) und im Finalsatz des Klavierquintetts mit Fuge und Volksschwof am Ende, sie können auch derb und deftig, auf Höchstniveau. Eine Referenzaufnahme? Sowieso. Voll eine Lieblingsaufnahme. junge welt, 2024

Schumann: Klavierquartett Es-Dur op. 47, Klavierquintett Es-Dur op. 44 – Isabelle Faust, Anne Katharina Schreiber, Antoine Tamestit, Jean-Guihen Quéras (Harmonia Mundi France).

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Jean Rondeau:Mozart Fantasie d KV 397

Die Macht der Gewohnheit macht auch vor der Musik nicht Halt. So kann es einem passieren, dass man jemand die Aufnahme der Fantasie d-Moll KV 397, gespielt vom Franzosen Jean Rondeau (lange Haare, voller Bart), wärmstens ans Herz legt. Man trifft auf Interesse. Anderntags ein File dieser Aufnahme hinterhergeschickt, wird sie mit viel Wohlwollen empfangen. Wieder allein, der Gedanke: diese Aufnahme hat für Nichtfachleute den Fehler, sie wird weder, wie in der allerdings schrumpfenden Vielzahl aller Aufnahmen, auf einem modernen Konzertflügel, noch, immer öfter, auf einem Hammerflügel gespielt – Jean Rondeau spielt sie auf einem Cembalo.

Weiterentags bestätigt ein E-Gespräch die Vermutung. Mein Gegenüber kannte die Fantasie, er mochte sie, er konnte Klavierspielen. Diese Version aber, gehört, ordnete er zurückhaltend unter „außergewöhnlich“ ein, sie erschien ihm geradezu „gewöhnungsbedürftig“. Natürlich: der Cembaloklang. Mozart, wäre dazu zu sagen, ist mit diesem Klang in den Ohren, mit solchen Ebenholztasten unter den Fingern aufgewachsen. Er hatte nicht Schumann im Ohr und im Herzen, als er die d-Moll Fantasie komponierte, er kam aus der rückwärtigen Geschichte, aus dem Barock. Der Klang des Flügels zur Schumannzeit wäre seinen Ohren so fremd gewesen, wie 2024 dem Ohr 4.0 der Klang eines Cembalo aus dem Jahrhundert vor den Instrumenten mit nicht mehr gezupften, sondern behämmerten Saiten.

In Mozarts Herz wimmelte es zur Zeit der Niederschrift der d-Moll Fantasie – wahrscheinlich 1782 – besonders im Anfang von den durchbrochenen Akkorden Sebastian Bachs, später mehr noch von den Musikverläufen und vom Geist der modernen Fantasie ihres Erfinders, des zweitältesten Bachsohns Carl Philipp Emanuel. Die vielen jähen Umschläge der Stimmung und wie sie gestaltet sind – schroff, überraschend – sind eigenster Mozart, auch natürlich das zag liebe Thema nach der Einleitung.

Kam hinzu: mein Medienpartner zählte zu den vielen Opfern einer wundersamen Dialektik des technischen Fortschritts. Die Anlage, auf der er KV 397 hörte, taugte nicht viel. Man hört nun aber die große Besonderheit des Klangs wirklich alter Instrumente – sie wurden für die unmittelbare Wahrnehmung gemacht – desto besser und oft erst überhaupt, je technisch elaborierter die benutzte Anlage ist. Auf einer minderen Anlage überhört man nicht allein das metallene Zirpen, der von mechanisch veranlassten Haken gezupften Saiten. Anders, als auf dem modernen Konzertflügel, auf dem alle vier Register in einem wunderbar ausgeglichenen Klangraum ertönen – nur freilich in einem einzigen –, hat auf dem Cembalo oder einem Hammerflügel jedes Register seinen eignen Raum und seinen charakteristischen Klang. Der Ton kommt überaus klar ans Ohr, es vermag die Töne voneinander zu trennen. Ihr Ineinanderklingen, ihr Verklingen geschieht auf natürliche Weise, es gibt ja weder Pedal noch die Möglichkeit von Leise und Laut (Pianoforte), die Struktur des Satzes tritt eingängiger und schärfer als gewohnt hervor. Weiters sind die Akkorde nicht wie auf dem modernen Instrument als Ganzheit zu hören, sondern in den Einzeltönen, die das Ohr sich zusammenhört (wie in der Malerei ein grüner Farbton gelegentlich erst bei näherem Hinsehen als aus vielen blauen und gelben Tönen gemacht erkennbar wird).

Jean Rondeaus Kunst besteht darin, solche Vorzüge zu nutzen, sie spürbar zu machen. Darum ist er in der aktuellen Klassikwelt so interessant und erfolgreich. Er wirkt authentisch. Ohne irgend Guru zu sein, ist er, was selten geworden, glaubwürdig auch in der Art, wie er sein Repertoire spielt. Man kann ihm allzu große Freiheiten im Umgang mit dem zu Mozarts Zeit viel sparsamer eingesetzten Rubato, im Umgang mit den Verzierungen vorwerfen. Mozarts Fantasie d-Moll ist ein sehr – Wort und Bewusstsein davon gab es damals noch nicht – „individualistisches“ Stück. Rondeau spielt es individualistisch, er spielt es im Idiom der beiden Bachs, im Sinn der nichts ausschließenden Seinserfülltheit Mozarts und auch im Zeitgefühl – so mag man es hören – der Ängste und Sehnsüchte seiner modernen Zuhörerschaft. Eine aus solchen Gründen von vielen guten Aufnahmen bemerkenswerte.

Mozart: Fantasie d-Moll KV 397 – Jean Rondeau, Cembalo (Erato/Warner Classics)

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Unerschütterlich – Bruckner 3 (1.). Roth.

Zur neuen Aufnahme von Bruckners 3. Sinfonie (1. Fassung) d-Moll mit dem Kölner Gürzenich Orchester und Francoix-Xavier Roth stellt sich spontan die Frage: die wievielte Aufnahme in einer schier endlosen Reihe ist das? Anton Bruckners Dritte, 1873 komponiert, hatte von allen schweren Geburten dieses schwerstseltsamen katholischen Junggesellen die allerschwerste. Sie war, schon in der 2. Fassung 1877, bei ihrer Uraufführung, Bruckners größter Misserfolg. Keine andere wurde vom Urheber so oft geändert, so herrlicher Seiten beraubt. Keine andere, so meint man mit der neuen Aufnahme aus Köln zu verstehen, hat diese Kürzungen (von 2056 Takten auf 1644) so wenig vertragen wie die Dritte. Hätte Anton Bruckner sich selbst doch mehr vertraut als dem lieben Gott und allen möglichen Leuten, er hätte die erste Version, nennen wir sie: seine Version in Form und Länge belassen, unerschütterlich, so, wie sie der Franzose Xavier Roth dirigiert.

1. Satz Gemäßigt. Misterioso

Unerschütterlich vor allem hinsichtlich der Zeit, das ist in der Musik zugleich ihr Raum. Bei Roth dauert allein der erste Satz 23 Minuten. Das wirkt nur deshalb nicht als zu groß und zu lang, weil es durch Generalpausen, die in dieser Aufnahme besonders tief atmen, in Blöcke unterteilt ist; die Architektur wird erkennbar. Aus Sicht des Komponisten ist es nicht nur der völlig bedenkenlose Verbrauch an Notenpapier, es „ist der völlig unbekümmerte Umgang mit dem Faktor Zeit“ (Klaus Schweizer), in dem Bruckner in der Dritten schwelgt.

Das lässt an einen schreibenden Landsmann des Österreichers Bruckner denken: Auch Adalbert Stifter – neunzehn Jahre älter als der, lebte er noch, heuer seinem 200. Geburtstag entgegensehende Komponist – lässt auf seine Weise die Zeit verschwinden. Beide landschaften gern. Nach eigenem Bekunden war es dabei Stifters Bestreben, „das Große im Kleinen“ zu erfassen, da geht Bruckner andere Wege. Er liebt die rhythmisch großräumig unterhaltsamen Steigerungen ins Große und Größere; auch das Liebliche, das zärtlich Kleine kommt nicht zu kurz, nicht die Idylle und nicht die Gaudi, die Trauer des Volkes inmitten vieler Land- und Leidenschaften.

Nun nimmt sich aber Xavier Roth – wie jederzeit Stifter – alle Zeit, den Finger auf das Kleine in den Noten, auf jedes Linden- und Birkenblatt, jede Christrose, auf jedes Bächlein, jeden Granitblock der Partitur Bruckners zu legen. Blicke in Bruckners Karten. Roth trennt den Klang der Hörner vom Klang hegemonialer Trompeten, er macht die ganze Farbenbracht der Akkorde Bruckners – mit ihren vielen „unpassend“ neuen Tönen –; macht das Rollenwechselspiel der Streicher und der ungemein präsenten Blechbläser des Gürzenich Orchesters hörbar und spürbar.

Der im Zenit stehende Richard Wagner, dem die Dritte gewidmet ist, erkannte die Qualität dieser Sinfonie auf einen flüchtigen, gönnerhaften Blick; ihm bietet ehrfürchtig Bruckner in seiner Erstfassung in den folgenden Fassungen gestrichene Wagnerzitate dar. 

Auch der Beginn von Beethovens Neunter in gleicher Tonart wie Bruckners Dritte pianissimo, seine gebrochenen Akkorde, seine Orchester-Dramaturgie klingen an, ohne populär erkennbar zu sein. Xavier Roth konzentriert sich auf Bruckner, der an Wagner spät aber eruptiv eine Freiheit gewann, die er ganz in seiner, in Bruckners Art zu nutzen wusste: die Höhepunkte etwa seiner Tutti, so mag man Roth hören, sind nicht zur Überwältigung bestimmt. Sie dringen als sorgfältig und liebevoll und voller Musikspaß Gearbeitetes in Ohr und Kopf, erst dann ins Herz. So macht es Laune, unterm Harnisch der Blechbläser des Gürzenich Orchesters die Triolen oder – im Adagio – die Sechsachtelketten der Lebensfreude in den Streichern glitzern zu hören oder die „filigrane Polka“ (Volker Hagedorn) im Finale wahrzunehmen, die unter einem „fiktiven Choral“ dahintanzt, und es macht Spaß, wenn sich dieselbe Musik im Adagio und anderswo als zwei Halbe wahlweise sechs Achtel zählen lässt.

Es zahlt sich aus, sich Zeit zu lassen für alles was gut werden soll. Da wären wir wieder bei Adalbert Stifter. Und wären freilich auch utopisch weit von der Gegenwart weg. Im Anschluss an sie täte das angenehme gelegentliche Aufgehen im Ablauf der Zeit wahrscheinlich jederzeit allen recht gut.

Bruckner: Sinfonie Nr. 3 d-Moll (1. Fassung) – Gürzenich Orchester Köln / Francoix-Xavier Roth (myrios classics).

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Liszt.Orchestermusik.Lauschangriff 4 / 05 (FREITAG)

In dieser Kolumne war schon die Rede davon: Es macht Sinn und Spaß, sich das Verstehen klassischer Musik durch den Vergleich mit anderen Kunstgattungen zu erleichtern. Eine Annäherung etwa an die Musik Arnold Schönbergs mag durch einen Blick auf die ersten abbildfreien Arbeiten Wassilij Kandinskys inspiriert werden. Und die Bilder Picassos werden, analog bis in die verschiedenen “Perioden” beider Künstler und ohne dass sich beider Weltanschauung damit auch nur entfernt ähnlich wären, vielleicht plausibler beim Hören der Musik Strawinskys.

Ausgesprochen angenehm und zugleich erhellend für ein plastisch plausibles Verständnis von Musik ist auch das Assoziationsfeld Kochen und Essgenuss. Der alte Franz Liszt, ein Freund und Kenner guten Lebens, hielt sich diesbezüglich auch in der Musik ans Gesunde. Bei Gelegenheit eines Alterswerks, seiner letzten sinfonischen Dichtung Von der Wiege bis zur Bahre, gefiel es ihm, von seiner “wachsenden Apathie gegen polyphone Fettsucht” zu sprechen. Die Ecksätze des Stücks sind mit Geigen, Bratschen, Flöten und “Harfe ad libitum” entsprechend fettarm besetzt; Liszts unkonventionell in die Moderne vorstoßende Harmonik und seine Melodische Konzentration entfalten stärkste Wirkungen.

Franz Liszt war zu Lebzeiten berühmt vor allem als Komponist und Interpret weithin überhitzter Musik fürs Soloklavier. Erst durch den Klangkörper, den er als Weimarer Hofkapellmeister ab 1848 für zwölf Jahre zur Verfügung hatte, beschäftigte er sich mit Orchestermusik. Allerdings, so wie seine Klavierkompositionen für Ohren des dritten Jahrtausends immer unter einer gewissen klanglichen Überladenheit leiden, sie waren nicht zuletzt Surplus von spieltechnisch Atem beraubenden Ungeheuerlichkeiten, erschien einer mehr fürs Sachlich-Klare begeisterten Moderne auch Liszts Sinfonik orchestral übergewichtig bis adipos, sie war überfrachtet mit Pathos und einer im 20. Jahrhundert bereits altmodischen Literarisierung und Bebilderung von Musik.

Dass dies freilich nur zum Teil an Liszt liegt und schon garnicht am seine Mittel immer sparsamer einsetzenden alternden und alten Liszt, zeigt sich jetzt anlässlich einer neuen CD des belgischen Dirigenten und Pianisten Jos van Immerseel .

Dessen Anima Eterna Orchester musiziert Stücke wie Liszts Totentanz, eine Art sinfonischer Folge von Klaviervariationen über das Dies irae der katholischen Totenmesse auf einem Èrard-Hammerflügel der Lisztzeit, auf mit Darm bespannten Geigen, begleitet von historisch mensurierten Holz- und Blechblasinstrumenten. Das somit entstehende, ungewohnt durchsichtige Klangbild bringt die Hörenden auf den Gedanken, es könnte wohl nicht allein die Satztechnik Liszts gewesen sein, welche diese Musik für zeigenössische Ohren so schwer verdaulich macht. Dafür verantwortlich eher das im Großteil des 20. Jahrhunderts dominierende, kompakt streicherdominierte Klangdesign des bürgerlichen Sinfonieorchesters, ein groß dimensionierter Einheitsbrei, vergleichbar der Küche jener Zeiten, die es liebte, den, wenn in seinen Einzelteilen wahrnehmbar, köstlichen Zusammenklang der Gewürze und Zutaten eines Gerichts in dicken, brachial pikanten Sahnesaucen zu ersäufen.

So hört man bei Immerseel noch in abgenudelten Wunschkonzertnummern wie den Ungarischen Rhapsodien nie geahnte Details; der vitale Volkston dieser Klavierkompositionen bleibt auch im fürs große Orchester gesetzten Großauftritt bildmächtig, glaubhaft und griffig. Beim Hören von Immerseels Lesart der Sinfonischen Dichtungen drängt sich der Umstand geradezu auf, dass Liszt befreundet war mit Größen wie Hector Berlioz, vertraut mit seiner Art zu komponieren; Berlioz dirigierte oft und umjubelt in Weimar. Wer bei Liszt auch an die Musik Richard Wagners denkt, des anderthalb Jahre jüngeren Schwiegersohns Liszts, sollte indes eher davon ausgehen, dass der Schwiegersohn sich offensichtlich mehr beim Schwiegervater bediente als umgekehrt.

Selbst durch als Soundtrack hitlerfaschistischer Siegesmeldungen im zweiten Weltkrieg misshandelte Werke wie Les Préludeserwachen mit der spröden Farbkraft und Plastizität der alten Instrumente zu einem neuen und wohlverdienten zweiten Leben.

Liszt war noch nicht tot, da hatte man ihn vergessen. Meister wie Busoni oder Bartok betonten seine von Wagner zu Unrecht hegemonial usurpierte Bedeutung für die Entwicklung der Moderne vorerst umsonst. Immerseels CD ist ein weiterer Beitrag zur allfälligen Korrektur der Musikgeschichte an diesem Punkt. Der Freitag, Juni 2005

Liszt: Totentanz, Ungarische Rhapsodie Nr. 1, Les Préludes, Ungarische Rhapsodie Nr. 3, Von der Wiege bis zur Bahre, Mazeppa – Rian de Waal, Anima Eterna Orchestra, Jos van Immerseel (Zig-Zag-Territoires / Note 1)

Ein weiterer Text aus meiner Lauschangriff-Kolumne in der von Günther Gauß herausgegebenen Wochenzeitung Freitag (das Blatt wurde 2008 verkauft).

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