Strawinsky.Viol’konzert.Kammermusik.Faust.Les Siècle.Roth.

Wer kennt Strawinsky nicht. Wer hat nicht wenigstens den Namen schon mal gehört. Ein Künstler voller Widersprüche. 1882 im zaristischen Russland geboren, dort aufgewachsen. In Frankreich 1910 auf einen Schlag berühmt geworden. Wechselnd zwischen Russland, Frankreich, später auch der Schweiz, verbrachte er viel Zeit in Paris, seit 1920 dauerhaft, bis er 1940 vor den Nazi-Truppen in die USA floh. Er starb dort 1971.

Keiner seiner vielen Kollegen in der damaligen Avantgarde war so geradezu populär in der Welt der elaborierten Musik wie Igor Strawinsky. Niemand war zugleich in der Fachwelt so umstritten. Theodor W. Adorno spitzte die Sache zu, ihm ging es um Polarisierung: Arnold Schönberg (=der Künstler) gegen Igor Strawinsky (=der Scharlatan). Große Teile des Publikums haben mit Strawinsky indes eher das Problem: Seine Musik erreicht das Herz nicht oder sie erreicht oft für nur kurz das Herz jener, welche sich Zeit zum Hinhören nehmen. Sie klingt „trocken, kühl, durchsichtig und prickelnd wie Champagner extra-dry“, so der Meister selbst in seinen Erinnerungen.

François-Xavier Roth. Photo by Mark Allan

Francois-Xavier Roth, er wird der internationalen Musiköffentlichkeit im Frühjahr 2023 mehr und mehr als einer der bedeutenden Dirigenten der Gegenwart kenntlich, ist als Gürzenich-Kapellmeister mit klassisch-romantischer Musik bekannt geworden. Auf einer neuen CD macht er sich, zusammen mit der Geigerin Isabelle Faust und seinem, auf alten Instrumenten arbeitenden Orchester Les Siècle, an die klassische Moderne: Strawinskys Violinkonzert sowie andere, gezielt der Geige gewidmete Kammermusiken.

Die ersten beiden Sätze des Violinkonzerts beginnen denn auch mit dem gleichen orchestralen Aufschrei, gefolgt von drei aufstampfenden Bekräftigungen, dann geht echt die Post ab. Mit Brecht, dessen Frage allerdings auf die Macht zielte, die angeblich verfassungsgemäß „vom Volke“ ausgeht, wäre mit Strawinsky zu fragen: wohin geht sie aber, die Post? Wer Antwort auf diese Frage weiß, hat Strawinsky begriffen, die Ohren für seine Musik gehen ihr auf.

Um es kurz zu machen: sie geht, die Post der strawinskyschen Musik, in Richtung Ballett ab, von dort kommt sie. Von der Bewegung in der vom Rhythmus skandierten Zeit. Sie bewegt sich in ihr in einmal schleppenden, einmal rasenden Schrittfolgen, in Pirouetten, Gesten, Sprüngen, Pausen und erneuten Drehungen. Die rhythmische Energie ist ihr Inhalt und Ausgangpunkt, ihre DNA auch in den meisten solcher Werke Strawinskys, die nicht, wie eine Vielzahl anderer, ausdrücklich als „Ballett“ deklariert sind. Kein Wunder also, dass der polyglotte Russe im Wirkungsfeld des ingeniösen russischen Impresarios Sergej Djagilew (1872-1923) stand, als Strawinsky durch dessen, im Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts sensationelle „Ballets russes“ berühmt wurde. Undenkbar das Ganze auch ohne den legendären, in Kiew geborenen Tänzer und Choreographen Vaslav Nijinski sowie ohne bildende Künstler vom Schlage Pablo Picassos, Henry Matisse‘, Max Ernsts.

Dass es Strawinsky erklärtermaßen nicht um Dinge wie das Abbilden und Hervorrufen von Gefühlen ging, sondern – so eines seiner Lieblingsworte – um „Konstruktion“, also um strenge Form, hat ihm den Ruf eines, bei Linken nicht beliebten, Formalismus eingetragen. Bewirkt vielleicht durch eine gewisse Aufführungstradition, kann diese Musik akademisch wirken. Wenn auch elegant und gut gemacht, klingt sie oft ausgedacht und kühl, eben nicht nur extra-dry sondern auch on the rocks.

Das progressiv Moderne an ihr bleibt die Bewegung. Sie kommt in Strawinskys Musik zu sich selbst, wird zu dem, was früher der „Gehalt“ war. Über die ihr als Tanz eingeschriebenen, von Strawinsky souverän beherrschten, Formen gerät sie nie „romantisch“ außer Kontrolle.  Isabelle Faust und Francois-Xavier Roth musizieren in der bis ins Letzte durchdachten Rage – für Momente auch Schwermut – dieser Musik der mittleren der drei Schaffensphasen Strawinskys die Kraft ihrer Ursprünge, sie liegen in der Volkskultur des alten Russland.

Selten hat man eine Meisterin des noch im Pianissimo intensiven Non vibrato wie Isabelle Faust derart kraftvoll vibrieren gehört wie in „diesem“ Strawinsky. Doppelgriffig zerhackt ihr Springbogen die Zeit, sie hat nicht nur ein großes Talent, sie hat auch, wenn die Musik es ihr zuschreibt, ein geradezu ansteckendes Temperament, sogar, im Sinn Strawinskys, schmalzige Portamenti hält sie vor. Roths Orchester lässt im ersten und letzten Satz an das von Strawinsky gemeinte „Prickeln“ denken. Das schäumt und perlt allerdings selten, Strawinskys Instrumentation ist für alles gut. Man hört eher die kristallklare Schärfe, mit der Champagnerperlen den Gaumen stechen; die Musik ist durchhörbar und klar strukturiert wie etwa jene Rieslinge aus Deutschland, die man heute „feinherb“ nennt; sie können spritzig sein, sie sind nicht billig.

Die jungen Genies der Musik, der Literatur, der bildenden Kunst, die da wie auf ein Kommando im Paris vor dem Beginn des 1. Weltkriegs zusammentrafen, erfüllte alle das Verlangen, der dicken Restsüße, von der die Kunst des vorausgegangenen Jahrhunderts am Ende schwer befallen war, die radikale Ordnung und Kühle des Intellekts entgegenzusetzen. Faust und Roth zeigen in der Neuerscheinung, dass Musiker wie Strawinsky dabei nicht den Spaß an der Musik verloren. Extra-dry und feinherb wirken beispielsweise auch die in derselben Zeit entstandenen Bilder der blauen Periode Picassos, auch sie malerisch höchst komplex und kraftvoll.

Ein anti-romantisches Konzept. Ihm wohnt die Kraft der Aufklärung inne. Djagilew hat dieses Konzept mit Blick auf die Kunst – gemeint auch deren auf Systemveränderung erpichte Abteilung –in der Losung formuliert: „Erstaune mich!“ Die Neuaufnahme mit Isabelle Faust und Xavier Roth kommt dem im schönsten Sinn nach.  

Strawinsky: Violinkonzert & Kammermusikwerke – Isabelle Faust / Les Siècle / Francois-Xavier Roth (Harmonia Mundi France)

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