Bachs „Johannespassion“ vergleichen mit Händels „Messiah“? Geht eigentlich gar nicht. Beides Sakralmusik, die Formen „Passion“ und „Oratorium“ gleichwohl wesensfern. Aber anlässlich zweier Neuaufnahmen dieser Meilensteine des Spätbarock ihre Schöpfer Bach und Händel in einigen Aspekten nebeneinander zu stellen – das könnte gehen.
Beide wurden, der eine in Eisenach, der andere in Halle, 1685 hineingeboren ins selbe Milieu mitteldeutscher Stadtbürgerschaft, beide, frühausgebildet im Geist derselben Musiktradition, waren am Ende europäische Großmeister ihrer Zeit. Beim Hören aber springt jäh die Verschiedenheit ins Ohr, in der jeder von ihnen etwa den für beide geltenden Superlativ „universell“ ausfüllt. Die besondere Leistung beider Dirigenten – des Sachsen Hans-Christoph Rademann mit Bachs „Johannespassion“, des Katalanen Jordi Savall mit Händels „Messiah“ – besteht dabei in der klaren Herausarbeitung von genaugenommen zwei differenten Universalitäten, sie ergeben sich aus den weltanschaulich-geistigen Haltungen Bachs und Händels.
Beider Universalität speist sich neben den heimischen aus vielen Quellen europäischer Musik. Bach, der es, was den geographischen Radius angeht, in seinem Leben gerade mal bis nach Lübeck und ins preußische Berlin brachte, eignete sich, was er übers Heimische hinaus zur Universalität brauchte, aus fremden Partituren vieler Länder an. Händel aus dem musikalischen Leben vor Ort. Denn anders als sein Eisenacher Landsmann schaffte er nach hoffnungsvollem Beginn im protestantisch-patrizischen Hamburg und anschließend knapp vier erfolgreichen Jahren im katholisch-lebensfrohen Italien noch in jungen Jahren den Absprung – hinweg über Kanal und absolute Monarchie mitten hinein in eine prosperierende, konstitutionell abgesicherte, vom Katholizismus separierte vormoderne Marktwirtschaft. Mit entsprechenden Folgen.
Die im unruhig schweifenden Eingangschor der „Johannispassion“ in Hans-Christoph Rademanns Neuaufnahme erklingende Musik macht kein Hehl draus, dass sie bei allem Herzklopfen das Werk eines überlegenen Geists ist. Wo der ans emotiv Dramatische rührt wie am Anfang der „Johannespassion“, entsteht eine Ahnung von mystischem Espressivo. Rademann hält es kühl in Grenzen. Ihm gelingt durchgehend eine transparent genaue, lebendige Darstellung des einmal aufregend dicht organisierten, einmal schlicht zu Herzen gehenden musikalischen Geschehens. Die große Satzkunst drängt sich bei Bach nicht auf. Rademann belässt es dabei. Er lässt sie unbemerkt eingehen in den Sinn der Worte und die Sinnfälligkeit des harmonischen Ablaufs.
Ganz anders Händel in Jordi Savalls Neuaufnahme des „Messiah“. Schon die breit ausgehaltenen punktierten Akkorde des feierlich einleitenden Grave zeigen her, was sie draufhaben: Valeurs! Und der im schnellen Teil aufblitzende Kontrapunkt hält nicht hinterm Berg mit der Botschaft: Ich kann’s, also hört zu!“ Weder Eitelkeit steckt dahinter, noch Prahlerei. Nur das sichre Gefühl für den Markt. Bei Bach wartet eins bis zur siebten Nummer, bis endlich eine Solo-Arie ertönt, mit „Von den Stricken meiner Sünden“ dann allerdings eine ganz großartige. Bei Händel dagegen gleich nach der Sinfonie-Ouvertüre das Accompagnato „Comfort me“, in orchestralem Ocker Opernflair, gefolgt von einer hymnischen Tenorarie mit himmelhochscherzender Streicherbegleitung.
George Frederic Händel pondering where his wig might have gone
Wer einfach feststellte: Händel ist Oper und Bach alles andere, hätte sicher nicht unrecht. Dabei ist auch Bachs „Johannespassion“, speziell in den Turba-Chören und vielen Arien dramatisch, lyrisch, poetisch, in Momenten auch opernhaft – nur eben in einer Geistigkeit, die ihre Art Unschuld im Sinn deskleistschen „Marionettentheater“zwar durch Erdumrundung und Rückkehr ins Paradies durch die Hintertür schließlich auch erreicht, zugleich aber den Schatten respektive Glanz des Geistigen am Ende nicht ganz los wird. Und auch Händel hat außer Opern natürlich jede Menge wunderbarer Orchesterwerke, Konzerte, Kammer- und Klaviermusik geschrieben, auch er komponiert geistvoll. Im „Messiah“ liegt der Geist, außer in Händels komponierendem Ausnahmekopf, im Kern seiner Philosophie, die da gelautet haben könnte: der Sinn des Lebens ist das Leben. Händel steht mit jedem seiner kraftvoll empfundenen Töne mit beiden Beinen auf der Erde. Bach mit beiden Beinen – nicht minder fest – im Himmel tief eingeatmeter geistiger Freiheit.
In Savalls Neuaufnahme des „Messiah“ pulsiert Diesseitigkeit, die Freude an Pracht und Vielfalt des Klangs, am schnellen Wechsel von heiter kontrapunktischer Spannung und bassfundiertem Jubel, feierlicher Hingabe, Tanz im Dreiertakt und gut geerdeter Anbetung. Zugleich musiziert der Katalane wie getragen von Händels Dialektik aus Überschwang und souveräner Beherrschung der Mittel zu seiner Darstellung.
In der deutschen Musikwissenschaft und Musikpraxis besteht, ausgenommen Enklaven wie Göttingen oder Halle, Händel gegenüber traditionell eine gewisse Zurückhaltung, seltsam. Es sieht aus, als tendiere ein nicht geringer Teil der hiesigen Fachwelt dazu, Komponisten wie Händel, die mit ihrer Musik zwar fachlich unumstritten, zugleich aber schon zu Lebzeiten beim Publikum sehr beliebt sind und viel Geld verdienten, allein darum für weniger bedeutend zu halten. Eine merkwürdige Art Seriosität.
Beide empfohlenen Aufnahmen erzählen auf hohem Niveau davon, wie Spiritualität und Geistigkeit die Sinne so gut zu begeistern vermögen – und wie herzhaft warme Lebensfreude selbst den analytisch formverliebten Blick verzaubern kann. Junge Welt, November 2020
J. S. Bach: Johannespassion BWV 245 – Elizabeth Watts, Benno Schachtner, Patrick Grahl, Matthias Winckhler, Peter Harvey, Gaechinger Cantorey; Hans-Christoph Rademann (Carus Verlag)
Händel: Messiah – Rachel Redmond, Damien Guillon, Nicholas Mulroy, Matthias Winckler, La Capella Reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall (Harmonia Mundi France)
Ein glücklicher Gedanke, Peter Gülke in seiner Heimatstadt Weimar zu besuchen. Unser Thema: das Revolutionäre bei Beethoven. Die Terrassentür steht offen. Das Wohnzimmer, es liegt nach Norden, kühl und schattig an zwei brütend heißen Morgen des Corona-Sommer 2020. Auf dem Tischchen zwischen uns ein starker Kaffee, Kekse, Wasser. In meiner Rechten das Mikro. Der bewegliche ältere Herr, Thüringisch im Klang, im offenen Hemd, hellwach und einfach freundlich. Rechts hinter Glas in zwei schönen Chippendale-Schränken Klassiker-Ausgaben.
„Diese neue Art von Bewusstheit, die mit ihm in die Musik gekommen ist“, sagt er und erweitert den Gedanken sogleich um einen Widerspruch. „Beethoven hat ja auch Stücke geschrieben, wo man denkt, meine Güte, da ist ja der Schubert schon ganz nah. Der erste Satz der Mondscheinsonate etwa oder die Pastorale. Das sind Konzeptionen, wo man das Gefühl hat, dass Beethoven mit der gleichen Bewusstheit, mit der er bestimmte thematische Dialektiken definiert hat, sich auch fragte, ist da nicht zu viel Überbau?“
Es ist typisch für Peter Gülke, dass er ans Thema von Anfang an dialektisch herangeht. Nicht immer leicht, ihm zu folgen, allein der Versuch lohnt. Schon die Verwendung des Begriffs „revolutionär“ bei Beethoven wirft Fragen auf. „Natürlich gibt es Aspekte, wo das Revolutionäre bei Beethoven der Fall ist“, Gülke hat es in einem Aufsatz über die 5. Sinfonie fast Takt für Takt und bis in Beethovens Skizzenbücher hinein nachgewiesen. „Der inflationäre Missbrauch des Begriffs hängt mit der Annahme zusammen, das Modernere müsse immer auch das Bessere sein – und das ist völliger Quatsch“. Er zitiert Leopold von Ranke. Jede Epoche, stellte der fest, und Gülke ergänzt: vielleicht eben auch musikalische Werke, sei „unmittelbar zu Gott“, für Gülke meint das, „es hat seine eigene Konsistenz unabhängig von seiner Stellung innerhalb einer Entwicklungslinie“.
Diese aber, mitsamt der Eigenheit aller in ihr versammelten Kompositionen, ist Teil auch historischer Zusammenhänge: „Hinter der 5. Sinfonie steht auch die große Enttäuschung über Napoleon. Beethoven fühlt sich verpflichtet, in seiner Kunst festzuhalten, was dieser oder überhaupt, was die allgemeine Entwicklung veruntreut hat. Im Grunde wird da immer noch historische Zuversicht gerettet, die im Begriff steht, widerlegt zu werden. Wie viele progressive Geister waren erst einmal begeistert von der französischen Revolution, aber spätestens nach der Enthauptung Ludwigs XVI. fingen sie an, den Kopf zu wiegen. In der Musik, einer Kunst, in der man viel schwerer als in der Literatur etwas Bestimmtes definieren und einklagen kann, fühlte sich Beethoven in der Lage und gefordert, das von vielen Seiten bedrohte Moment der Hoffnung aufrechtzuerhalten – auch das hat zu seinem Sendungsbewusstsein beigetragen.“
Beethovens 5. Sinfonie als das Beispiel für eine in der Geschichte der Musik erstmals und zugleich unübertroffen auftretende revolutionäre Dynamik veranlasst Gülke zugleich auch, biografisch zu relativieren. „In der Fünften“, merkt er an, „sind die revolutionären Momente und der Zusammenhang mit der französischen Revolutionsmusik mit Händen zu greifen. Die Form entwickelt sich, indem Beethoven erkennt, der große Éclat triomphal, um den es ihm geht, kann nicht plötzlich kommen, Beethoven muss den Weg dorthin komponieren, muss die Leute hinführen. Aber dann schreibt, drei Jahre nach der Uraufführung, E. T. A. Hoffmann seine berühmte Rezension – da kann ich nur sagen: was für Zeiten, in denen solche Rezensionen geschrieben wurden! – und da ist von revolutionären Momenten nicht mit einem Wort die Rede. Es ist eher, prononciert ausgedrückt, eine Magna Charta romantischer Musikästhetik. Beethoven hat Hoffmanns Text gelesen und einer seiner Freunde berichtete: Er war sehr angetan! Beethoven war eben nicht so sehr oberhalb von Allem, dass er sich nicht gefreut hat, wenn er gelobt wurde. Und wenn er, wie in diesem Fall, auf einem derart hohen Niveau gelobt wurde, dann war es ihm auch egal, dass der Aspekt des Revolutionären gar nicht erscheint“.
Ernst Theodor Hoffmann
Wer sich ernsthaft für klassische Musik interessiert, kennt den Sonatenhauptsatz, als das Ordnungsprinzip der großen zentraleuropäischen Musik des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Haydn hat es ausgearbeitet, Mozart ging so frei wie produktiv damit um. Beethovens Beitrag, so Gülke, stellt den Sonatenhauptsatz auch infrage, indem er dessen Möglichkeiten und Grenzen aufs Äußerste strapaziert. „Den Schematismus der Exposition von erstem Thema als erster Behauptung, dem zweitem Thema als einer gegenläufigen Behauptung, dann der Durchführung, in der die beiden miteinander ringen, um irgendwann friedlich in der gleichen Tonart in der Reprise wieder anmarschiert zu kommen – das ist nur das allersimpelste Schema einer Sonatenform“, resümiert er. „Oft sind bei Beethoven schon in der Exposition des ersten Themas Durchführungselemente enthalten, und es gibt Durchführungen, in denen passiert, was die Franzosen Imprélu nennen: es taucht etwas ganz Neues auf.“ Ein Beispiel: „In der Durchführung des ersten Satzes der Eroica, er steht in Es-Dur, erscheint plötzlich in e-Moll jenes am ehsten erinnerbare Thema, es kann nicht durchgeführt werden, erscheint wie eine Epiphanie. Damit aber will und kann Beethoven nichts anfangen, durchgeführt werden andere Dinge. Er unterwandert die Sonatenform.“
Deren Parallelisierbarkeit zu bestimmten, damals vieldiskutierten philosophischen Konzepten, liegt auf der Hand. Peter Gülke erinnert an eine zum dreiteiligen Sonatenhauptsatz-Konzept verdächtig gut passende Vorstellung von hegelscher Dialektik. Beethovens Umgang mit dem Sonatenhauptsatz erinnert im gegenläufig dynamischen Vorwärtsdrang methodisch tatsächlich an Hegel. „Ich glaube, der hat nie einen Satz von Hegel gelesen. Hätte er’s getan, er hätte ihn beiseitegelegt. Beethoven war viel eher ein Kantianer, der es nicht nötig hatte, die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ zu lesen. Einen Satz aus der ‚Metaphysik der Sitten‘ aber hatte er in eigener Handschrift auf seinem Schreibtisch.“
Die nicht selten als selbstverständlich vorausgesetzte Identität von Musik und Philosophie hält Gülke für ebenso interessant wie problematisch. „Die Annäherung musikalischer Formen an diskursive Logik bleibt eine Annäherung, ich kann in Musik nichts beweisen. Ich kann so tun. Die Formen einer Beweisführung kann ich musikalisch nachvollziehen, nicht aber die Beweisführung selbst.“
Auch in Beethovens eingangs im Zusammenhang mit Schubert erwähntem Gedanken eines Zuviel an Überbau in der Musik schwingt Skepsis gegenüber der Ineinssetzung von Musik und sprachlich-gedanklichen Inhalten mit. „Bei Schubert merkt man schon, da er am Anfang unbefangen in das große Erbe seiner Vorgänger eintritt, dass er jenem metamusikalischen Anspruch, der der Musik philosophische Qualitäten und Verfahrensweisen auferlegt, misstrauisch gegenübersteht. Deshalb bei ihm diese neue, man könnte sagen epische, der junge Adorno hat gesagt: ‚landschaftliche‘ Konzeption der Musik.“
Unter vielem, was bei Beethoven musikalisch „revolutionär“ eingelöst wird, streicht Gülke im Lebenslauf des Tonsetzers auch die Negativposten heraus. „So wie der Kongress dieser aristokratischen Schweinekerle“ – während des Wiener Kongresses heimst Beethoven mit der Schlachtensinfonie Wellingtons Siegbei Vitoria den größten Publikumserfolg seiner Karriere ein, der Fidelio erlebt bei gleicher Gelegenheit den endgültigen Durchbruch – „hat uns Nachgeborenen, so zynisch der Gedanke erscheinen mag, auch seine Taubheit einiges eingebracht. Beethoven hat unter ihr bitter gelitten. Auf der anderen Seite verhält es sich bei ihm wie beim antiken blinden Seher Teiresias. Wie dieser besser in die Zukunft blickt als mit stupiden Augen die Menschen, die am Vorausfühlen von der banalen Wirklichkeit behindert werden, konnte Beethoven zumindest oft sagen: ‚Ich höre!‘ – und mochte dabei, mit Hölderlin zu reden, das Privileg meinen, unter Gottes Gewittern mit entblößtem Haupt zu stehen‘ und eben durch dieses „Unglück“ begnadet zu sein. Man darf nicht vergessen: Das Heiligenstädter Testament, letztes Eingeständnis des beklagenswerten Zustands seines Gehörs, hat er 1802 geschrieben, ab 1818 konnte er ohne die Konversationshefte nicht mehr mit anderen Menschen reden – bis zu seinem Tod 25 Jahre Leben mehr oder minder ohne Gehör!“
Die Konversationshefte. Zusammen mit einem Stift hatte Beethoven sie wohl dabei, wenn er ausging und selbst mit dem Mund dicht am Ohr gestellte Fragen nicht mehr verstehen konnte; er musste sie, aufgeschrieben, lesen und beantworten. Vierhundert Hefte, vermutete der amerikanische Beethoven-Biograph Alexander Wheelock Thayer, seien es nach Beethovens Tod einmal gewesen, nur der kleinere Teil ist noch vorhanden; wegen vieler inbezug auf Gesellschaft und Politik drastisch kritischer Formulierungen hat der ängstliche Anton Schindler viele Hefte vernichtet. Dennoch – eine unschätzbare, wenn auch weitgehend einseitige Dokumentation der Gespräche, die Beethoven im letzten Teil seines Lebens führte. Peter Gülke hatte, noch zu DDR-Zeiten, Gelegenheit, in die Originale hineinzuschauen, Schindler, Laufbursche und Adlatus Beethovens in dessen letzten Jahren, hat später eine vielgelesene Biografie über Beethoven geschrieben: „Was sich von den Konversationsheften erhalten hat, lag in der Staatsbibliothek in Berlin in der DDR. Es muss 1952 gewesen sein, als die Anregung zur Publikation kam. Die Mitarbeiter der Bibliothek haben rasch entdeckt, dass Schindler, um sich in ein besseres Licht zu setzen, nach Beethovens Tod Fälschungen reingeschrieben hat.“
Die Folgen der Behinderung des Komponisten reichen für Gülke bis zum in Beethovens Musik vielfach aufscheinenden Humor. „Gut, er hat gerne Späße gemacht“, sagt er. „Aber das sind meist ziemlich derbe Späße, in seinen Briefen liest sich das alles erschütternd grobklotzig. Den zum Humor gehörigen feineren, ironisch gebrochenen Tonfall nimmt er nicht wahr. Das heißt, dieses wichtige Segment eines humorvollen Umgangsist ihm entzogen.“
Da Beethoven das „Schicksal“ als eine angeblich an Gottes statt waltende Macht über den Menschen nicht kannte, bleibt als Erklärung für den „Kampf gegen das Schicksal“, den die bürgerliche Welt mit Vorliebe auf die dezidiert politischen Werke der von ihr so genannten „heroischen Periode“ Beethovens anwendet, nur die Bewältigung seines harten persönlichen Loses. Einerlei. Peter Gülke hält es am Ende für ebenso problematisch wie unvermeidlich, musikalische Sachverhalte mit biografischen kurzzuschließen. Zum besseren Verständnis bestimmter kompositorischer Entscheidungen indes kann die Biografie sehr wohl hilfreich sein.
Neben dem Problem der Gehörlosigkeit steht dasjenige des Lebensstils. Für jemand, der höchst komplizierte musikalische Zusammenhänge genial organisieren konnte, verblüfft Beethovens Lebensführung. „Dieser Mann konnte keine Ordnung halten“, stellt Gülke fest. „Denken Sie dran, dass er oft in einem Schlamassel gelebt hat, dass eine nach der anderen Haushälterin rausgeschmissen wurde, dass er die Geselligkeit echter, gleichberechtigter Freunde kaum hatte. Diese hingegen war das große Glück Schuberts, der in allen anderen Belangen viel mieser dran war. Für Schubert kommt hinzu: Oft nur zwei Straßenecken weiter wohnt das Genie, der „Titan“. Jede Note, die der schreibt, ist musikalische Weltliteratur, und ich, der Schubert, kann ganze Sinfonien schreiben und kein Schwanz kümmert sich drum – eine schlimme Geschichte. Was den direkten Kontakt zur Mitwelt über einen engeren Kreis hinaus angeht, war Schubert viel besser dran als Beethoven.“
Während unseres langen Gesprächs über Beethoven schwirrt ihm immer wieder Schubert durch den Sinn. Peter Gülke hat seit 2013 eine Reihe öffentlicher Diskussionen mit dem Pianisten Alfred Brendel über Beethoven und Schubert geführt, daraus wurde zuletzt pandemiebedingt ein Briefwechsel; im November 2020 wird das Ganze als Buch herauskommen. Ihre Gespräche kreisten um Schuberts Verhältnis zum großen Vorgänger, um seinen Standort in der Wiener klassischen Konstellation und um Fragen der musikalischen Interpretation.
„Daran, dass die Musik, seitdem Beethoven komponiert hat, eine andere war, ist kein Zweifel, und das ist so deutlich sichtbar, weil zwei ganz Große unmittelbar vor ihm da waren, Mozart und Haydn und: weil sein in vielem begabtester Zeitgenosse Schubert – als Elementarbegabung vielleicht noch erstaunlicher? –zumindest gegen Ende seines Lebens, mehrmals eine eigene Konzeption gegen die beethovensche gesetzt hat.“ Um ein Beispiel gebeten, fällt Peter Gülke Schuberts späte C-Dur Sinfonie ein – „seine Antwort auf Beethovens Neunte“ –, dringender noch wird seine Stimme bei Erwähnung von Schuberts As-Dur Messe. „Ein nahezu irrsinniges Stück. Er hatte gehört, dass Beethoven an einer Festmesse in D-Dur für die Inthronisation des Erzherzogs Rudolph als Erzbischof von Olmütz sitzt – und komponiert eine Messe in As-Dur, eine Tonart, die so weit von D-Dur entfernt ist wie nur möglich, eine zudem gewagte Tonart, weil damals besonders die Orgeln noch mitteltönig gestimmt waren, der Organist oft nicht mithalten konnte. Außerdem schreibt Schubert aufs Titelblatt: Missa solemnis, den Titel der Messe seines Vorbilds. Dann hat er allerdings kalte Füße bekommen und es gestrichen. Schubert hat sich sicher in der Verehrung Beethovens von niemandem übertreffen lassen. Aber es war ein ambivalentes Verhältnis, es bewegte sich zwischen Anregung und Sich-Wehren.“
Die Frage, ob auch Schubert ein „Revolutionär“ war, drängt sich auf. In seiner Musik gibt es heroisch auftrumpfende Stellen nur für Momente. Kämpferischer Furor im Sinne Beethovens kaum je. Gülkes Antwort verweist auf einen vonseiten der Sorte Revolutionäre, wie wir sie zu kennen meinen, kaum beachteten Aspekt: die stille Revolution.
Schubert wurde neun Jahre nach dem großen Weltenbruch geboren. Sein Erwachsenenleben begann in der Zeit des Wiener Kongresses. Woher sollte er als Untertan des metternichschen Überwachungsterrors die historische Zuversicht nehmen, die seine Vorgänger beflügelte? Deren „Voran“ wird ihm zum „Hinüber“; metaphorisch gesprochen ist der über seiner Musik kreisende Vogel nicht mehr der Adler, sondern die Krähe. Und doch ist in seiner Musik zumindest jenes Morgen vernehmbar, das der gleichaltrige Heinrich Heine im „Wintermärchen“ als irdisches Himmelreich besang. Die Revolution – wenn wir das bei ihm Neue schon so nennen wollen – zieht sich bei Schubert ins Innen zurück, sie wird zu großer Musik.
„In dem Sinne, in dem wir das Wort auf Beethoven – mehr auf die Musik als den Mann – anwenden”, sagt Gülke, “war Schubert kein Revolutionär. Doch gibt es jene ‘stille Revolution’ in seiner Musik, jene Episierung, den Rückzug vom dialektisch-philosophischen Über-Ich, der der Musik einige Naivität des Nur-Musik-Sein-Wollens zurückerstattet. Das könnte man in einem wenig gebräuchlichen Sinn auch revolutionär nennen.“ Junge Welt, November 2020
Was für eine gute Idee! Seite elf rechts oben, täglich, ein Jahr ein Blatt des großen Zeichners und Dichters F. (wie Fritz) W. (wie Weigle) Bernstein. „Ein Jahr lang“, hatte ich gewohnheitsmäßig hingeschrieben, da merkte ich: Es war überhaupt nicht lang, das Jahr mit Bernstein. Es war täglich – außer an Sonn- und Feiertagen – ein ritueller Spaß, gleich mal, wenn die neue Ausgabe in Händen lag oder die online-Ausgabe im Netz war, auf Seite elf zu blättern oder zu scrollen und zu schauen: Was haben die Kollegen Alexander Reich und Peter Merg zusammen mit Bernsteins Witwe Sabine Weigle aus Bergen von Bernsteins Skizzenbüchern nicht das Beste, sondern aus nur Bestem um die dreihundert Beispiele aussuchte, uns denn heute wieder beschert?
Bernstein, der es mit seinem Spruch über die Elche bis in den Sprichwortschatz der Deutschen schaffte, war nie ein Mann der großen Auftritte. Dass aus seinem Kopf neben dem Kopf F. K. Wächters und Robert Gernhardts legendäre Erfindungen wie „Welt im Spiegel“, „Die Wahrheit über Arnold Hau“ oder „Die Blusen des Böhmen“ stammten, wissen nicht alle. Anders als viele andere künstlerische Einzelgänger war es ihm von Anfang an wichtig, seine Existenz – zeitberufslebens war er Lehrer und Professor – durch einen „richtigen Beruf“ abzusichern. Dadurch war er nie gezwungen, sich durch eine marktschreierisch betonte und individuelle Marke als Zeichner von der Konkurrenz abzusetzen. Das Spielerische, Leichthinnige, eine durch Zurückhaltung und Vielgestalt gesteigerte Wirkung, war Bernsteins Domäne. Er war der Leise unter den Großen und wer ihn erlebte, wusste: seine Bescheidenheit kam, fern jeder Pose, von tief innen.
Den die Junge Welt für ein Jahr begleitenden Blättern fehlt über alles bisher Bemerkte hinaus noch die oft lähmende Erwartung von Öffentlichkeit. Wir durften für ein Jahr Bernstein über die Schulter schauen beim ganz persönlichen, alltäglichen Training jenes für einen Zeichner elementaren Zusammenspiels von Auge und Hand, bei jener Freude am Sehen und künstlerischen Bewältigen dessen, was uns als Welt begegnet. Vielleicht gründet Bernsteins Sympathie für die sozialistische Idee, wie sie in der auf Seite 1 der Jungen Welt vom 22. 4. 2020 prangenden Gestalt Lenins („seine Durchlaucht“) strukturell zum Ausdruck kam, in seinem Misstrauen gegen Hierarchien. Gegenstand seiner zeichnerischen Aufmerksamkeit ist eine simple Kastanie, eine in der Küche abgestellte Plastik-Mülltüte (selbstironischer Titel: „der alte Sack“), eine keimende alte Kartoffel, ein in Bamberg beobachteter Haufen Sperrmüll. Es geht ihm dabei manchmal sehr streng und gekonnt ums genaue Erfassen, die „richtige“ Wiedergabe des Gegenstands, sie gelingt ihm, ohne und mit den unterschiedlichsten Arten von Schraffur, altmeisterlich; manchmal auch, wie beim Sperrmüll, hat er keine Zeit sich dem Vielen in der Kürze zu widmen: seine Abbreviaturen sind so elegant wie anschaulich, man erkennt die der Vergänglichkeit überantwortete Matratze, den rumpeligen Sessel, den ollen Fernseher von hinten, die Dialektik von Flüchtigkeit und Anschaulichkeit – ein großes Vergnügen. Auch kurz notierte Ideen für Cartoons finden sich, so in der prospektiven Rubrik „Kunst & Ironie“ als ein Beispiel das „Anpinkeln von Kulturträgern“.
Vieles, was andere in Riesenprachtschinken nicht erreichen, die ästhetisch reizvolle aber unsäglich schwierige Umsetzung des für den Zeichner unbegrenzten Raums in die im Fall eines Skizzenbuchs extrem begrenzte Zweidimensionalität der Linie und des planen Papiers – sind Bernstein einfach gegeben. Extrem reduziert der auf dem in den Raum führenden Gleis nach hinten verschwindende Güterzug. Auch dem Zwang zur Pointe schwört er ab, die Scherze ergeben sich oft wie zufällig, wie in „Queen Victoria und mein Radioschwein“. Ausgangspunkt ist meist das Training, der Witz kommt oder er bleibt weg, so entsteht ungekünstelte Leichtigkeit.
Er bedient sich des bei Ausflügen nach „draußen“ praktischen Filzstifts, des guten alten Füllfederhalters, der in Scriptol getauchten Stahlfeder oder schlicht des Blei- oder Fettstifts, er koloriert, wenn überhaupt sparsam mit Buntstiften. Immer ist die Linie dem Thema und der Haltung angemessen: Federleichte Strichelei und wie kichernde Verkürzung der Kontur bei den sich wie aus dem Nichts ergebenden Karikaturen (häufig Selbstbildnisse), mehr grabende Linien im Fall von Bildsatire.
Hinreißend seine Kunst des satirischen Porträtierens. Ein alterHorkheimer gerät ihm ins Niesen, der Bundespräsident mit der Ruckrede ist ein klotziger Machtmensch eines ausgestorbenen Typs der Herrschenden. Mein Favorit: Flaubert im perfekt unperfekt skizzierten Profil. Er sitzt, in radikal sparsamer Lineatur erfasst, in der Luft. Unter ihm am Boden sein Schatten. In der Hand des vor ihm ausgestreckten Arms etwas Rundes. Die Pointe ergibt sich wie so oft bei Bernstein und den anderen aus der Überschrift. Mit ihrer Art Humor revolutionierte die Kerntruppe der Neuen Frankfurter Schule in den 1960er Jahren den unsäglichen deutschen Witz der Kaiser- und Nazizeit. „Flaubert“, steht da, „fährt Motorrad / das gab’s aber noch nicht“.
Das Jahr mit Bernstein geht zu ende. Wir müssen abermals Abschied nehmen von diesem feinen und leisen, diesem auf seine Art so weisen Menschen, der mitgeholfen hat, das Komische in Deutschland nachhaltig zu vermenschlichen. Gut, dass es die vielen Bücher gibt, in denen er, selten Solo, aber immer ansehnlich, vertreten ist. Wenn es mal wieder ganz traurig aussieht – rausholen und trösten! Junge Welt, Oktober 2020
Sie sind in einem bürgerlich humanistischen Elternhaus aufgewachsen, Herr Gülke. 1934 geboren, sind Sie aus dem Hitlerstaat heraus in der Deutschen Demokratischen Republik aufgewachsen. Sie haben dort einen Namen als Musikwissenschaftler gehabt. Wer darüber mehr erfahren möchte, wird in Ihrem Buch „Mein Weimar“ reichhaltig Antwort finden. Widmen wir uns der im Staat DDR nicht ganz unkomplizierten Beziehung zwischen Kunst und Politik. Ihre Trennung von der DDR hatte allerdings andere Gründe…
Ich bin eines Tages aus diesem Staat weggegangen, weil ich in meiner Arbeit behindert wurde, weil wir unser Kind in dem Land nicht aufwachsen lassen wollten, und weil ich der „Obrigkeit“ dort nie verzeihe, was sie meiner Frau angetan hat.
Sie haben Ihre Frau 1956 in Westberlin kennengelernt. Sie ist mit zu Ihnen in die DDR gekommen. Mit der Mauer war sie von ihren Eltern und ihrer Schwester getrennt. Sie war Germanistin und Romanistin. Aber nicht einmal zu einer nur vor Ort möglichen Klärung von Übersetzungsfragen durfte sie ins Ausland. Das für Sie buchstäblich Unverzeihliche geschah, als Ihre Schwiegereltern in Westberlin im Sterben Abschied von ihrer Tochter nehmen wollten und der Staat DDR Ihre Frau nicht dorthin gelassen hat.
Das war entsetzlich. ich bin nicht der Einzige, meine Frau ist nicht die Einzige, der das passiert ist.
Sie sind 1983 „weggegangen“, das heißt, Sie haben seit 1945, als die DDR noch gar nicht existierte, mehrere Jahrzehnte im sozialistischen deutschen Staat gelebt. Als was?
Ich bin ungern gegangen, ich wollte, wie viele meiner Freunde, „Sand im Getriebe“ sein, von vielen wichtigen persönlichen Bindungen abgesehen. Aber ich hatte am Ende keine Wahl.
Das Land DDR sah sich jenseits seiner Westgrenze denselben Eliten gegenüber, die eben noch Europa in Schutt und Asche gelegt und vielen Millionen Menschen den Tod gebracht hatten. Auf der anderen Seite stand die Regierung der DDR vor einer Aufgabe, für die es historisch keine Vorbilder gab, nur lebensgefährliche Risiken.
Die Regierenden waren ja irgendwo auch ziemlich arme Schweine! Der Einfluss von Westdeutschland war groß, das ging beim Fernsehkonsum los. Im Übrigen mussten wir uns sagen: Guckt auf die Landkarte, dann wisst ihr, dass die DDR lange bestehen wird, sie ist als Glacis für die Sowjetunion unabdingbar. Dass es dann doch anders kam – um so besser.
Ich hätte mir gewünscht, die DDR hätte sich von innen heraus ohne Existenzverlust in einen Zustand gebracht, in dem Sie hätten leben mögen.
Das war nicht möglich. Es gab ja genug Leute – nicht die schlechtesten! -, die es versucht haben. Mir fällt Christa Wolf ein, ich kannte sie, als sie den Thomas-Mann-Preis bekam, habe ich die Laudatio gehalten. Es gab etliche wie sie, die versucht haben, den sogenannten „dritten Weg“ zu gehen, über den jetzt nur noch höhnisch gelächelt wird – eine Gemeinheit! Nicht zu vergessen allerdings, dass es keinen vergleichbaren Präzedenzfall gab. Und die meisten DDR-Bürger wollten es nicht anders, sie haben den Versprechungen der „blühenden Landschaften“ nur zu gern geglaubt. Und viele standen vor ebenso abrupten wie radikalen Umbrüchen ihrer Lebensumstände!
Und waren unter veränderten Vorzeichen so fremdbestimmt wie zuvor.
Die ersten Jahre waren ebenso von Hoffnungen beflügelt wie schwierig. Ich bin sofort, nachdem die Grenze gefallen war, nach Weimar gefahren, ich war damals in Wuppertal Generalmusikdirektor. Im Osten wollte man verständlicherweise so schnell wie möglich neue vollendete Tatsachen schaffen. Die verworrene Dynamik der Veränderungen machte alles sehr schwierig. Und im Westen hat sich ein leicht verächtlicher Ton im Reden über den Osten breit gemacht. Wie bezeichnend, dass die Zulage, welche alle erhielten, die im Zuge der Neuregelungen hierherkamen, „Buschzulage“ hieß. Das stieß auf Empfindlichkeiten bei denen, die teilweise viel durchgemacht hatten und sich nun in vielerlei Weise umstellen mussten – wen wundert’s?
Sie hatten Ihre Sicht der Dinge, Sie machten eigene Erfahrungen.
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Ich hatte eine wunderbare Sekretärin als ich in Weimar Generalmusikdirektor war, die beste, die ich je hatte (sie konnte, leise und unglaublich erfolgreich, mit Musikern umgehen, von denen manche sich einer geradezu ochsenhaften Simplizität befleißigt haben) und ich hatte ein großartiges Orchester. Wir waren – fast alle – eine fröhlich-freche Opposition. Nun kam ich nach mehr als sechs Jahren wieder nach Weimar, treffe meine Sekretärin wieder, und finde: „Liebe Frau Gentzsch, was ist denn hier los? Jetzt haben wir endlich die Offenheit und die Freiheit, nach denen wir uns so gesehnt haben – und ihr seid alle so gedrückt, wo ist denn das Klima hin, das wir hier mal hatten?“ Und sie antwortet: „Nu, gucken sie mal in die Chefetage bei uns, lauter Wessis, alles zweite Wahl“.
Da ist etwas verloren gegangen.
Ich habe vor langer Zeit auf einem Kongress in der Schweiz unter Protest gesagt: Was Gewissenhaftigkeit in der Auseinandersetzung mit den Werken angeht, war jedes mittlere Theater der DDR nahezu jedem prominenten Theater des Westens überlegen. Die arrogante Eigenmächtigkeit, mit der man meint, Stücke umpflügen zu müssen, gab es bei uns nicht. Zwar wollten die Funktionäre, dass wir die Stücke ideologisch irgendwie auf Vordermann bringen – aber das war ein echter Rohrkrepierer. Es kam etwas ganz anderes heraus. Wir haben die Stücke, um sie gegen die Vereinnahmung verteidigen zu können, zumeist sehr genau durchdacht. Die Dramaturgen saßen oft in den Proben, befanden sich im Gespräch mit Regisseuren und Darstellern.
Der Staat setzte auf Kontrolle und Überwachung, er hatte zumindest anfangs nicht viel Grund, zu vertrauen. Aber es gab nicht wenige Kommunisten, die auf Dauer die Unerlässlichkeit auch von Offenheit und Vertrauen sahen.
Tatsächlich gab’s auch die ehrlichen und gescheiten Kommunisten, mit denen man (vorsichtig, weil man sie gegen ihre Obrigkeit schützen musste) reden konnte. Im Übrigen hatten wir in der DDR große Theaterleute. Bei allen Schwierigkeiten, allem Taktieren, allen Kompromissen in einer diffusen Grauzone – es war wichtig, dass Leute wie Brecht, Felsenstein oder Besson in der DDR gearbeitet haben! Das wirkte auch in die kleineren Theater hinein.
Sie meinen damit die DDR-Kulturszene in der Breite, das Netz an Staatstheatern unterschiedlicher Größe, sozusagen den Unterbau für die Spitzenleistungen der DDR-Kultur, ein großes Beispiel auch die wahrhaft demokratische Breite und Tiefe, in der die Dresdner Kunstausstellungen wahrgenommen wurden.
Der Mann, der das in Dresden gemacht hat, Werner Schmidt, war der erste Präsident der nach der Wende neu gegründeten Sächsischen Akademie der Künste – ich war’s später auch mal. Als der erste Sekretär der Klasse Musik in der Akademie hatte ich mit Schmidt viel Kontakt. Er hatte vordem in der Tat viel riskiert. DerDogmatismus war, besonders wenn er von beflissenen mittleren Chargen betrieben wurde, auf Deutsch gesagt, oftmals zum Kotzen. Dass man nicht einmal Feininger öffentlich zur Kenntnis genommen sehen wollte, Klee sowieso nicht, Picasso vornehmlich wegen der Friedenstaube, mit den anderen Sachen jedoch möglichst auch nicht – mein Gott, welch blöde Borniertheit!
Es gab Entwicklungen.
Das erste Beethoven-Jubiläum 1952 stand noch ganz im Zeichen der leidigen Formalismus-Diskussion, Beethoven schien Marxens „Kapital“ vorwegnehmend schon unterm Rockzipfel getragen zu haben. Die Vorbereitungen zum Beethoven-Kongress 1970 waren schon offener, sehr gewissenhaft und kaum noch „scheuklappig“. Noch deutlicher die zum Kongress 1977. Wir konnten zumindest, als etwa nach den Ereignissen von 1956 jener Dogmatismus löcheriger wurde, taktieren – auf freilich durchsichtige Weise: Wir haben auf der einen Seite staatshörige Leute wie den Musikwissenschaftler Brockhaus bei Kongressen das Grundsatzreferat halten, den alten ideologischen Mist nochmal aufwärmen lassen, und da war auch der Ministerpräsident dabei. Irgendwann aber war der Brockhaus fertig, und danach haben wir „unsere“ Diskussionen geführt – nachzulesen in den Kongressberichten. Dennoch, welch seltsame Schizophrenie, die man rückblickend nur allzuleicht überflüssig findet!
Die Zuordnung des „wir“ von dem Sie oft reden, hängt offenbar nicht mit einer Antwort auf die Frage zusammen, ob die Betreffenden in der SED waren oder nicht.
„Wir“, das waren die meisten. Sie erkannten und verständigten sich als Opponenten jeweils schnell. Freilich gab es auch die „Mittelgruppe“ der gescheiten, auf sozialistische Grundideen verpflichteten, oft aufrechten Leute, die schnell in Gewissenskonflikte gerieten. Oppositionsnester gab es überall. Noch eine Geschichte. Im Jahr 1969 habe ich eine Chefposition in Potsdam geschmissen, man hatte mich dort politisch „fertig gemacht“. Drei Jahre war ich freiberuflich tätig. Ein Freiberufler in der DDR war fast ein Outlaw, auch materiell war es nicht leicht. Aber da gab es eine Redaktion bei Radio DDR Kultur – eines dieser Nester. Die Redakteure, teilweise frühere Kommilitonen von mir, hatten von meinen Problemen gehört und luden mich zu einer Serie von zwölf Sendungen mit Analysen von Beethoven-Werken ein – jede zwei Stunden lang (so etwas gab es damals noch!). Sie wurden auch gesendet, fanden Anklang und sollten gedruckt werden. Das jedoch wurde verboten. So etwas, auch die Inkonsequenz, war nicht untypisch.
Später haben Sie dann wieder eine Stelle bekommen?
An der Ostseeküste, abseits vom „zentralen“ Geschehen.
Immerhin nicht in Sibirien.
Nein, so schlimm nicht. Ich wurde Chefdirigent in Stralsund und habe dort vier recht glückliche Jahre gehabt.
Aber dann ereilte Sie das Dissidentenschicksal doch.
Auf dem Beethoven-Kongress 1977 hielt Harry Goldschmidt das Hauptreferat und hat umfassend über den Forschungsstand informiert. Ich kam auch vor, ich hatte ja etliche Aufsätze über Beethoven veröffentlicht. „Dann haben wir auch noch den Herrn Gülke“, sagte Goldschmidt, „der Beethoven mit adornischem Skalpell zerlegt.“
Ein zweischneidiges Lob.
Zweischneidig? Es war fast die Verbannung, nur: Wohin? Zur Dialektik der Ideologie in der DDR gehörte, dass Leute, die in ihrer Grundeinstellung von der verordneten Ideologie nicht ganz weit weg waren– Adorno etwa war ja ein zwar übervorsichtiger, aber doch ein „Linker“ – in den Augen der Partei gefährlicher waren, als die offenenGegner. Die SED hatte zu Franz Josef Strauß, nicht nur wegen des Milliardenkredits, ein fast zärtliches Verhältnis, mit etlichen Oberkirchenräten kam sie bestens aus, das ging. Aber mit Ernst Bloch ging es nicht, mit Hans Mayer auch nicht – und Adorno, das war das rote Tuch. Neben mir saß, als Goldschmidt redete, mein Kollege Günter Mayer, er murmelte nur: „Tut mir leid Peter, das ist nicht weit von Fangschuss“. Hinterher haben mir etliche Kollegen ironisch kondoliert.
Standen Sie allein?
Unter denen, die mir zu helfen versuchten, möchte ich den bekennenden Marxisten Georg Knepler hervorheben. Er war mit Goldschmidt gut befreundet und hat – erfolglos – rührend zu vermitteln versucht. Er bestätigte mir später, dass es „ein Paar dunkle Punkte“ in meiner Akte gäbe. Die habe ich mir nie angeschaut.
Für Sie ging die Sache weit übers Persönliche hinaus.
Selbstverständlich. Unter totalitären Verhältnissen galt nahezu als oberste Anstandsregel, dass man bei persönlichen, jedenfalls nicht politischen Konflikten nicht den Rücken an der Wand der Staatsmacht sucht.
Sie haben sich, außer dass sie nicht der SED angehörten, nichts zuschulden kommen lassen, sie waren loyal. Warum hatten sie all diese Probleme?
Was heißt unter solchen Umständen loyal? Die Oberen jedenfalls fanden mich nicht loyal – und hatten recht. Nun gut, ich habe musikwissenschaftlich gearbeitet, habe geschrieben, viel in der DDR veröffentlicht und an etlichen Theatern und in Konzertsälen als Dirigent „gedient“. Schon an meiner Diktion haben sie gemerkt: Staatstreu ist der nicht! Klar, ich war unter anderen durch liberale Marxisten wie Ernst Bloch geprägt – vielleicht nicht ganz so schlecht!
Es muss etwas gegeben haben, das Sie, etwas pathetisch gesagt, lange getragen hat in der DDR, etwas, dessen irgendwann zu erwartende Einlösung Sie für möglich hielten?
Ich bin nun wahrlich keiner, der Ossi-Vorurteile hegt, indes – hier spielt, wenn man’s ex posteriori sieht, eine wichtige Rolle, was der Westen nur zu gern ignoriert: In den ersten Jahren der DDR hat es einen erstaunlichen Idealismus, ein – gewiss naives – Pathos des Neuanfangens gegeben. Warum sind fast alle bedeutenden Remigranten zunächst in die DDR gekommen? Mir fallen nur zwei Namen Prominenter ein, die nach Westdeutschland gingen – Adorno und Horkheimer. Thomas Mann ist in die Schweiz gegangen, eben nicht zurück nach München. In der DDR hingegen hatten wir Remigranten zuhauf, Anna Seghers, Andersen-Nexö, Brecht, Kantorowicz, Bloch, Arnold Zweig, Hans Mayer et cetera. Umso schlimmer die spätere Enttäuschung oder, wenn sie schon alt waren, die Resignation oder die abermalige Emigration – Kantorowicz, Bloch, Mayer.
Was hat Sie, auch als sich im Lauf der 1970er Jahre die Hoffnungen auf die existenznotwendige Erneuerung des Realsozialismus zerschlugen, so lange an die DDR gebunden?
Die Frage klingt, als hätten wir die Wahl gehabt: „gebunden“ oder nicht gebunden! Darüber hinaus jedoch – in erster Linie: Hoffnung. Die schießt umso höher auf, desto miserabler die Verhältnisse sind. In zweiter Linie: Mit der Familie zusammen kam man ja nicht weg, der Staat behielt bei Reisen ins „kapitalistische Ausland“ die nächsten Familienangehörigen als Geiseln. Normal „weggehen“ – das gab es also nicht. Oder es war eben mit zuweilen schlimmen Repressionen verbunden und man hatte das Risiko in Kauf zu nehmen, nicht zu wissen, wann die Angehörigen würden nachkommen können. Mein Gott, wie weit ist das schon weg! Es war das beherrschende „Existenzial“ des DDR-Normalbürgers.
Für Sie als Musikwissenschaftler und Musiker gab es noch etwas?
Es gab als Erbe der Arbeiterbildungsbewegung aus den Zeiten August Bebels in der DDR einen großen Respekt vor kulturellen Dingen. Über Weimar zum Beispiel wölbte sich so etwas wie eine Käseglocke. Da gab es zwar Helmut Holzhauer, Generaldirektor der Nationalen Gedenkstätten, einen Polit-Dogmatiker. Immerhin hat er bestimmte Leute kaum nach ihrer politischen Einstellung gefragt, wenn sie gut arbeiteten. In Weimar sind etliche beachtliche Ausgaben von Klassikern entstanden. Jenen gnadenlosen Pragmatismus, mit dem man heute Orchester verkleinert oder abschafft, rasch und einseitig mit ökonomischen Begründungen bei der Hand ist – „also weg damit!“ – gab‘s in der DDR nicht, daher die erstaunliche Theater- und Orchesterdichte. Gewiss war das Niveau sehr unterschiedlich. Trotzdem – ich habe in meiner Rudolstädter Zeit „Tosca“, „Jenufa“, „Carmen“, auch Mozarts Da Ponte-Opern teilweise in Gasthäusern auf dem Thüringer Wald aufgeführt. Wir sind überall hingefahren, wo wir spielen konnten, die Leute haben’s im eigenen Ort erlebt. Dass ich das heute nicht mehr gern hören würde, ist eine andere Frage.
Aber Sie erzählen es gern?
Ich hatte fünf Anfangsjahre in Rudolstadt, das war nun wirklich eine „Klitsche“. Aber wir konnten uns zum Beispiel bei Anmeldungen für den Extrachor kaum retten. In den Tälern des Thüringer Waldes, wird – vielleicht wurde? – viel gesungen. Wir haben anspruchsvolle Chorstücke nur dank der Zusammenarbeit mit Laienchören machen können, und diese waren wiederum eine sichere Publikumsreserve. „Jenufa“ zum Beispiel ist nun wirklich keine Oper, die auf dem Thüringer Wald populär ist. Aber die Bude war voll. Ich würde es heute nicht mehr machen…
Wegen des Niveaus?
Auch, aber vor Allem, weil heute die Leute nicht mehr da sind respektive anderes zu tun wichtiger finden. Junge Welt, Oktober 2020
Über Musik zu schreiben, speziell über Gesang, ist mindestens so schwierig wie über den Wein. Es ist, hat ein kluger Kopf einmal gesagt, fast so unmöglich, wie zu Architektur zu tanzen.
Man kann sich ans Objektive halten, an die Gesangstechnik, das Volumen der Stimme, an ihre natürliche Tönung, die Genauigkeit der Intonation; beim Wein an die Struktur, an Säure, Zucker, Aromen, Alter, den Grad der Komplexität – fast alle dieser Kriterien sind bei Beschreibung beider Sphären wechselseitig verwendbar.
Sie reichen aber nicht aus. Alle Angaben über die studierte und die naturgegebene Eigenart der Stimme können den wirklichen Eindruck, den etwa die neue CD mit Mozart-Arien der Schweizer Sopranistin Regula Mühlemann im Ohr hinterlässt, so wenig wiedergeben, wie die präzisesten Auskünfte über Inhaltsstoffe, Terroir und Kellerphilosophie schlussendlich etwas zu sagen vermögen darüber, was ein großer Moselriesling, sagen wir von Heymann-Löwenstein, am Gaumen und in der Seele anrichtet.
Was fehlt? Natürlich das Gefühl. Die Frage lautet: Erreicht, was da im Glas wie in der Kehle an Raffinesse und Können aufgeboten wird, unsere Empfindungen? Die Wahrnehmung der technisch-materiellen Seiten einer kulturellen Leistung kann gelernt werden, es gibt Studiengänge für Musikredakteure, für Somelliers et cetera. Der der Sache gewiss nicht abträgliche, im Zweifel schlechte Geschmack wird dem Bürgerkind im Elternhaus ohnehin mit auf den Lebensweg gegeben.
Das heißt, die Mehrheit dieser vielen eigenartigen Subjekte, die da einen Riesling von Heymann-Löwenstein oder eben die Leistung der Sopranistin Regula Mühlemann aus Adligenswil begutachten, kann eine auf Schiefer gewachsene große Lage von einer auf Kalk, Mergel und Löss erzogenen so gut unterscheiden, wie sie die Stimme Regula Mühlemanns von den Stimmen, sagen wir Christine Schäfers oder der Callas zu unterscheiden vermögen. Sie nehmen sich in den meisten Fällen sogar die Freiheit, sich eine Meinung zu bilden, am Ende eine Präferenz, die verfechten sie. Denn Geschmack zu haben heißt üblicherweise, eine Position zu vertreten.
Nur eben – alles subjektiv, alles Gefühlssache. Und für Gefühle gibt es dem Himmel sei Dank noch keine Akademien. Die „Schule der Liebenden“, so der Untertitel von Mozarts Oper Cosi fan tutte, bleibt das Leben. Insoweit sei die These erlaubt und alle Spinnefeinde jeder Wortbildung mit „kultur“ am Ende, zu denen ich selbst gehöre, um Verzeihung gebeten: der wichtigste Schlüssel für die Kunst ist, mindestens seit Schiller und Weimar vor gut zweihundert Jahren, die Herzenskultur
Der Vergleich der Musik mit dem Wein war bis hierhin der nun endende Versuch, einem unter Klassikfans bis heute wirksamen Dünkel entgegenzuwirken: Klassik ist nicht besser als Irgendetwas, sie ist Teil eines größeren kulturellen Zusammenhangs, in den auch der Wein gehört. In der Klassik geht es ums Formerkennen und Übersichtbekommen, um Orgien ästhetischer Ordnungsgefühle. Und – selbst bei kompletten Kopfmenschen – am Ende immer ums Emotive.
Ein Lesepublikum folgt in der Regel jenen Autorinnen und Autoren, deren Subjektivität es durch wiederholten Abgleich mit eigenen Kunst- und Lebenserfahrungen positiv überprüft hat; sie sind eine Art Pilot-Gemüt, denen eins wenigstens bis zum ersten Hören der Musik folgt, die sie empfahlen. Ob ich aber Regula Mühlemanns neue CD mit Mozart-Arien empfehlen soll?
Die junge Künstlerin (*1986) hat sich in recht kurzer Zeit einen Rang als internationaler Gesangsstar erarbeitet. Man hört sie überall am liebsten als Mozart-Sängerin. Der nächste Höhepunkt ihrer Karriere im Oktober 2020: Der Auftritt in Hans Neuenfels‘ Neuinszenierung der Entführung aus dem Serail im Rom der Opernwelt, der Staatsoper in Wien. Eine „glockenhelle, lichtvolle“, eine „silbrige“ Stimme nimmt die internationale Presse wahr. „Ihr Gesang wirkte so leicht wie Atmen, ihre hohen Töne flossen mühelos in den Raum“, schrieb die Badische Zeitung. Wer die neue CD hört und ästhetisch nicht gänzlich auf dem Hund ist, wird an dieser Stelle heftig nicken. Regula Mühlemanns Stimme ist traumhaft sicher, natürlich geführt, weich, warm und wendig, jeder Ton, wo er hingehört.
Was Mozarts Opern vor allen anderen ausmacht, ist seine Fähigkeit, für weibliche Stimmen nicht nur einen genuin weiblichen Ton zu komponieren, es tritt uns in ihnen darüber hinaus eine in ihrer Verschiedenheit psychologisch und sozial genau erfasste Typologie mitteleuropäischer Frauenfiguren des ausgehenden 18. Jahrhunderts entgegen. Mozart ist der empathische Feminologe der Operngeschichte, die Zyniker der Verspottung des Guten im Menschen nennen ihn einen „Frauenversteher“. Er war, nicht nur in seinen Opern, ein Mann mit viel Sinn und Sinnlichkeit für Frauen, kein Don Giovanni und auch kein Don Alfonso, eher – nur was das schöne Geschlecht angeht – ein Papageno im besten Sinn naiver Lebensfreude (Mozart selbst hat sich seltsamerweise in einem Brief recht abfällig über seine so populäre, auf ihre sommersprossige Art Rousseau so nahe Figur geäußert).
Viele der mozartschen Frauenrollen hat Regula Mühlemann noch nicht gesungen. Sie ist ein „lyrischer“ Sopran; Furien wie die Electra im Idomeneo, die Elvira des Don Giovanni oder die Königin der Nacht in der Zauberflöte wären für sie Klippe bis No go. Aber das „Lyrische“ macht sich in Mozarts Frauenfiguren ohnehin in sehr spezifischer Weise geltend. Auf der neuen CD singt Mühlemann sowohl Susannas „Deh vieni non tardar“ aus dem Schlussakt des Figaro, als auch Paminas suizidales „Ach, ich fühls“ aus der Zauberflöte. Zwei grundverschiedene Frauentypen. Ein Oberschicht-Herzchen als Märchenprinzessin mit einem gefährlichen Zuviel an Empfindsamkeit. Und ein tatkräftig kluges Unterschichtweib, bei dem noch zarteste Gefühle durchströmt sind vom lebensstarken Naturduft der Rosen.
Der Rezensent hört diesen Duft in den vom Kammerchester Basel federnd präzis und in warmen Farben dargebotenen Begleitfiguren der Holzbläser in Susannas „Rosenarie“. In Regula Mühlemanns engelgleich schönem Sopran, ach, hört er ihn nicht. Und ganz und gar nicht will sich der emotionalen Subjektivität des Rezensenten in Mühlemanns Kunst Paminas Wesen auftun. Wie viel schwieriger noch die gar nicht mehr so lyrischen Sopranrollen der Figaro-Gräfin und zugespitzt der Fiordiligi in Cosi van tutte. Und wie ganz verteufelt schwer am Ende im Fall Zerlinas und Despinas die Darstellung des Wesens emotioneller Bodenhaftung und naturhaft intuitiver Handgreiflichkeit unten in der Gesellschaft. Mühlemann wird im Oktober in Wien als Blonde in der Entführung – die vielleicht harmloseste unter den Dienerinnenfiguren Mozarts – den nächsten Schritt gehen.
Man möchte ihr wünschen, dass sie den nicht unerheblichen Gefahren eines Lebens als „Star“ nicht nur gewachsen ist. Sie sollte weiterwachsen an den Aufgaben, die sich ihr stellen. Aber Moment, ist das hier nun am Ende wirklich eine Empfehlung oder was? Es ist eine Erwägung, vielleicht ein Bekenntnis. Das muss reichen. Junge Welt, Oktober 2020
Als diese Zeitung 2014 zum ersten Mal vom äußersten Westrand Sibiriens über das Treiben des griechischen Dirigenten Teodor Currentzis berichtete, war das bürgerliche Feuilleton in Sachen Currentzis gespalten: Die nicht wenigen Begeisterten wurden von den Gralshütern der seriösen Klassik als dem Populismus verfallen bekrittelt. Seit einiger Zeit treibt ein neues Schlagetotwort sein Unwesen. Wieder trifft es auch den flamboyanten Griechen. Er „polarisiert“, heißt es, und so etwas tut man nicht, wenn man in Politik oder Klassik wirklich dazugehören will.
Dummerweise scheinen Klassikfreunde wie der Intendant der Hamburger Elbphilharmonie Polarisierung zu schätzen. Sie wissen offenbar, dass Polarisieren in den besten Fällen – und zu ihnen gehört Currentzis – Andersmachen heißt, einleuchtender Machen, in der Klassik heißt das auch: mitreißender. So konnten der Grieche, die SWR-Symphoniker und die Geigerin Patricia Kopatschinskaja am Mittwochabend im großen Saal ein Konzertprogramm abfeuern, das nach Zusammenstellung und Präsentation wirklich anders, einleuchtend und – der Applaus des pandemiebedingt ausgedünnten Publikums rauschte unmissverständlich – mitreißend war.
Neue Musik. Aber nicht als Alibi-Einlage, sondern als ein durch die Zeiten wirkendes Konzept musikalischer Klangerscheinungen. Helmuth Lachenmanns Werk steht in der Nachfolge seines großen Lehrers Luigi Nono als eines Infragestellers des gängigen Klassikbetriebs für die endgültige Emanzipation des Geräuschs als äquivalentem Teil der Musik. Das anfang der 1990er Jahre entstandene Stück „… zwei Gefühle…“ arbeitet allerdings neben Geräuschen schon auch mit geräuschhaften und „reinen“ Tönen und sogar mit Intervallen. Lachenmann selbst wirkte als „Sprecher“ mit. Der Text des Universalgenies Leonardo schildert die Urgewalten der Natur, schließlich die Unergründlichkeit der Finsternis einer Höhle und die Reaktion des Wanderers: Furcht und Verlangen. Kein Melodram, keine Programmmusik, auch die Sprache ist jenseits eines Rests Semantik nur noch Klang. Nono nannte eines seiner gewaltigsten Werke, „Tragödie des Hörens“. Bei Lachenmann eine Odyssee des Ohrs, ein differenziertes Klanginferno feinster bis gröbster und schönster bis hässlichster Klangphänomene. Currentzis tanzte mehr als er dirigierte. Der mit seinen 85 Jahren jünglinghaft präsente Lachenmann hatte sichtlich seine Freude.
SWR Symphoniker auf dem Sprung….
Fast übergangslos Heinrich Ignaz Franz Bibers „Battaglia“. Die gleiche, jetzt unbedenklich barocke Neigung zum Verlassen ausgetretener Pfade. Currentzis und die dito ausgedünnte SWR-Musikerschar trieben das musikalische Schlachtgetümmel unter geräuschhafter Verwendung von Instrumenten, Stimme und Körperlichkeit (Tanz) in die Musik integrierend, in extrem lockerem Umgang mit traditioneller Harmonik und praller Musizierlust auf die Spitze. Die Geigerin Kopatschinskaja, oft mehr Medium als Solistin und stilistisch ein Muster an Indifferenz, ganz in ihrem Element.
Dann, bis auf die Verdunklung des Saals bei angeschalteter Pultbeleuchtung, der nahtlose Sprung über drei Musikjahrhunderte. In Giacinto Scelsis lyrischem Poem über den Namen der Venus, „Anahit“, zieht sich die Tonalität abermals in auf eine, die Tradition wiederum gänzlich anders verarbeitende Art in sich zurück. Die Battaglia war die Kontrast-Party zum das verseuchte Heute beschwörenden Programm. Mit Scelsi kehrt es in die depressive Gegenwart zurück. Da war dann das nur von der Theorbe und spärlichen Einwürfen einiger Instrumente begleitete Lied John Dowlands (1563-1626), es hat den schönen Titel “Weepe you no more, sad fountains” ein trübe seliges Verklingen. Currentzis und Kopatschinskaja sangen still mit Mund-Nasen-Maske. Magie des Trosts der Traurigkeit. Die Geigerin im weißen Kleid, immer leiser geräuschhafte Klänge von sich gebend, verließ mit Currentzis den dunklen Saal. Ein großer Abend. Junge Welt, September 2020
Auch in der Klassik gibt es echte Schlager. Das Publikum fährt auf sie ab, Grund: eine Melodie. Sie betört die Ohren, ist Teaser, Türöffner, Ohrwurm. Je öfter man sie hört, desto deutlicher und lieber wird aber auch alles andere, alles außer der Melodie. Eben noch war es das Aufhaltende, das den Moment Hinausschiebende, bis es endlich wieder losgeht. Aber irgendwann kommt das andere auf. In ihm, dem Außermelodischen mehr als in der Melodie, ist die Form, ihr bewusst zu werden ein Vergnügen. Eine Wonne aber auch, sich »etwas« zu denken beim Hören, einen »Inhalt« zu träumen. Beethovens »Andante favori« WoO 57 eignet sich in allen Aspekten hervorragend, darüber nachzugrübeln, was in ihm der Form gebührt, was dem Gefühl.
Beethoven schrieb während der Arbeit an der Waldstein-Sonate mit dem »Andante favori« ursprünglich deren zweiten Satz. Aber der Freundeskreis maulte. Zu lang das Ganze. Nach einigem Zögern komponierte der Tonsetzer eine kürzere Introduktion zum finalen Rondo; er machte das Andante zum Solitär. Warum lenkte er ein?
Im Abschnitt »Klavierstücke« seines dreibändigen Werks über »Beethovens Klaviermusik« schreibt Jürgen Uhde (1913–1991), das »Andante favori« sei »zweifellos in seiner Satztechnik bedeutender als in dem, was sich rein musikalisch begibt«. Es beginne im Quartettsatz, in kammermusikalischer Schreibweise, Begleitfiguren seien eher nicht akkordisch, mehr »linienartig«. Die Themenmelodie ist wenig variiert, wird aber »satztechnisch immer neu beleuchtet«. In den Zwischensätzen über die Kammermusik hinaus orchestrale Klänge, Oktavenläufe in beiden Händen. In der Coda üppige Klangfülle. Das »Andante favori«, so Uhde, »hätte in seiner außerordentlichen Klangentwicklung den in der endgültigen Fassung der Waldstein-Sonate als strahlende Klangoffenbarung wirkenden Anfang des Finales klanglich vorweggenommen und damit unwirksam gemacht«.
»Rein musikalisch« ist er von dem Werk weniger angetan. Ihm erscheint von minderer Güte, was man den »Ausdruck« nennen könnte, die »Stimmung«. Die wäre wohl, zumindest am Anfang, mit dem Wörtlein »beschwingt« nicht ganz falsch beschrieben.
Aber bei Beethoven hat es selbst mit der Beschwingtheit immer etwas auf sich. Sie ist ein in Gemüt und Körperbewegungen wirksamer Niederschlag positiver Gefühle. Gefühle sind kein Ausgangspunkt von Kompositionen. Aber das charakteristische punktierte Melodiemotiv mag ein Anhaltspunkt dafür sein, was im Tonsetzer im Moment der Komposition vorging. Der Gedanke, in ihm verberge sich der Name einer in Beethovens Leben durchaus nicht unwichtigen Frau, drängt sich spielerisch auf.
Eine Laune des Komponierenden, gewiss. Aber eine, welcher der Tonsetzer in für Launen untypischer Hartnäckigkeit bis ins »Arietta«-Thema der letzten c-Moll-Sonate mehr als einmal nachhing. Es ging ihm beim Komponieren nicht vordergründig um Josephine von Deym, spätere von Stackelberg, geborene Gräfin Brunsvik, um die es sich handelt, ihr Vorname spricht und singt sich nun einmal punktiert – es ging, siehe oben, um die Erweiterung seiner satztechnischen Möglichkeiten.
die jüngere Josephine
Er selbst legte allerdings immer wieder Spuren auch in die Befindlichkeit hinter der Komposition. So liest man im Brief, der dem der Geliebten übersandten Autographen des »Andante favori« beiliegt: »hier ihr – ihr Andante«. Bald anderthalb verklemmte Jahrhunderte lang verbrämte man die Kette verpatzter Anbahnungen in Beethovens Beziehungsbiographie als gewollte Dauerabstinenz. Libido? Störte als geistfremd. Beginnend 1977 mit dem Bahnbrecher Harry Goldschmidt(Schweiz/DDR), fortgesetzt 1983 mit Elisabeth Tellenbach (BRD) und 2003 mit Rita Steblin (Kanada/Österreich), setzte sich bei Musikwissenschaftlern nichtsdestoweniger ein der Wirklichkeit des Tonsetzers auch im Fleischlichen näheres Beethoven-Bild durch. So dämmert einer 2020 besonders aufnahmebereiten Gemeinde gerade noch rechtzeitig zum 250. Geburtstag: Es gab sie wirklich, die »unsterbliche Geliebte«, jene den Gegenstand eines heißen Liebesbriefs darstellende Frau, zu deren Identität sich seither Bibliotheken füllten. Sie war kein Traumbild eines Einsamen. Der Tonsetzer war real mit ihr im Bett. Der Brief, geschrieben mit ihrem Crayon, ist der frische Nachklang einer soeben durchlebten, glücklichen Nacht im sommerlichen Prag vom 3. auf den 4. Juli 1812.
Zum Beweis, dass es sich bei ihr um Josephine handelte, fehlt der Forschung allerdings immer noch ein Beleg für ihren Aufenthalt in Prag in der betreffenden Nacht. Dass sie zu der Zeit nach Prag wollte – gesichert. Es fehlt zudem jeder Hinweis darauf, wo sie statt dessen gewesen sein könnte. Erwiesen: Exakt neun Monate später bringt sie, die das Bett nachweislich seit Juni 1812 nicht mehr mit Herrn von Stackelberg geteilt hat, ein gesundes Mädchen zur Welt. Sie nennt es Minona, von hinten gelesen: Anonim. All das ist so bekannt wie die Explosion der Satztechnik oder die Verbindung zur Waldstein-Sonate. Was aber der »Inhalt« des »Andante favori« wäre, was der liebende Komponist mit ihm wem auch immer hat mitteilen wollen – liegt in Händen bedeutender Interpreten, lebt im Bewusstsein, im Imaginieren starker Hörender, pulsiert weiter in der nach der Welt hin offenen Dialektik Beethovenscher Kunst.
Der Komponist hat ausweislich seiner Liebespost zum mindesten der Geliebten mit dem »Andante favori« etwas sagen wollen. Die Idee von Kommunikation funktioniert in der Musik wunderbarerweise unbeschadet der Tatsache, dass sich in der Vorstellungswelt des Publikums beim Hören musikalischer Artefakte so viele »Inhalte« ergeben, wie es Ohrenpaare gibt. Allein, ein Trauermarsch bleibt für alle unter allen Umständen etwas Trauriges, ein Rondo bleibt ein im Zweifel fröhlicher Tanz.
Das »Andante favori« ist eine von zärtlich punktierten Anrufungen unterbrochene Abfolge liebevoller Rückblicke inklusive entsprechender Verstärkungen, Ängste, Evokationen. Allein für die Adressatin wird sich der Kreis mit vielleicht real Geschehenem geschlossen haben. Uns Nachgeborenen bleibt die Phantasie. So macht es Sinn, sich etwa vorzustellen, wie Josephine selbst – die »Pepi«, wie die Wiener, und die »Peps«, wie ihre Schwestern und Eltern sagten –, sich das ihr zugedachte Stück allein im Musikzimmer der Brunsviks vorspielt, sie ist Schülerin des Urhebers, eine glänzende Klaviersolistin. Wie sie an den passenden Stellen das dämmerspendende Moderatorpedal einsetzt und die schönen Arme spreizt im Ambitus der Takte mit den sehr hohen und zugleich sehr tiefen Läufen. Wenn der Urheber sie im einem impulsiven Volkstanz gewidmeten Teil des Zwischensatzes an einen Abend erinnert, den sie in irgendeinem der Heurigen der Wiener Vorstädte verbracht haben könnten – bebenden Herzens Arm in Arm und Aug’ in Aug’ –, greift die Pepi besonders herzhaft in die Tasten. Oder war es in Hetzendorf? Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind die beiden 1805 vor der Neugier ihrer Verbindung nicht wohlgesinnter Leute dorthin geflohen. In Hetzendorf war es einsamer als im mondänen Baden, wo der Tonsetzer seine »offiziellen« Sommer verbrachte. »In der Astgabel einer Eiche« soll er in Hetzendorf die »Leonore« vollendet haben. Wir stellen uns vor, Josephine saß auf dem Ast daneben. Zurückgekehrt ins Quartier, spielt er ihr die frisch entstandenen Stellen aus seiner Oper vor. Sie lesen gemeinsam Goethe und Klopstock – oder ist es Seume? –, gehen tagsüber Hand in Hand durch angenehme Gegenden, stecken abends, wer weiß, nicht nur die Köpfe zusammen. Nein, Hetzendorf war es nicht, zumindest nicht 1805. Denn er komponierte das »Andante favori« schon 1803 auf 1804. Aber was er der Liebsten in der Musik alles erinnert an gemeinsamen Momenten, was er ihren Fingern und zugleich ihrer Seele aufgibt an Erlebnissen liebender Gemeinsamkeit, hat keinen Ort als die verblichene Sparbüchse ihrer beider Herzen.
Das Stück, siehe Jürgen Uhde, ist unterschiedlich angesehen. Für die einen ein hübsches Encore, eine nette Kleinigkeit für die leichte Schulter, nehmen andere es ernst und beim Wort. In der Leichtigkeitsfraktion bevorzuge ich Pianisten wie Andras Schiff, deren Eleganz der Spannung nicht entbehrt. Andererseits ist mir unter den Ernstnehmern Swjatoslaw Richter einer der liebsten, er unterlag allerdings in all seiner empfindsamen Kompakt- und Schroffheit einem Handicap: Der moderne Konzertflügel egalisiert den Klang.
Da hat es Tobias Koch besser. Zum von ihm so erkannten Ernst des »Andante favori« fällt ihm mehr ein als Richter. Und Kochs Rosenberg-Flügel aus der Wiener Beethoven-Zeit erleichtert und forciert das Spiel mit der Dynamik, dem launig häufigen Wechsel der Tempi. Er lässt plastisch hören, wie viele akkordgreifende, figurierende Finger Beethoven jeweils etwa zwischen einem Fis” im Diskant und einem grottentiefen G im Bass unterbringt, was sie in dem Riesenabstand in einer oft schon ins Überladene gehenden Einfallsfülle alles treiben, die acht Finger plus zwei Daumen, welche Klangfülle sie zu erzeugen vermögen, welchen Orchestersturm. Er nimmt dafür, wenn nötig, an Stellen, wo andere es biedermeierlich fließen lassen, agogisch das Tempo heraus, vergrößert Verzierungen, überbetont Akkorde. Aufs Risiko hin, technisch ungeschickt zu erscheinen, bringt er in die Musik Brüche ein, die ihren an nicht wenigen Stellen einkomponiert improvisatorischen Charakter spüren lassen.
Wenn sich die Musik am Ende der Reprise zum Gehen anschickt, sucht Tobias Koch seine Sachen besonders lange zusammen, er legt zwischen den Tönen Pausen ein, dehnt den Abschied. Aber weil der Komponist sich dann einfach überhaupt nicht aus dem Bannkreis der Liebsten entfernen mag, bewegt sich eine lange, besonders geist- und gestaltreich und klangvoll gesetzte Coda ausschweifig auf den Grundton zu, erreicht ihn auch und trampelt auf ihm herum, ohne ein Ende zu finden. Denn ein voraussichtlich allerletztes Mal, schon im Hinausgehen, nachdenklich, zweifelnd, steuert der verliebte Tonsetzer noch einmal das punktierte Thema an – was, Jooooo-se-phiiiiiine, soll aus unserer Liebe werden, was? Er weiß es nicht. Übers Grundtonende hinaus atmen die letzten beiden Akkorde: nichts Gutes. Junge Welt, September 2020
Tun wir, als ob nichts wäre. Machen wir es wie Pablo Heras-Casado, der spanische Dirigent mit dem Feeling für deutsche Klassik und Romantik und nehmen Beethovens 9. Sinfonie, als ob sich in zweihundert Jahren nicht Berge von Schrott schlechter und falscher Deutungen auf ihr abgelagert und sie längst unter sich begraben hätten, Deutungen von Musikern wie von Musikwissenschaftlern. Sogar die Nazi-Regierung des zwölfjährigen Reichs schmückte sich mit der menschheitlichen Größe dieses Werks. Vorläufiger Gipfel historischer Verdauungskünste eines sich exakt im Beethoven-Jahr der Langlebigkeit seiner Kolonialgeschichte bewusstwerdenden Bürgertums: die Berliner Aufführung im November 1989. Der alte Leonard Bernstein dirigierte zum kulturellen Abschluss einer „friedlichen Revolution“, die im Sinn Beethovens keine Revolution war, das Credo des deutschen Humanismus als Triumphgeheul des freiheitlich-rassistischen Westen. Beethoven hatte den Text von Schillers berühmter Ode An die Freude zum ersten Mal als antifeudales Trinklied gehört, zu Beginn seiner Adoleszenz in Bonn, er hat sie zeitlebens nicht vergessen. Was er gut dreißig Jahre später im Wien der frühen 1820er Jahre im letzten Satz der Neunten daraus werden lässt, ist, entstanden unter den allgegenwärtigen Augen der Spitzel Metternichs, nichts Geringeres als die demokratische Utopie eines für einen Wimpernschlag der Geschichte revolutionären Bürgertums. Deren klügerem Teil dämmerte allerdings schon kurz darauf etwas, das Georg Lukács in seinen literaturtheoretischen Arbeiten über die deutsche Klassik das Ende der „heroischen Illusion“ nennt: Sinfonische Visionen wie die Beethovens können wahr werden erst jenseits einer Welt, in der man mit den gräßlichsten Dingen extrem viel Geld verdient. Spielt man das Stück aber wie das jetzt das Freiburger Barockorchester (FBO) mit Heras-Casado, Gesangssolisten und der Zürcher Singakademie auf einer neuen Doppel-CD tut, klingt es schon fast wie befreit vom Alb der Renditen und ihrer Kriege, befreit damit auch von aller Heuchelei. Bevor die Geiger mit leer lauernden Quinten der Dominante den ersten Satz zu akzentuieren beginnen, lässt der Dirigent die Naturhörner hören, deren liegende Akkorde füllen sich nach und nach auch mit den Farben der anderen Bläser. Schluss mit der zweihundertjährigen Symphokratie der Streicher. In beeindruckend feinfühliger Konsequenz sind in dieser Aufnahme Streicher und Bläser gleichberechtigte Momente eines sich in steter Verwandlung befindenden, sich in seinen Teilen und den Teilen der Teile (Holz- und Blechbläser) immer weiter ausdifferenzierenden Klangganzen. Begleiten? Gibt’s in diesem Orchestersatz nur noch im demokratischen Wechsel. Flöten und Fagotte sind für lange Passagen Hauptdarsteller und dominante Dialogpartner der Streicher, die Blechbläser treten in den Vordergrund, wenn sich das Ideal, das aus Beethoven spricht, kampfbereit zeigt. Die Pauke, für lange Zeit am Katzentisch des Orchesterklangs, wird vor Eintritt der Reprise, in einer martialischen Demonstration bürgerlich revolutionärer Kraft zur Klangfarbe.
In der in orgiastischer Rhythmik federnden Leichtigkeit des folgenden Molto vivace und im Finale ist sie konzertierender Solist. Der mit wenigen Ausnahmen für die weltanschauliche Größe dieser Sinfonie bis gestern für nötig erachtete Klangbombast des großen Sinfonieorchesters, Herbert von Karajan führte ihn in den 1970er Jahren auf einen perfektionistischen – hoffentlich letzten – Höhepunkt, fällt bei Heras-Casado einfach ab. Die Naturhörner müssen nicht lauter spielen und andere übertönen, um wie von selbst wahrnehmbar zu sein. Es ist das in der Musik seiner Zeit entstandene Wesen jedes der alten Originalinstrumente des FBO, das es ohne technische Mätzchen abhebt von der Eigentümlichkeit der anderen. Bevor es richtig losgeht im berühmten Finale, chillt der Tonsetzer in ewigkeitlich klangschönen Variationen noch einmal den Traum von universeller Solidarität. Was folgt, suchten Generationen bürgerlicher Musikwissenschaftler bis heute aufs individuelle Einzelschicksal herunterzubrechen. Aber Beethoven geht im letzten Satz der Neunten ideell und musikalisch aufs Ganze. Tritt er sogar am Ende der entspannten Vision des Adagio zweimal energisch äußeren Gefahren entgegen, eröffnet das Finale mit zwei turbulent dissonanten, von den rezitativisch dagegenhaltenden Bässen unterbrochenen Kurzschilderungen der Weltlage. Die Bässe beginnen unisono damit, das Freuden-Thema anzusteuern. Der Tonsetzer, die Neunte ist das Resümee auch seiner neuartigen Sinfonik, erinnert, spielerisch verknüpft mit den das Thema weiter vorbereitenden Bassrezitativen, kurz an die drei so unterschiedlichen verklungenen Sätze. Dann ist die Melodie der Ode da, und es gibt kein Halten mehr. Hanns Eisler hat in einem seiner Zeitungsartikel launig gemutmaßt, alle Finanzhaie (bei Eisler noch „Bankdirektoren“) dieser Welt müssten sich eigentlich im begeisternden Sog beethovenscher Verbrüderungsträume wie einst, die Sirenen im Ohr, Odysseus an den Mast, an ihre Konzertsaalsessel fesseln lassen, um nicht endlich, Tränen in den Augen, menschlich zu fühlen und die Sitznachbarinnen und Nachbarn brüderlich zu umschlingen. Das tut Beethoven im Finale der Neunten auf eine Weise, welche die Überfülle der sich synergetisch durchdringenden Figurationen, Fugen und Imitationen, Vokalensemble, Ariosi, Chöre und Choräle überführt in die propagandistische Direktheit des Worts. Christiane Karg, Sophie Harmsen, Werner Güra und Florian Boesch und der Chor singen textverständlich, präsent, ansehnlich.
Die alten Instrumente des FBO erleichtern die Gliederung eines gewaltigen Sinfoniepanorama, das Ohr hat die Chance zu begreifen. Der das schafft, ist kein Typ wie etwa der im peinlichsten Sinn deutscheste unter den Dirigenten, der AfD-affine Christian Thielemann, der sowieso nur Wagner kann und Richard Strauss, sondern ein feuriger Spanier mit kühlem Kopf. Statt romantisch idealistischem Schwulst großer Worte entsteht bei ihm energiegeladene Klarheit, revolutionärer Klassizismus und die eigentlich unmissverständliche Botschaft vom Weltfrieden. Auf halber Strecke zwischen seiner jugendlichen Lektüre der Ode und der Uraufführung der Neunten im Mai 1824 ergab sich für Beethoven eine Gelegenheit, seinem Projekt der Komposition von Schillers Gedicht schon mal probehalber näherzutreten. Am 22. Dezember 1808 fand im Theater an der Wien eine Akademie zu seinen Gunsten statt. Auf dem Programmzettel: die 5. und 6. Sinfonie, die Konzertarie „Ah, perfido“, das 4. Klavierkonzert, zwei Sätze seiner C-Dur-Messe und eine bis heute mysteriöse „freie Fantasie“ fürs Klavier. Auf der Konzertbühne standen ein Orchester, ein Chor, eine Sängerin und ein Hammerflügel samt Solist – da musste der Tonsetzer einfach kurz vor der Aufführung noch in aller Eile etwas komponieren, in dem sich all die vielen, teuren Akteure zu etwas sensationell Neuem formierten. Die Chorfantasie c-Moll op. 80 entstand. Für Veranstalter zu kostspielig, für viele Musiker in ihrer, schmetterlingshaft zwischen den Formen und Stimmungen herumflatternden Art zu schwierig, fristete sie lange ein Schattendasein. Ein Klavierwerk, in der das Instrument sowohl allein, als auch als Konzertsolist, Kammermusikpartner und als, so bis dahin noch nicht dagewesener, pianistischer Begleiter eines chorsinfonischen Finalsatzes fungiert, verstieß gegen Gewohnheiten. Dass nun eine Firma wie Harmonia Mundi Francedie Produktion der Neunten nutzte, in der selben Lieferung auch ein so problematisch herrliches Werk wie die Chorfantasie herauszubringen, gespielt von der Aufgabe glänzend gewachsenen Musikern, ist in renditegefesselten Zeiten eine wundersame Großtat. Allen voran führt der südafrikanische, im Breisgau verankerte Hammerflügelspieler Kristian Bezuidenhout als eine Art Doppelgänger Beethovens mit einer „freien Fantasie“ in die Chorfantasie ein. 1808 des Gehörs noch mächtig, hatte der Tonsetzer den Klavierpart seiner Akademie selbst übernommen, und da er in der Eile zum Notenaufschreiben keine Zeit mehr hatte, spielte er alles aus dem Kopf. Wie im Moment erfunden, lässt auch Bezuidenhout im voluminös transparenten Kolorit seines Fortepiano den c-Moll und C-Dur Klangraum und die Intervallcharakteristik dessen entstehen, was folgt. Das Thema der Chorfantasie hat die gleichen drei ersten Töne wie die Freudenmelodie der Ode und setzt sich, obwohl sein Bogen deutlich kürzer ist, ähnlich anmutend wie diese fort. Wie die Ode läuft sie auf ein von Chor und Solosängern vorgetragenes Prachtfinale zu. Und doch, welch ein Unterschied! Die Ode – eine Botschaft an die Menschheit. Die Chorfantasie – der lebensfrohe Spaß eines genialen Achtunddreißigjährigen. Sich fröhlich selbst ergänzend, verwandelt sich der Tonsetzer in der Chorfantasie an, was er in den Noten der Klavierkonzerte und Holzbläsersätze vor allem Mozarts und Haydns an Wahlverwandtem vorfand. Bezuidenhout trifft den für dieses Werk idealen Ton zwischen mozartscher Leichtigkeit und beethovenscher Kraft, gepaart mit Witz und sensibel raffiniertem Rubato. Und von wegen „Schicksalstonart c-Moll“. Was Bezuidenhout und Heras-Casado in der Chorfantasie nicht nur herausarbeiten, sondern herausspielen, heraustanzen, ja herauskitzeln, ist eine Orgie sich über weite Strecken in C-Dur austobender Jugendlichkeit. Die Melodie der Chorfantasie ein Ohrwurm der schlimmeren Sorte. Den Text dazu hat sich Beethoven nachträglich unter die Noten schreiben lassen, er ist, anders als der Text der Ode, von biedermeierlicher Unerheblichkeit. Es spricht die Musik. Das Leben ist schön! sagt sie, eine banale Feststellung. Beethoven macht aus ihr mitreißende Klassik. Die Chorfantasie wurde 1808 geschrieben. 1804 hatte der Tonsetzer erleben müssen, wie sich sein revolutionäres Idol, der Bürger Napoleon, die Kaiserkrone aufs Haupt setzte. Beethoven kochte. Und blieb auf Kurs. Die Kraft dafür? Eine von ihm am Ende auf die Menschheit hochgerechnete Lebensliebe. Gedanken, auf die einen die neue Einspielung bringt. Aktuell das Beste unter vielem Großartigen. Das Beethovenjahr, es kann so weitergehen. Der Freitag, September 2020
Beethoven: Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125, Chorfantasie c-Moll op. 80 – Karg/Harmsen/Güra/Boesch/Bezuidenhot/Freiburger Barockorchester/Zürcher Singakademie/Heras-Casado (Harmonia Mundi France).
Nichts ist so sehr Nische, als dass in ihm nicht Platz wäre für noch eine Nische. In der klassischen Musik, einer schon eigentlich dramatisch marginalisierten Sphäre, gibt es die Nische alte Musik, gemeint damit: alles vom frühen Barock rückwärts bis zu den gregorianischen Mönchen. Außer im Zusammenhang von Räucherstäbchen und Kundalini Yoga kommt alte Musik heute in nennenswerterem Umfang vielleicht noch in anderen Regionen des Wellness- und Esoterikbereichs zum Zug, im Bereich Klassik ist sie Sache schon arg exklusiver Kreise.
Aber wie in archäologischen Museen, in Galerien alter Meister oder beim Anblick mittelalterlicher Kathedralen, ja, weil übers Hören emotional zugänglicher, vielleicht besser noch als in den Denkmälern bildender Künste erlaubt alte Musik Geistesabenteuer. Man kann in ihr, trotz aller Fremdheit, ahnen, wie sich das angefühlt haben mag, als im Zeitalter christlichen Glaubens die Welt noch ganz und die Arbeitsteilung nur schwach entwickelt war. Am gregorianischen Choral etwa waren während der Karolingerepoche unisono nur Männerstimmen beteiligt. Musik war kein Genuss, sie war Offenbarung und Andacht. Niemand hielt sie für „Kunst“, so wie etwa Eltern, die ihrem Kind vor dem Einschlafen vorlesen oder vorsingen, nie auf den Gedanken kämen, sie wären darstellende Künstler.
Man war im Lauschen aufs Wort Gottes eins mit denen, die da sangen; man sang oder sprach mit, stumm oder laut. Daran änderte sich grundsätzlich auch nichts, als Kopernikus die Mutter Erde aus dem Zentrum des Bilds vom Himmel verbannte und die Naturwissenschaft der Theologie zuzusetzen begann. In der wachsenden Schönheit und Pracht eines Wohlklangs, in dem immer mehr Stimmen, auf immer neue und farbigere Art zusammen klangen, hörten die Menschen die Größe und Pracht Gottes. Das moderne Ohr, beim Hören auch alter Musik gewohnheitsmäßig auf Konzertmodus eingestellt, hört darüber hinaus, wie in den Motetten und Messen der großen Renaissance-Komponisten, sehr langsam und unterschiedlich, das Diesseits über
Guillaume Dufay
die Transzendenz triumphiert. Guillaume Dufay machte den Anfang, lang wirkend weit über seine nordfranzösische Heimat hinaus. Noch in Orlando di Lassos Psalmvertonungen oder Palestrinas Messen, ist Gott in einer Weise Klang geworden, dass man ihm bis heute dafür danken möchte, dass die Menschen ihn sich ausgedacht haben. Nicht zufällig fanden die großen Neuerungen europäischer Musik während der Renaissance und Reformation in Gegenden statt, in denen die Geschichte auch sonst vorankam: In Frankreich, Flandern, Oberitalien und England.
In Thomas Tallisgroßer Motette „Spem in alium“ geht das noch für die Renaissance typische, erhabene Dahinströmen der Stimmen über in eine mit dynamischem und rhythmischem Maßwerk reich ausgestattete, akzentuiert rhythmisierte Monumental-Architektur. Bei Aufführungen dieser Motette am Anfang des 16. Jahrhunderts kommunizierten die über den Innenraum der Kathedrale verteilten acht Chöre über die Köpfe der Gläubigen hinweg; eine Architektur ging in die andere über.
Michelangelo Buonarotti
Ähnlich verfuhren die zwei Chöre zu je fünf und vier Stimmen, die sich alljährlich zu Beginn der Karwoche das grandiose Hin und Her von Gregorio Allegris „Miserere“ zusangen. Sie waren an verschiedenen Ecken der Sixtinischen Kapelle aufgestellt. Unter Michelangelos epochalem Deckenweltbild schlug dieses Stück mehrstimmigen A-Capella-Gesangs noch einmal den Bogen von der Gregorianik bis zum vielstimmigen, an manchen Stellen schon himmlisch homophonen Choralsatz.
Obgleich von den Ländern Mitteleuropas durch den dreißigjährigen Krieg in seiner Entwicklung am meisten, geradezu dramatisch zurückgeworfen, begann seltsamerweise das geschundene Deutschland seit dem 17. Jahrhundert die Musik mit Meistern wie Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude und schließlich Johann Sebastian Bach mehr und mehr zu überstrahlen. Mit dem frühen „Gesamtkunstwerk“ Vokalpolyphonie waren nicht nur Fundamente geschaffen, auf die noch Beethoven in seiner Missa und Brahms in seinem Requiem zurückkamen. Mit ihnen entstand ein für Jahrhunderte verbindlicher, bei aller regionalen Verschiedenheit einheitlicher, supranational ausstrahlender Musikstil, einer der großartigen, vor allem friedlichen Beiträge Europas zur Weltkultur. Junge Welt, Oktober 2016
Dufay: 13 isorhythmische Motetten – / Paul van Neevel (Harmonia Mundi France), Ockeghem: Missa l’homme armé u.a. – Oxford Camerata / Jeremy Summerly (Naxos); Josquin: Missa Pange lingua u.a. – The Tallis Scholars / Peter Philips (Gimell/note 1); Orlando di Lasso: Psalmi Davidis Poenitentiales – Collegium Vocale Gent / Philippe Herreweghe (Harmonia Mundi France); Palestrina: Missa Viri Galilaei – La Chapelle Royale / Ensemble Organum / Philippe Herreweghe (Harmonia Mundi France); Tallis: Spem in alium – The Tallis Scholars / Peter Philips (Gimell/note 1); Allegri: Miserere – The Tallis Scholars / Peter Philips (Gimell/note 1).
Er bläst, pfeift, stürmt und säuselt, er heult. Ums Dach heult er, um die Ecken, in den Fensterfugen und im Ofenloch. Und doch wäre er nichts ohne das, was ihn sichtbar macht, spürbar und hörbar. Gäbe es keine Häuser, Wiesen und Kornfelder, Dünengräser, Baumkronen und Buschreihen, kräuselte er keine Wasser, türmte schäumend und tosend nicht haushohe Wogen, schleuderte Möwen nicht drüber hin, trüge er nicht zwischen weißen, ziehenden Wolken Kranich und Adler und spielte er nicht in den Haaren der Liebsten, wisperte zärtlich im Gras und streichelte als Hölderlins Lüftchen sommers die Haut …
Der Wind weht übers Land. In den Städten weht er nicht wirklich, dort zieht’s, wenn es windig ist; der Wind treibt Blätter und Müll durch die Straßen.
Besonders schön zieht’s in Chicago. Wer schon mal da war, wird die Schluchten erinnern aus Sandstein, Stahl und viel Glas. Schluchten von Häusern so groß, dass sie oben den Himmel verengen. Sie laufen downtown alle aufs Wasser zu. Läuft man in die Richtung, drücken die Winde gegen die Brust. Downtown Chicago – the »Windy City« – grenzt mit riesigen hellen Bauten direkt ans Meer, das in Wahrheit der Michigansee ist. Man riecht den See im Wind, wenn man Glück hat, glitzert er bis ins Dunkel der überall windigen Straßen. In Hamburg zieht’s anders, die Häuser klein im Vergleich. Bläst der Wind aus Nordwest, riecht man auch hier das Meer und den Elbstrom am Hafen.
Der Wind ist in den Städten nicht wirklich zu Haus. Er wirkt wie verirrt, fremdelt, ist eingezwängt. Der Wind braucht viel Platz. Als Kind der Weite kommt er von den Horizonten, bläst und bläst. Kaum ein Tag, da er fehlt.
Windstille. Das grüne Land mit den Linien bis an die Kante zum Himmel wie blutleer, erschlafft, ein Frieden wie ausgeliehen.
Aber das Land ist selten windstill. Man sieht’s an den Weiden, den Pappeln, alle schief nach Lee hin, nach der windabgewandten Seite.
In der Marsch steht dem Himmel nichts im Weg. Er ist groß hier wie nirgends sonst, der Wind schiebt Wolken durch das Firmament. Sturmvögel stemmen sich ihm entgegen, sie stehen stolz am Himmel. Die Schwalben schießen in den Wind, in ihm zu Hause die Lerchen, unsichtbar in den Lüften als herziges Lebenslied.
Und ist euch schon aufgefallen, im Sommer geht der Wind mit den Menschen schlafen. Im Winter aber werden wir wieder zu Kindern, wenn in der Marsch im Dunkel der Sturm ums Dach heult und wir warm liegen und sicher unter der Decke, behaust und geborgen.
Der Ostwind bringt Schönwetter, macht keinen Druck, lässt als steife Brise blau-weiß-rote Fahnen flattern überm Ufer. Das Wasser kräuselt sich, der Wind stäubt Gischt auf unsere Nasen. Die Kronen der Bäume atmen im Wind, sie wiegen sich, die Zweige winken, alles so grün, so sommersatt. Welle auf Welle schlägt an den Strand.
Nicht zu vergessen der Regen. Was wäre er ohne den Wind? Der riffelt die Pfützen. Er treibt die Tropfen gegen die Scheiben, aufs Dach, es prasselt. Nur in den Schleiern der Böen des Regens ist in der Luft so viel Duft von Muscheln und Tang. Junge Welt, August 2020