Winter 2021

Der Winter hat was. Ich mein‘, der Sommer auch und der Frühling und nicht zu vergessen der Herbst. Im Altertum hatten sie für die Jahreszeiten ja sogar eigene Gottheiten. Für den Frühling zuständig war Flora, die Göttin der Blumen und Blüten. Im Sommer tätig war Zephir, die Göttin der westlichen Winde usw. Nur für den Winter ist in der klassisch antiken Götterwelt nichts zu finden, wahrscheinlich zu warm am Mittelmeer. Aber im Norden! Da ging Skadi um, die Göttin der Jagd und des Winters. Ging um herum um die Ostsee und an den Küsten des Nordatlantik in den nordischen Wintern. Von dort aus schreibe ich. Ich mein‘, natürlich, der Winter ist auserzählt. Es gibt die herrlichsten Kunstwerke, die sich dem Winter widmen. Aber man hat seinen Ehrgeiz. Es ist alles gesagt. Gut. Jetzt nur noch meins.

Also der Winter – nur so viel: Wie er aussieht, wissen spätestens seit Breughels bekanntem Bild von den Bauern im Schnee recht viele. Wie er sich anfühlt, wie er riecht, was er mit der Seele macht, wissen schon weniger im Sinn von: haben schon weniger Menschen aus den verschiedensten Gründen in Erfahrung gebracht. Und einige unter ihnen haben diese Erfahrung eben in ewigkeitlichen Gedichten, Romanen, Sinfonien, Filmen und Bildern überliefert.

Aber der Winter kommt jedes Jahr neu. Und wenn es ein richtiger Winter mit Frost und trocknem Schnee ist, merken wir über die Jahre, wir werden älter, unser Verhältnis zum Winter wandelt sich, es wird auch älter.

Der Winter der Kindheit mit seinen Rodelschlitten, zugefrornen Seen zum Schlittschuhlaufen, den Bratäpfeln und Blicken hinauf in erleuchtete Weihnachtszimmer, wie er uns winterrätselhaft im Zauberwort „Rosebud“ entgegenschimmert in Orson Welles‘ Filmklassiker „Citizen Cane“ – verblasst, wenn auch bei vielen nur langsam, er hat sich von selbst entzaubert.

Gestern hatte ich einen Moment Winter, der neu für mich war. Ich saß im Freien auf einem Stuhl. Um mich Schnee. Vor mir in frostbleicher Luft: dunkles Eichengeäst, schneegehöht vorm dunstigen Grau der Weite eines sich seit Mittag hinziehenden Abends. Morgens hatten irgendwo ein Paar verstreute Meisen gezirpt, in der Luft eine Krähe, die sich mit einer Möve kabbelte. Jetzt kein Laut. Dorthin wo wir auf dem Land wohnen, dringen ohnehin nicht viele Geräusche. Aber jetzt legte sich der Winter in die Stille und machte sie noch weicher und tiefer. Ich sah mich um. Nichts rührte sich. Nicht nur Stille – –   Stillstand. Das war es. Ich war zunächst versucht, das BWL-Wort Stagnation zu benutzen, wie es die Wirtschaft schätzt, die einen Horror vor Stillstand hat. In der Stagnation ist immer noch viel Bewegung, eigentlich so viel wie immer, es gibt einen Stau, ein endlos aufgeschobener Stillstand voller Stress, Verdruss und Langeweile. Der Stillstand aber, den ich vor mir und geradezu in der eiskalten Nase habe, ist einer von Natur aus.

Es ist wie Atmen. Ein ewiger Kreislauf. Im Winter atmet das, was wir Natur nennen, aus. Können wir Menschen aus welchen Gründen auch immer nicht unbewusst ausatmen, kommen wir in Atemnot. Das freie Atmen hat seinen Stillstand – genau genommen natürlich zwei, aber der andere Stillstand, der Höhepunkt am Ende des Einatmens, ist erst nächstes Mal dran. Also Stillstand. Ruhepunkt. Gelassenheit. Versammlung und ruhend unbewusste Anspannung für den nächsten Atemzug. Ein ganz natürlicher Vorgang, kaum der Rede wert.

Nun war ich gestern in der Stadt. Das hastige Getöse, die Geschwindigkeit, die Gleichgültigkeit der Menschen, von der ich nicht einmal weiß, ob sie echt oder nur ein Schutz ist gegen Getöse, Hast und Geschwindigkeit. All das erschien mir wie die Allegorie aufs Wesen des Systems, in dem wir leben. Für dieses System bedeutet Stillstand Bankrott, Herzinfarkt, das absolute Ende.

Aber wir brauchen den Stillstand einer unbeirrbaren Natur, den Ruhepunkt, das Ausruhen und Besinnen aufs Vergangene und das, was kommt, es gehört zu unserem Kreislauf, wenn unser Leben ein gutes sein soll. Und ja Mensch!, das wäre sie doch, die Gesellschaft, von der wir träumen: Nachdem die Produktionsverhältnisse entsprechend geregelt sind, wird diese Gesellschaft mit ihren Produktivkräften eines Tages, im Einklang mit der Natur innerhalb und außerhalb der Menschen, so gut klarkommen, dass wir uns Stillstand problemlos leisten können. Bis dahin wissen alle längst, wie unverzichtbar lebenswichtig Stillstand ist. Sie reden schon gar nicht mehr drüber. Sie halten einfach, wenn es sein muss, inne. Dauert allerdings noch. Junge Welt, Februar 2021

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