Fantasie.Par Alexander Melnikov.

Tangentflügel von Christoph Friedrich Schmahl (1790), rest. von Georg Ott

„Fantasie“ nennt Alexander Melnikov seine neue CD, ein, wie es in der Popmusik heißt, Konzeptalbum – in zweierlei Hinsicht. Der in Berlin lebende Pianist aus Moskau widmet sich hier der musikalischen Gattung Fantasie; er macht anhand von sieben historischen Instrumenten aus seiner „Collection“ anschaulich, wie, analog zur Entwicklung der Musikgattung Fantasie – und diese zugleich beflügelnd – die Klavierbautechnologie heranwuchs. Die Wortschöpfung „Fantasie“ geistert seit dem 16. Jahrhundert durch die Musikgeschichte. Johann Sebastian Bach (1685-1750) hat sie auf den Begriff gebracht in Richtung einer Form, die später sein zweitältester Sohn Nachfolgern wie Mozart oder Schubert als „Fantasie“ hinterließ.

Der Vergleich von sieben Entwicklungsstadien sowohl des Zeitstils als auch des Instruments, in dem er sich verwirklichte: das Siebenerlei der Klangentwicklung wird anhand einer einzigen musikalischen Form demonstriert. Sie wandelt sich im 19. Jahrhundert bis zur Unkenntlichkeit. Bleibt sich aber in der Haltung des Spielers zu dem, was Musik in einem einzigen Moment sein und werden kann, durch alle Zeiten erkennbar ähnlich. 

Flügel von Érard (1885), rest. von Markus Fischinger

Eine Haltung, mit der sich in dem dreißigjährigen Bach in Köthen eine Wendung vollzog. Von der bloßen Demonstration, von der musikalisch distanzierten Schilderung ausgewählt aristokratischer Gefühlszustände im Barock wendet sich die Musik von da an der Innerlichkeit ihrer Erfinder zu. Aus den vielen, Bachs Fugen vorangestellten Präludien entwickelt sich in der berühmten »Chromatischen Fantasie und Fuge d-Moll« die Keimzelle der Fantasie. Kein Zufall, dass damit die Hinwendung von der gottesdröhnenden Orgel zum Privatklang eines »Claviers« einherging.

Was Bachs Genie der weltzugewandten, lebensfrohen köthener Atmosphäre verdankte, war – mit der Entdeckung spontaner Lebenslust nun auch im Komponieren – eine gewisse Distanz zu den altehrwürdigen Regeln des Satzes, der Periodenbildung, der Tonartendramaturgie. Es ist die Haltung des improvisierenden, des sich im Moment der Aufführung ungebunden aus der Fülle des Angebots an Motiven, Imitationen, Variationen, an schier endlos modulierenden Arpeggien-Perlenschlangen bedienenden Musikers – unvorstellbar, dass so etwas von den, sich auf dem Podium als Einheit von Komponist und Interpret zeigenden Tonsetzern aus dem Gedächtnis nachnotiert wurde.

Alexander Melnikov, ein nicht erst seit Februar 2022 putinphober NATO-Kritiker, bewegt sich auch in der Musikgeschichte als Freigeist. Er gilt nicht als „Spezialist“. Vielleicht, weil er sich beim Spielen von Bach bis Schnittke so ideomatisch ausdrückt, als sei er einer. Er spielt auf der neuen CD, zum ersten Mal in seiner langen Diskografie, auch ein von der Klaviertastenhaptik weit entferntes Cembalo, seine Finger arbeiten auf den Tasten eines mozartschen Hammerflügels (Anton Walter), für Mendelssohn-Bartholdi wählt er einen Alois Graff, einen Érard für Chopin, den Busoni spielt er auf Bechstein, den Schnittke auf einem modernen Steinway. Der rote Faden, der Bezugspunkt, bleibt bis zum Steinway – Schnittke bedient gekonnt die Unique Playing Points (UPP) dieser Marke – der alte Bach.

Eine Enzyklopädie des Klangs per Tasten gespielter Saiteninstrumente, ein kleines Organon musikalischer Aura und eine kurze Formgeschichte der Fantasie in der Musik, alles dargereicht auf dem Silbertablett mit kühl-sensibler Leidenschaft inszenierter Musik, eine ausgemachte Geistes-und Ohrenschwelgerei. junge Welt, Mai 2023

Fantasie: Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Wolfgang Amadé Mozart, Felix Mendelssohn-Bartholdi, Frederic Chopin, Ferrucio Busoni, Alfred Schnittke (Harmonia Mundi France/spotify, apple music et al.)

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