„Unsere Gesellschaft lässt ein wichtiges Erbe mehr und mehr fallen: die Musik Johann Sebastian Bachs.“ Richtig. Aber wer klagt da im großen Namen Bachs „unsere Gesellschaft“ so schwerwiegender kultureller Versäumnisse an? Nochmal richtig, die FAZ, das Familienblatt der Klavierstunden zahlenden Höheretöchterväter.
Immerhin kommt auf den Seiten des gehobenen Leitproduzenten deutscher Meinung klassische Musik noch zu Wort. Man kann das nur begrüßen im Fall der Neuaufnahme aller Bach-Kantaten des ersten Leipziger Jahrgangs (1723-24) aus den Händen und Mündern der Gaechinger Cantorey und ihres Cantors Hans-Christoph Rademann. Man muss wissen, Rademann wurde in einem Staat geboren und ausgebildet, der sich in den Augen der an der Spitze der FAZ bestimmenden Herren zum Unrechtsstaat machte, indem er unter anderem die Bachpflege zu rendite-ignoranten Eintrittspreisen bis in hinterste Thüringerwaldwinkel vorantrieb. Ein Musiker wie Hans Christoph-Rademann hat vermutlich ab ovo intus, worum es beim Erbe Johann Sebastian Bachs und bei der Pflege dieses Erbes geht.
Vielleicht Zufall, dass das Volume 1 der Edition im ersten Werk des Jahrgangs gerade mit der zweiteiligen (für vor und nach der Predigt) Kantate BWV 75 „Die Elenden sollen essen, damit sie satt werden“ beginnt. Musiker wie Rademann musizieren so etwas, als liege im Titel dieser Kantate die Essenz eines Humanismus, den die bürgerliche Bachpflege allzu schnell hinter einer bombastischen Religiosität Bachs verschwinden lässt. Es mag an Rademanns struktureller Uneitelkeit als Dirigent liegen, dass bei ihm alles Bemerkenswerte an der Musik Bachs, seine – stets auf Höhe des Inhalts, diesen erhellend – ins hörende Bewusstsein dringende Form einleuchtet, Inhalt und Ausgangspunkt: Bachs tiefe Empathie fürs Schicksal der Menschen, die Kenntnis der vielerlei Grenzen, die ihnen gesetzt sind.
Rademann lässt erklingen und aufblühen, was Bach alles mitbrachte an Ingredenzien für seine Kantaten, als er im Mai 1723 aus dem Dienerdasein an feudalen Höfen in die demokratisch regierte Handelsmetropole und Universitätsstadt Leipzig einzog: bunt gemischt Concertos, Motetten, Choräle, Da capo Arien im italienischen Stil, meist solistisch begleitet von geblasenem Blech oder Holz, von der hohen, ventillosen Bachtrompete oder der damals neuen Oboe (da caccia und d‘amore). Solistische wie begleitende Instrumente spielen so textverständlich und klangschön wie die Gesangssolisten und der Chor singen. Wenn sich für den Bachstil der Gaechinger Cantorey das Attribut „unaufgeregt“ aufdrängt, wäre das nicht die höfliche Umschreibung für „eher langweilig“. Es greift in Rademanns Idee von dieser „Music“ (Bach) eine kunstvoll frohe Dialektik von Zurücknahme und Intensität, dialektisch die Steigerung des einen durchs andere, der dynamische Kontrast.
Anders als sonst oft bei den Contra-Altisten führt sich die Altstimme Alex Potters ganz unexotisch und mit barockfarbenwolkig jungmännerhaften Colloraturen als charakteristisch natürliche Klangfarbe auf; auch die anderen drei Register sind mit Sängern besetzt, die ihre Brillanz unter viel Substanz verstecken. Die zweite CD der Box beginnt als Chorbekenntnis erwachender bürgerlicher Subjektivität mit einem abgesetzten dreifachen „Ich“, Fortsetzung: „ich hatte viel Bekümmernis“. In einem zu Herzen gehenden Dialog zwischen der leidenden Seele, selbstredend ein Weib (Miriam Feuersingers mädchenhaft direkter Sopran) und ihrem einfühlenden Spitzentherapeuten Dr. Jesus (Benedikt Kristjánsson) entwickelt sich – „Ach, Jesu, meine Ruh“ – der tiefchromatische Eindruck von einer der Grundlagen bürgerlichen Wesens und Unwesens: der Depression (Goethe hat sie unüberbietbar psychopoetisch am Ende des „Faust“ in der Szene von dessen Erblindung aufgeschrieben). „Bäche von gesalznen Zähren“ mögen sich da auch über die Seelen der Hörenden ergießen; die Kantate BWV 21 – sie geht gut aus! – übt eine gewisse therapeutische Wirkung auch auf die Gemeinde trostbedürftiger Ohren aus.
Man kann Rademanns Fähigkeit, komplizierte musikalische Zusammenhänge verständlich zu verbalisieren, auf YouTube bewundern. Man findet sie – dankbarer Sinne und frischen Kopfs – in den Neuaufnahmen der ersten Lieferung dieses Kantatenjahrgangs auf musikalisch hohem Niveau wieder. junge Welt, Mai 2024
J. S. Bach: Das erste Kantatenjahr, Vol. I, BWV 75, 76, 21.3, 185, 2, 24 – Natasha Schnur/ Miriam Feuersinger /Alex Potter / Patrick Grahl / Benedikt Kristjánsson / Tobias Bernd / Matthias Winckhler / Gaechinger Cantorey / Hans Christoph Rademann (hänssler Classics)