Es passte an diesem Tag irgendwie alles. Die Enttäuschung darüber, vom Ende her gesehen, passte, dass am Hamburger Treffpunkt unweit des Hauptbahnhofs eine viel kleinere Anzahl Menschen stand als erhofft, dann waren es immerhin drei Busse – aber aus einer Millionenstadt drei Busse für den Frieden?
Angelangt in der Hauptstadt hatten wir uns darauf verständigt: alles über 10000 wäre ein Erfolg. In der prachtvollen Magistrale, die durch den Tiergarten aufs Brandenburger Tor zuführt, standen die Menschen – wir kamen in ihrem Rücken dazu – nach vorne hin immer dichter. Vorbei an zwei sowjetischen T 34 zur Kundgebung. Ein Fahnenmeer und miesestes Wetter. Schnee und Regen schienen niemand die Freude darüber zu verderben, dass „wir“ mindestens 3 x 10000 waren. Wir wussten alle, dass sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegen Waffenlieferungen und eine Verlängerung des Krieges ausgesprochen hat, die alte Friedensbewegung, deren Veteranen heute wieder dabei sind, zeitigt lange Wirkung. Aber wo befand sich diese Mehrheit von 56 Prozent jetzt, wo waren wir abgeblieben in dieser schrecklich zugerichteten Sorte Öffentlichkeit?
In Berlin an diesem regnerisch-windigen Nachmittag kamen wir zu uns. Wir sahen uns. In unserer Menge sahen wir uns und in unseren vielen, auf verschiedene Weise altgewordenen Gesichtern. Wir spürten: wir sind da. Und es sind natürlich viel mehr als wir: viele haben es an diesem Samstag nur noch nicht geschafft, sich auf den Weg zu machen. Dafür, was in den letzten Monaten an Propaganda-Unflat auf uns niedergegangen ist – vom Totgeschwiegenwerden und unseren Ängsten, bedroht zu sein, nicht weiter zu reden –, sind wir unfassbar viele. Die Polizei hilflos untätig. Keine Schreihälse. Keine Quertreiber. Ich sah einfach nur aufgeklärte, gut informierte, in langen politischen Erfahrungen besonnen gewordene Menschen unaufgeregt mittun bei einer großen Angelegenheit.
„Friedensmeute“ haben sie uns in der Süddeutschen Zeitung genannt. Was treibt solche Leute? Mit dem Drang nach Geld oder mit Ehrgeiz könnte man die Niedertracht erklären. Aber woher der Hass? Es muss solchen Leuten im Bereich Mitmenschlichkeit irgendwann die Lieferkette weggebrochen sein. Sie sind Täter und Opfer zugleich, sie verdienen kein Mitleid.
Es passte auch, dass die Veranstalter am Anfang eine Musik spielten, die ich zwar gut fand, altersbedingt aber nicht kannte, klar, wir bräuchten noch etwas mehr Leute, denen sie geläufig ist. Den musikalischen Schluss hatte sich jemand ausgedacht, die oder der Sinn fürs Runde hat. Einer der Klassiker der universalen Friedensbewegung, gedichtet und gesungen von einem ihrer vielen Märtyrer: John Lennons „Imagine“. Zwar sind auch die Hassprediger und Kriegshetzer nicht allein auf der Welt. Global gesehen sind sie ein Häufchen Elend. Und wir, als Träumer verspottet und befragt nach unseren Motiven, können künftig wieder durchatmend antworten: Anders als Kriege haben Friedensträume ein Programm „for all the people“; Träume stärken das Herz, sie organisieren die Hoffnung derer, die mit John Lennon wissen: We’re not the the only ones. junge Welt, März 2023