Conlan Nancarrow.Maschinenmusik.

Es war Frühling 2004. Geörgy Ligeti hatte aus irgendeiner Laune heraus meiner Interviewanfrage stattgegeben. Ihm gegenüber in einem Zimmer der American Academy am Wannsee ich, in Händen ein rundfunktaugliches Mikro, im Kopf die Frage an einen, schon zu Lebzeiten Bedeutenden: Wozu, Herr Ligeti, braucht die Menschheit so etwas wie die Kunst? Im leise brüchigem Dunkelton antwortete der alte Mann mit einer erlesenen Cuvée aus jüdisch-transsilvanischem Charme und Spaß an der Düperie, er sagte: „Die Menschheit braucht so etwas nicht“.

 Die Mitschrift des ziemlich langen Gesprächs enthält einen anderen bedeutsamen Punkt: Ligetis Begründung für so viel Pessimismus. Der Renaissance-Komponist Gesualdo zum Beispiel, so Ligti, hat es auf 600 Jahre gebracht, bis die Menschheit seine Leistung zur Kenntnis nahm. Drei der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart, legt Ligeti nach, sei weltweit bis dato nur einem promillegroßen Kreis von Insidern bekannt: die Russin Galina Ustvolskaja, der Kanadier Claude Vivier und ganz besonders der US-Amerikaner Conlan Nancarrow (1912-1997).

Geboren in Arkansas, ein Staatsgebilde im wörtlich tiefsten Süden der Vereinigten Staaten, verschlug es Nancarrow 1937 nach Spanien, der, wie er später erkannte, vergebliche Ort für Yankees, die es ehrlich mit Freiheit, Menschenrechten und Democracy meinten. Wieder in der Heimat, entzog er sich den Democracy-Spezialisten von McCarthy, FBI und Co durch das Exil in Mexiko City. Als er starb, galt er als „mexikanischer Komponist amerikanischer Abstammung“ (Wikipedia).

Was Nancarrow der Entwicklung einer vom kulturkolonialen Blick unberührten Weltmusik hinzugetan hat: Er ist zurückgegangen bis tief in die Musik dessen, was während der US-amerikanischen Völkermorde an den Indigenen des Kontinents musikalisch entstand. Kleinbäuerlich siedlerische Illusionen in vielerlei europäischen Sprachen und Kulturen, über geraubte Menschen der große Einfluss afrikanischer Kultur, großflächige Investitionslaune auch im Musikgeschäft. Er hat neben der US-amerikanischen auch die Folklore und die moderne Metropolenraserei seiner zweiten Heimat Mexiko City als Klanggehalt für seine Studien genutzt.

Conlan Nancarrow war ein Linker, der die Kunst, wie sie sich aus seiner Arbeit entwickelt hatte, den Unterdrückten der Welt nicht unmittelbar zur Verfügung stellte. Er rebellierte gegen das Kolonial- und Patriarchalsystem des Westens auf eine für Kunst und Künstlerinnen typische Weise: Er stellte – siehe Billy Holliday, Glenn Gould, Nikolaus Harnoncourt, William Parker – mit seiner Idee von Musik die affirmativ einseitigen Denk- und Handlungsmuster der freien Welt infrage, er öffnete sie.

Ligeti blieb nicht der einzige, dem zu Nancarrows Opus summum, den Studies for Player Piano, das Wohltemperierte Klavier einfiel. In Bachs Springbrunnen der Mehrstimmigkeit sprudelt aus uralter Quelle etwas zuvor nicht Dagewesenes: der simple Kanon wächst sich zu neuer Beweglichkeit im Verhältnis der Einzelstimmen zueinander aus, die Beziehungen der Töne, harmonisch und rhythmisch, werden immer reicher, immer elaborierter – er knüpft dabei an Volksweisen und Tänze an, an die noch in den gewagtesten Neuerungen erinnert zu werden, bis heute viel zum Spaß an der Avantgarde beisteuert. Es muss den Zuhörern Bachs, die mit den bei Bach erklingenden Quodlibets, Allemandes, Sarabandes oder Gigues vertraut waren, gegangen sein, wie den Hörerinnen knapp drei Jahrhunderte später: wer immer die ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts entstehenden Studies hörte, wird in ihrer radikalen Neuheit auf neben viel freier Motivik überall Blues-, Boogie-Woogie-, mexikanische oder Jazz-Wendungen gestoßen sein.

Bei Bach wurde aus dem einfachen Kanon ein luftig dynamischer Überbau aus komplizierten Fugen, im Sinn dabei die kontrapunktisch spannungsgeladene Bewegungsweise vieler, aufeinander bezogener Töne. Ligeti dachte dieselbe Polyphonie weiter, indem er allem nachging, was entsteht, wenn man die Zahl der Tonverzweigungen auf eine kaum noch zu realisierende Spitze treibt; seine „Mikropolyphonie“ mit ihrer Unzahl an geteilten Stimmen erzeugte den seltsam schönen Eindruck räumlich gehörter Farben. Nancarrow schließlich interessierte an der Polyphonie – statt ihrer linearen und sonstigen – mehr die zeitlichen Verzweigungen vieler Töne. Er erforschte sein Leben lang, was geschieht, wenn eins komponierend mehrere auf neue Weise verschiedene Schichten eines Tonkörpers übereinanderlegt. Weder Tonhöhe noch Anzahl oder Differenziertheit der Stimmen spielen in diesen Schichten die Hauptrolle. Die spielt das Zeitverhältnis der Töne – Takt, Rhythmus, Tempo, Metrum – untereinander; sie sind auf lange Strecken sowohl hinsichtlich ihrer Bewegung in der Zeit als auch harmonisch und in der emotiven Getöntheit unterschiedlich gehalten ­– erklingen aber simultan. Nancarrow testet auf diese Weise, wie sich die verschiedenen Erscheinungsformen der Zeit in den Partiturschichten einer Musik zueinander verhalten können. Er erforscht, was entsteht, wenn man die Probleme, die sich damit innerhalb der Partitur ergeben, zum Ausgangspunkt einer ungemein neuen Sorte Musik macht.

Er hatte mit dem, was er mit der Polyphonie anzustellen gedachte, von Anbeginn ein Problem: die Musiker. Zur ersten Probe seiner ersten Uraufführung mit dem Septett für Streicher, Bläser und Klavier 1940 „kamen vier Musiker“, erinnerte er sich. „Zur zweiten Probe waren es drei, bis auf einen aber andere. Am Abend der Uraufführung im Konzert saß ein einziger Musiker auf dem Podium, der alle Proben mitgemacht hatte; es waren großartige Musiker aus New York, aber sie hatten in kürzester Zeit den Faden verloren, ein Debakel.“ Seine Lösung: Emanzipation des Komponisten vom Interpreten.

Bachs, Mozarts und anderer Tonsetzer Methode, die Interpreten loszuwerden, hatte in der Identität von Komponist und Interpret gelegen, sie komponierten viele Werke für sich selbst. Oft, etwa wenn es sich um „Fantasien“ handelte, wurden auf diese Weise Produktion und Reproduktion eins, damit war ein großes Problem der Musik gelöst, sogar optimal gelöst, denn zur Zeit Bachs und Mozarts waren die meisten Spitzenkomponisten auch Spitzensolisten.

Die zweite Möglichkeit, mit der sich die Komponistinnen und Komponisten ihrer Interpretinnen und Interpreten entledigten: sie wandten sich schon früh automatisch abspielbarer Musik zu. So hat Mozart im Ende seines Schaffens Werke wie sein Stück „für ein Orgelwerk in einer Uhr KV 594“ komponiert; ein mit dem Instrument gekoppelter Apparat konnte eine entsprechend präparierte Metallmatritze lesen und maschinell in Orgellaute übersetzen. Mechanisierung vormals manueller Fertigkeiten hatte schon in den Spieluhren des Barock die Möglichkeit geboten, eine bestimmte musikalische Abfolge von Tönen in immer derselben Anmutung beliebig oft zu hören.

Noch in der Kindheit des Autors gab es auf allen Rummelplätzen viele Karussells, deren verschiedene Musiken von Orgelmaschinen kamen und sich miteinander und mit einem Vielerlei von Popmusik mischten wie das Geschehen in den Stimmschichten Nancarrows. Alles scheint da durcheinanderzufliegen in eine Freiheit, die möglicherweise Späteren besser begreiflich sein wird. Auch die Entwicklung des europäischen Klavierbaus ist eine Abfolge von Mechanisierungen vormals körperlich vollzogener Abläufe. Dabei verloren geht die, mit Walter Benjamin zu sprechen, Aura des flüchtig unwiederholbaren Moments; in ihm entfaltet sich der Istzustand der empfindsamen Nerven einer Musikerseele ungefiltert – wie gut, ja unverzichtbar, dass es diese Art, Musik erklingen zu lassen, immer auch geben wird. Sie gehört wie die Maschinenmusik in die Anthropologie der Musik.

Das Verhältnis des Menschen zur Maschine ist im Zusammenhang der beiden Buchstaben “K” und “I” anno 2023 schwer im Gerede. Maschinenstürmerische Ängste und Reflexe auf allen Seiten. Die Furcht vorm Verlust von Hegemonie und Kontrolle menschlichen Denkens und Handelns ist groß. Aber der Roboter Hal aus Stanley Kubricks „Odyssee im Weltenraum“ verwandelt sich, wenn er sich gegen seine humanoiden Schöpfer wendet, nicht auf rätselhafte Weise ins Werkzeug einer feindselig eingestellten außerirdischen Macht. Die Maschine wird bei Kubrick zum Fetisch. Sie hat gleichwohl 2023 global zweierlei Performances: eine westliche und eine südliche.

Mit Maschinenhilfe – in Form von Kanonen, Fabriken und finanzindustriellen Flächenbombardements – haben sich die Patriarchen des Abendlands fünfhundert Jahre in Besitz der Weltgeschichte gesetzt. Der Maschine erwuchs der Glorienschein einer plausiblen Erklärung für das Phänomen der „westlichen Überlegenheit“. Sie wurde zugleich und in wachsendem Umfang – man denke an die schon ikonografischen Bilder der amerikanischen B52-Bomber über Vietnam – im globalen Süden (und im Denken der Linken) zum Sinnbild für koloniale Aggression. Man hielt die Maschine, das Instrument kolonialer Gewalt, für wesensgleich mit kolonialer Gewalt.

Aber insoweit es keine „Maschine an sich“ gibt, dürfte die Maschine nicht das Hauptproblem sein. Für Conlan Nancarrow führte das Bündnis mit ihr zu einem einsamen Komponistenleben in der schalldichten Abgeschiedenheit eines Tonstudios in Mexico City. Sein Kollege Henry Cowell hatte ihn nach dem Uraufführungsdebakel darauf aufmerksam gemacht, dass es die am Ende des 19. Jahrhunderts massenhaft verbreiteten „Pianolas“ vereinzelt immer noch gäbe: handelsübliche Konzertflügel oder Klaviere, ausgerüstet mit einer Zusatz-Maschine, einem „Vorsatz“, der es ihnen ermöglichte, die mittels einer komplizierten Stanz-Mechanik auf einem Lochstreifen fixierte Musik abspielen zu können, ohne dass auch nur ein Finger eine Taste berührte. Exakt, was der Exil-Americano brauchte.

Nancarrow war im achten Lebensjahrzehnt, als er in kurzer Zeit zumindest unter Musikern weltbekannt wurde. Sein unermüdlicher Promoter war Ligeti. Ohne Ligetis von unverkrampfter Bewunderung inspirierte Propaganda wäre Nancarrow wohl bis heute kaum jemand bekannt. Neben Ligeti gab es freilich eine Art brechtschen Zöllners, einen bescheidenen Mann der Sorte, die den Großen das Große abzuverlangen weiß: Für den 2012 verstorbenen BASF-Chemiker Jürgen Hocker, einen Musikfreund der besonderen Art, wurden die Pianolas zu einer Art Schicksal. Als er 1982 auf den damals komplett unbekannten Nancarrow stieß, war es um Hocker geschehen. Wo es gerade passte – Nancarrow lebte auf kleinem Fuß und es passte oft – half Hocker großzügig. Der Musiker hatte phasenweise kein spielbares Instrument im Haus, ihm fehlten die Produktionsmittel. Hocker versorgte ihn großzügig und netzwerkte auch an der Verbindung zu Ligeti mit. Er war nicht nur Mäzen und Bewunderer, er hat aus seiner Begeisterung Wissen gemacht und war der Fachmann und Promoter in Sachen Player Pianos und Conlan Nancarrow: „In einem solchen Instrument befinden sich 88 kleine Blasebälge. Und sobald man ein Vakuum erzeugt und ein Loch in dem Lochstreifen erscheint, wird dieser Blasebalg an das Vakuum angeschlossen und er wird leergesaugt. Und diese Zugkraftbewegung wird hinten auf die Taste der Klaviermechanik übertragen und der Ton erklingt.“

Und das bedeutet, dass eben zugleich nicht nur maximal 10 Töne – acht Finger und zwei Daumen – auf den Tasten und Saiten des Player Piano erklingen können – sondern ihrer 88 (die Gesamtzahl der Tasten eines Klaviers). Es bedeutet neben einer unabsehbaren Reihe anderer Konsequenzen: dem guten alten Klavier erwachsen auf dem Weg einer wohlorganisierten und schon quantitativ ganz anders aufgestellten Summe der vielen Einzelstimmen gänzlich neue Dimensionen. „Wohlorganisiert“, das darf wiederholt werden, vor allem nach Maßgabe der Temporelationen, der metrischen und rhythmischen Zahlenverhältnisse in den verschiedenen Schichten verschieden eingefangener und losgelassener und bis zu ausgelassener Erscheinungsweise von Musik und Zeit.

Study 3d

Study 3d hebt wie ein guter alter Blues fast konventionell an, bleibt bis zum Schluss im Blues-Duktus und geht im Verlauf, so scheint es, harmonisch geradezu schalkhaft unbedenklich mit den Tonhöhen um. Immer wieder bruchstückhaft Blueswendungen, Bluesakkorde; bei 1‘43“ geht ein kurzer Versuch, sich per Accelerando frei zu machen, in ein kadenzartig gedehntes Kleinst-Acapella über und endet überraschend offen. Study 3e ein wahrer Hexensabbath (feministisch konnotiert): in einer schäumenden Bouillon, gekocht auf dem Fleisch von Little Richards Rock’n Roll, balgen sich Charlie Parkers Bebop, Ragtime-Passagen und was weiß ich, es ist zu schnell fürs genaue Erfassen (wie ein Blick aus dem Hochgeschwindigkeitszug auf nahe Natur). Der Eindruck des Gesamtklangs macht am Ende sowieso das Rennen. Mit der Bewegungsfreiheit als Lohn der Überwindung alter Konventionen, stellen sich Fragen: Kann man in der Zeit oder zwischen den Zeiten schweben? Kann man die Zeit wie ein kubistisches Gemälde erleben, auf dem auch die dem Auge abgewandten Seiten und Ohren und Münder einer Figur zu sehen sind? Kann man, von vergnügt bis verstimmt, auf drei Hochzeiten tanzen? Man kann.

Auch die Maschinenmusik hat ihre Aura, auch sie Menschenmusik. Nicht die billigen Drums ‘n’ Bass-Digi-Prothesen, auf denen sich die Masse der Popmusik kosten-effizient durch ihre Zeiten bewegt. Die Maschine ist in der Lage, hochkomplizierte Gedanken einer Musikerfinderin in Klangerscheinungen zu übertragen. Einem real existierenden Musiker ist das via Kleinhirnimpulsen, Nervenströmen, Muskelspannung und Gliederbewegung unmöglich.

Was immer eins von Maschinenmusik hält: Allein, einmal nicht darüber schreiben zu müssen, wie wer das Stück doch wieder einmal so toll oder doch eher flau hinbekommen hat, ist vielen Musikschreiberlinginnen von Herzen recht. Der von jedweder Schmeichelei weltenferne Ton dieser Instrumente, ihre unbeirrbare, unfehlbare Konsequenz an Folgerichtigkeit und Stimmigkeit werben für die Maschinenmusik. Nancarrows Studies sind offen, sie sind anschlussfähig: ein Resultat auch ihrer offenen, soweit erkennbar, nicht von Modellen wie der A-B-A-Konstellation, Strophenartigem oder dem Sonatensatz vorweggenommenen Verlaufsformen. Fürs Player Piano sind sie gearbeitet, weil dieses Instrument den eigensinnigen Vorstellungen Conlan Nancarrows perfekt entgegenkam. Auf dem Player Piano bewegt sich, was erklingt, qua Maschine vermutlich so nah an den Ideen des Urhebers wie nie zuvor. Aber ein Klavierspieler, der sich hinsetzte und eine der Studies von Hand, auf einem normalen Konzertflügel spielte, müsste mehr als vier Arme und die Kleinhirnkapazität haben, die dann auch noch kompliziert verwobene Schichten verschiedener Zeiträume und Zeitstimmungen formplausibel zu koordinieren hätte. Und selbst, wenn es Pianistinnen mit vier und mehr Armen und entsprechenden Kleinhirnfähigkeiten gäbe – Musik wie in Study 7 mit ihrem höchst munteren, der Vielgesichtigkeit auch guter Laune Gestalt gebenden Kontrapunkt würde bei ihnen qua Instrument irgendwie doch wieder nach Tschaikowsky oder Rachmaninoff klingen (im besten Fall nach Strawinsky). Der fiktive Edelsolist würde in Study 10 am Anfang klingen wie ein gut rasierter Gershwin after hours in irgendeiner Bar in Harlem. Aber dann schichten sich Räume mit je eigenem Zeitinterieur in derselben Zeit; es klingt, als stellten zwei, drei Barpianisten, mehrere Gershwins mit Kippe zwischen den Lippen auf einmal, in sich überlagernden Zeitschichten eine neue Art Kontrapunkt vors Ohr, einen Kontrapunkt ohne Einheit der Zeit (wie steht es im Traum damit?) –  eine Dialektik der Zeit entfaltet sich.

Study 9

In Study 9 spielen die Halbtöne eine Rolle, ohne dass nun von Chromatik zu reden wäre. In Nancarrows Musik gibt es weder Melodien, noch sonst den Ausdruck der Gestimmtheit eines Einzelwesens, Semantik erübrigt sich. In seiner Polyphonie der Zeitverhältnisse steht das Einzelne im steten Abgleich, Austausch und Widerstreit mit dem anderen und mit den anderen. So funktioniert zwar auch die alte Polyphonie. Nur sind in ihr die anderen Stimmen nicht wirklich anders, sie gehorchen in allen Stimmen denselben Zeitmaßen und Harmonien. In Nancarrows “temporaler Vielschichtigkeit” (Ligeti) tauschen sich dagegen grunddifferente Momente der Form, der Zeit, der Atmosphäre aus und vermischen sich zu einem Gesamteindruck, den eins, in Nancarrows Sinn, als Musik nicht für Einzelne, sondern fürs Kollektiv hören sollte.

Weil es keine traditionellen Verlaufsformen mehr gibt, fehlen auch Expositionen eines eingängigen Themas oder Motivs, es gibt keine Überleitungen und Schlusswendungen wie gewohnt. Die Studies enden oft jäh, wenn auch bis zum letzten, dem Grundton logisch ausgearbeitet und abgeschlossen, Study 9 ist nicht die einzige Ausnahme: Gegen Ende deutet ein echtes Ritardando auf den Schluss hin; etwas, das stark an eine turbulente Stretta von Rossini erinnert, macht das Herz munter, es hüpft.

Die maschinenhaft unerbittliche Geradlinigkeit eines stark rhythmisierten Cantus firmus in Study 12, der, oft in den Bass wandernd, einmal wie ein Choral, einmal wie eine Spaßfigur im hohen Diskant durch eine Vielzahl von Variationen geht; die in einer Art eingeschobener Solokadenz erkennbare spanisch-mexikanische Gitarrenmusik als Ausgangspunkt; die an Bachs Orgelpräludien erinnernden maschinenrasenden Arpeggienketten – all das wird der Handarbeiter am Konzertflügel sowenig zuwege bringen, wie die von der Maschine kühl gefilterte Melancholie jenes Cantus firmus.

Aber es gibt 2023 Musiker, die Nancarrow spielen können, nur eben keine Pianisten. Die Offenheit der Studies in Richtung Vergangenheit und Zukunft erweist sich in der wachsenden Zahl von Bearbeitungen. Das Ensemble Modern hat schon vor vielen Jahren eine (großartige) CD mit Instrumentalbearbeitungen einiger Studies herausgebracht, und man darf sich freuen, was aus Nancarrows Begriff von Polyphonie – wieder analog zu Bachs, auch nicht für ein bestimmtes Instrumentarium komponierter „Kunst der Fuge“ – noch alles an extrem kurzweiliger Musik entstehen wird in den Nancarrow-Bearbeitungen und Weiterentwicklungen für diverse Instrumente auf diversen Kontinenten.

Vom Blatt gespielt von reaktionsschnellen, Takt und Puls gnadenlos mitzählenden und mitfühlenden Musikerinnen ist die Riesenstimmenzahl kein Problem, egal, wie viele Stimmen Nancarrow für eine bestimmte Studie in den Lochstreifen gestanzt hat: eine entsprechende Zahl von geschickten Bläsern und Streichern kann die damit vom Urheber gewünschten – maximal 88 – Töne erklingen lassen, von Kammermusik bis zu großorchestraler oder brachialrockn’rolliger oder jazziger oder schönbergscher – am Ende immer zu nancarrowscher Wucht.

Study 3e

„Meine Zeit wird kommen“, hat Gustav Mahler einst gesagt. Nancarrow hätte das noch zu Lebzeiten im Perfekt formulieren können. Er war extrem wortkarg, nicht schüchtern, ihm fehlte es auch nicht an Ausdrucksvermögen. Er war nur – kein Wunder bei jemand, der es so lange aushielt, ignoriert zu werden und der es trotzdem schaffte, konzentriert weiterzumachen – extrem ich-stark. Da kann man gut die Klappe halten. junge Welt, August, 2023

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Mozart Requiem. Savall.

Mein Gott, noch einmal Mozarts Requiem, es gibt doch nun wirklich genug davon – jede Menge Annäherungen in allen denk- und fühlbaren Lesarten dieses eindeutig letzten Mozart-Fragments; es wurde, zumindest die Teile, die gesichert von Mozart sind, auf dem Sterbebett ersonnen. Nun aber Jordi Savall. Der, soll man sagen spanische? soll man nicht, denn die Katalanen legen, wie in den letzten Jahren deutlich, viel Wert auf Identität – also Jordi Savall, der katalanische Musikwissenschaftler, der Gambist und polyglotte, polymediale Aktivist alter Musik, hat mit seinem Chor La Capella Nacional de Catalunya und dem Ensemble Le Concert des Nacions eine, in mediterraner Kraft wurzelnde Spielart historisch informierten, historisch beflügelten Musizierens geschaffen. Vom Introitus dieses katalanischen Mozart-Requiems an ist klar: die Aufnahme macht vom zweiten Ton an mit dem Tempo – nicht allein mit Schnelligkeit, auch mit einer unerbittlichen Geradheit des im Takt Voranstürmens – deutlich: hier wird absichtsvoll drauflos musiziert. Ergo kein erlauchter Schnickschack, nicht die Sterbebett- und Jenseitsahnungs-Nummer wie so oft im Fall Schubert, kein Weihrauch. Auch aber keine aufs Referenzielle erpichte Demonstration des spektakulären Gegenteils für den Markt.

Viele mit Mozarts Requiem Vertraute werden erstaunt sein: der in der Höhe geradeaus wie ein Laser zielende Sopran Rahel Redmonds im Kyrie schreckt an der Grenze zum Stilbruch fast ab ohne das gewohnte Timbre. Die allerdings vom Komponisten nur wenig exponierten Solisten interagieren mit einem dynamisch präsenten Chor, einem das Geschehen dunkel sparsam akzentuierenden kleinen Orchester. Es wird sich den Interessierten ab dem Kyrie in Savalls uneitler Lesart auch die Erkenntnis aufdrängen: nicht erst den sterbenden Beethoven hat die Lektüre einer ihn zu spät erreichenden Händel-Gesamtausgabe aus England auf dem Sterbebett beglückt – auch den spätesten Mozart suchte der anglo-sächsische Händel glücklich heim, Bachs und Händels Kontrapunkt begleiteten ihn himmelwärts.

Savalls Chor – maßstäblich transparent zum von Mozart kammermusikalisch klein besetzten Orchester – entfaltet sich prächtig. Das Kolorit des Ganzen (ohne Flöten, Oboen, Hörner) mit zwei Trompeten, drei Posaunen und zwei, die Aura stark prägenden Bassetthörnern entspricht den wunderbar empathischen, vom Freimaurer Mozart für die Logen komponierten späten Musiken zum Thema Trauer und ToVor so viel südlichem aufgeklärt kraftvollem Musikantentum rückt auch die Frage nach der Qualität der bis heute strittigen, weil unzureichend belegten Quellenlage dorthin, wohin sie gehört: in den Hintergrund. Savall spielt die von Joseph Eybler und vor allem die vom mit Mozart intim vertrauten Schüler Franz Xaver Süßmeyer bearbeiteten oder aus Eigenem ergänzten Partien mit derselben Prägnanz und düsteren Leuchtkraft wie alles Übrige. Kommt Zeit, kommt Offenheit. In Jordi Savalls 2023er-Perspektive wird Mozarts Requiem erneut interessant und hörenswert. junge Welt, Juli 2023

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ensemble resonanz Saison 2023/24

»Auch Zwerge haben klein angefangen.« Ein Filmtitel Werner Herzogs aus den 70er Jahren. Wer den Vorzug hatte, die Mitglieder des Ensemble Resonanz in T-Shirts und kurzen Hosen oder Röcken zur Zeit ihres Karrierestarts in Hamburg 2001 zwischen Fahrrädern und Aldi-Tüten in ihrer ersten Hamburger Residenz im Keller der Laeiszhalle zu erleben, fühlt sich an Herzogs Zwerge erinnert, freilich, wie sich erweisen sollte, eine Art Riesenzwerge. Der Start in Hamburg fand 2017 an jenem Abend sein Ende, als dieser erstaunliche Klangkörper als Residenz-Ensemble des Kammermusiksaals der Elbphilharmonie die Bühne betrat.

Will man einen Wesenszug globaler Entwicklung im dritten Jahrtausend auf den Begriff bringen, stößt man auf »Transformation«. Fürs Ensemble Resonanz ein Schlüsselwort. Die Gruppe sieht sich selbst in einer »Brückenfunktion«: In der exquisiten Reihe führender deutscher Kammerensembles baut Ensemble Resonanz programmatisch und praktisch überzeugende Brücken vom Status quo in eine für die klassische Musik fruchtbare Zukunft.

So steht es in der Ensemble-Resonanz-Saisonvorschau für 2023/2024, am Ende des Frühlings in den Räumen des Ensembles in kleinerem Kreis vorgestellt von Geschäftsführer Tobias Rempe und PR-Frau Ruth Warnke. Zunächst die Programmgestaltung. Mögen Spitzenklangkörper wie das Frankfurter Ensemble Modern, die Musikfabrik oder andere Spezialensembles neben der Arbeit mit vornehmlich zeitgenössischen Komponisten selten auch Ausflüge in den Bereich älterer Musik unternehmen; mögen das Freiburger Barockorchester, die Akademie für Alte Musik Berlin, Concerto Köln als die führenden deutschen Spezialensembles für ältere Musik noch seltener auch mal ins 20. Jahrhundert vorwagen – Marginalien. Ensemble Resonanz wird dem Anspruch, auf überwiegend modernen Instrumenten an der Weiterentwicklung auch historisch-kritischen Musizierens mitzuwirken, gerecht: Zusammen mit dem Dirigenten Riccardo Minasi legte man zuletzt Mozarts sinfonische Schluss-Trias vor (die »Prager« und die »Linzer« Sinfonie folgen im Oktober 2023). In der kommenden Saison geht es mit Brahms weiter.

Zugleich stehen Namen wie Enno Poppe, Rebecca Saunders, George Aperghis oder Georg Friedrich Haas für die gelebte Kontinuität neuester Musik im Ensemble Resonanz. In der kommenden Saison schlagen Künstler wie der britische Komponist und Allrounder Matthew Herbert ihre Zelte beim Ensemble auf. In seinem Stück »The Horse« schlägt Herbert den Bogen vom Experimentaltheater zu den Samples und Sounds »klassischer« Musik des Tages. Im großen Saal der Elbphilharmonie trifft Ensemble Resonanz in der alevitischen Sängerin Aynur Dogan auf »Kurdistans größten Vokalstar«. Auf Kampnagel machen die Hamburger Brückenbauer zusammen mit der Marc Sinan Company in einem performativen Antikriegskonzert die Menschheitskatastrophe Krieg bewusst.

Transformativer Brückenbau auch, was den Ort des Erklingens klassischer Musik angeht. Der exzellent repräsentativen Erscheinungsweise für die wachsenden Neugierränder des gewesenen Bildungsbürgertums im elbnahen Kammermusiksaal (und weltweit auf den großen Podien der Klassik) haben die Ensemble-Resonanz-Musiker von Anfang an die Idee der Verbindung von Klassik und Klub hinzugefügt: Das hocherwünscht existenznotwendige junge Publikum braucht eine habituell wie kulturell differente, eigene Aura.

Für diesen Zweck ist im Bunker am Heiligengeistfeld, vis-à-vis dem St.-Pauli-Stadion, ein »lässiger Hermaphrodit zwischen Klub, Konzertsaal und Bar« (Marcus Stäbler, NDR Kultur) entstanden, der »Resonanzraum«, Heimat und Probenort für die Musiker des Ensembles, »Möglichkeitsraum« fürs Publikum. In der demnächst ins zweite Jahrzehnt gehenden Reihe »Urban Strings« und anderen Formaten ist dort von konzentrierter Teilhabe und nachdenklichem Genuss bis zu gehobenem Abhängen alles möglich.

Transformativ interaktive Wirkung auch in die und aus der Elbmetropole, so Konzerte für im reichen Deutschland strukturell Unterversorgte wie die Demenzkranken, die Kinder. Andere Bunkernutzer wie der Klub Übel & Gefährlich werden zu Medienpartnern. Ein kulturelles Geben und Nehmen im Hinblick auf den schickverrufenen Stadtteil St. Pauli und das Schanzenviertel ringsum: Ensemble Resonanz spielt im Puls der Zeit, weil es den sechsten Finger draufhat.

Ökonomisch ist das Ensemble als GbR mittelständisch aufgestellt, politisch eher basisdemokratisch. In Tobias Rempe, anfangs selbst Mitglied der Geigengruppe, hat es nach einigem Suchen einen Manager und künstlerischen Inspirator gefunden, der das Ethos der Kapelle selbst lebt und zugleich so authentisch wie erfolgreich nach außen vertritt und organisiert. junge Welt, Juli 2023

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Strawinsky.Viol’konzert.Kammermusik.Faust.Les Siècle.Roth.

Wer kennt Strawinsky nicht. Wer hat nicht wenigstens den Namen schon mal gehört. Ein Künstler voller Widersprüche. 1882 im zaristischen Russland geboren, dort aufgewachsen. In Frankreich 1910 auf einen Schlag berühmt geworden. Wechselnd zwischen Russland, Frankreich, später auch der Schweiz, verbrachte er viel Zeit in Paris, seit 1920 dauerhaft, bis er 1940 vor den Nazi-Truppen in die USA floh. Er starb dort 1971.

Keiner seiner vielen Kollegen in der damaligen Avantgarde war so geradezu populär in der Welt der elaborierten Musik wie Igor Strawinsky. Niemand war zugleich in der Fachwelt so umstritten. Theodor W. Adorno spitzte die Sache zu, ihm ging es um Polarisierung: Arnold Schönberg (=der Künstler) gegen Igor Strawinsky (=der Scharlatan). Große Teile des Publikums haben mit Strawinsky indes eher das Problem: Seine Musik erreicht das Herz nicht oder sie erreicht oft für nur kurz das Herz jener, welche sich Zeit zum Hinhören nehmen. Sie klingt „trocken, kühl, durchsichtig und prickelnd wie Champagner extra-dry“, so der Meister selbst in seinen Erinnerungen.

François-Xavier Roth. Photo by Mark Allan

Francois-Xavier Roth, er wird der internationalen Musiköffentlichkeit im Frühjahr 2023 mehr und mehr als einer der bedeutenden Dirigenten der Gegenwart kenntlich, ist als Gürzenich-Kapellmeister mit klassisch-romantischer Musik bekannt geworden. Auf einer neuen CD macht er sich, zusammen mit der Geigerin Isabelle Faust und seinem, auf alten Instrumenten arbeitenden Orchester Les Siècle, an die klassische Moderne: Strawinskys Violinkonzert sowie andere, gezielt der Geige gewidmete Kammermusiken.

Die ersten beiden Sätze des Violinkonzerts beginnen denn auch mit dem gleichen orchestralen Aufschrei, gefolgt von drei aufstampfenden Bekräftigungen, dann geht echt die Post ab. Mit Brecht, dessen Frage allerdings auf die Macht zielte, die angeblich verfassungsgemäß „vom Volke“ ausgeht, wäre mit Strawinsky zu fragen: wohin geht sie aber, die Post? Wer Antwort auf diese Frage weiß, hat Strawinsky begriffen, die Ohren für seine Musik gehen ihr auf.

Um es kurz zu machen: sie geht, die Post der strawinskyschen Musik, in Richtung Ballett ab, von dort kommt sie. Von der Bewegung in der vom Rhythmus skandierten Zeit. Sie bewegt sich in ihr in einmal schleppenden, einmal rasenden Schrittfolgen, in Pirouetten, Gesten, Sprüngen, Pausen und erneuten Drehungen. Die rhythmische Energie ist ihr Inhalt und Ausgangpunkt, ihre DNA auch in den meisten solcher Werke Strawinskys, die nicht, wie eine Vielzahl anderer, ausdrücklich als „Ballett“ deklariert sind. Kein Wunder also, dass der polyglotte Russe im Wirkungsfeld des ingeniösen russischen Impresarios Sergej Djagilew (1872-1923) stand, als Strawinsky durch dessen, im Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts sensationelle „Ballets russes“ berühmt wurde. Undenkbar das Ganze auch ohne den legendären, in Kiew geborenen Tänzer und Choreographen Vaslav Nijinski sowie ohne bildende Künstler vom Schlage Pablo Picassos, Henry Matisse‘, Max Ernsts.

Dass es Strawinsky erklärtermaßen nicht um Dinge wie das Abbilden und Hervorrufen von Gefühlen ging, sondern – so eines seiner Lieblingsworte – um „Konstruktion“, also um strenge Form, hat ihm den Ruf eines, bei Linken nicht beliebten, Formalismus eingetragen. Bewirkt vielleicht durch eine gewisse Aufführungstradition, kann diese Musik akademisch wirken. Wenn auch elegant und gut gemacht, klingt sie oft ausgedacht und kühl, eben nicht nur extra-dry sondern auch on the rocks.

Das progressiv Moderne an ihr bleibt die Bewegung. Sie kommt in Strawinskys Musik zu sich selbst, wird zu dem, was früher der „Gehalt“ war. Über die ihr als Tanz eingeschriebenen, von Strawinsky souverän beherrschten, Formen gerät sie nie „romantisch“ außer Kontrolle.  Isabelle Faust und Francois-Xavier Roth musizieren in der bis ins Letzte durchdachten Rage – für Momente auch Schwermut – dieser Musik der mittleren der drei Schaffensphasen Strawinskys die Kraft ihrer Ursprünge, sie liegen in der Volkskultur des alten Russland.

Selten hat man eine Meisterin des noch im Pianissimo intensiven Non vibrato wie Isabelle Faust derart kraftvoll vibrieren gehört wie in „diesem“ Strawinsky. Doppelgriffig zerhackt ihr Springbogen die Zeit, sie hat nicht nur ein großes Talent, sie hat auch, wenn die Musik es ihr zuschreibt, ein geradezu ansteckendes Temperament, sogar, im Sinn Strawinskys, schmalzige Portamenti hält sie vor. Roths Orchester lässt im ersten und letzten Satz an das von Strawinsky gemeinte „Prickeln“ denken. Das schäumt und perlt allerdings selten, Strawinskys Instrumentation ist für alles gut. Man hört eher die kristallklare Schärfe, mit der Champagnerperlen den Gaumen stechen; die Musik ist durchhörbar und klar strukturiert wie etwa jene Rieslinge aus Deutschland, die man heute „feinherb“ nennt; sie können spritzig sein, sie sind nicht billig.

Die jungen Genies der Musik, der Literatur, der bildenden Kunst, die da wie auf ein Kommando im Paris vor dem Beginn des 1. Weltkriegs zusammentrafen, erfüllte alle das Verlangen, der dicken Restsüße, von der die Kunst des vorausgegangenen Jahrhunderts am Ende schwer befallen war, die radikale Ordnung und Kühle des Intellekts entgegenzusetzen. Faust und Roth zeigen in der Neuerscheinung, dass Musiker wie Strawinsky dabei nicht den Spaß an der Musik verloren. Extra-dry und feinherb wirken beispielsweise auch die in derselben Zeit entstandenen Bilder der blauen Periode Picassos, auch sie malerisch höchst komplex und kraftvoll.

Ein anti-romantisches Konzept. Ihm wohnt die Kraft der Aufklärung inne. Djagilew hat dieses Konzept mit Blick auf die Kunst – gemeint auch deren auf Systemveränderung erpichte Abteilung –in der Losung formuliert: „Erstaune mich!“ Die Neuaufnahme mit Isabelle Faust und Xavier Roth kommt dem im schönsten Sinn nach.  

Strawinsky: Violinkonzert & Kammermusikwerke – Isabelle Faust / Les Siècle / Francois-Xavier Roth (Harmonia Mundi France)

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Heiner Goebbels.Stifters Dinge.

Es ist ungeheuerlich. Wie kann ein Stück Musik, das aus neun Stücken Musik besteht (von denen durch die Bank nicht sicher ist, ob für das, was sie sind, noch der Begriff „Musik“ eine gute Wahl ist), wie kann solch ein Stück Reize und Assoziationen auslösen, die buchstäblich alle Sinne ansprechen? Und dann: wie soll man Wesen und Gestalt von Heiner Goebbels‘ Stück „Stifters Dinge“ überhaupt beschreiben, welches Genre bedient es?

Obwohl es eine CD mit der akustischen Erscheinung des Stücks gibt, ist „Stifters Dinge“ von Idee und Präsenz her Kunst für ein Life-Erlebnis. Die Leute betreten eine ausreichend große Halle. Im Dunkel, sparsam ausgeleuchtet, mehrere flache Wasserbecken, drum herum eine Art Maschinenpark, eine dunkel theatralische Aura. Kein Vorhang. Eins sitzt unmittelbar im Geschehen, mehr in als an der Bühne.

„Licht, bewegte und unbewegte Dinge, Projektionen, Bühnenregen, Nebel, Trockeneis, aufgezeichnete menschliche Stimmen, verstärkte Klänge, hervorgebracht“ (von Musikinstrumenten) „und von zu Klangerzeugern umfunktionierten Dingen, variieren einander sukzessiv und simultan“, so der Musikwissenschaftler Rasmus Nordholt Frieling in seinem Buch „Musikalische Relationen“.

Eine Vielzahl maschinenhafter oder naturhaft schürfender oder lauthals wie tropfender Regen in Erscheinung tretender Klänge metallischer, hölzerner, steinerner oder flüssiger Natur erwartet die Anwesenden. Die Wasserbecken füllen sich. Ein von unsichtbarer Hand über groben Untergrund gezogener Steinklotz gibt sich geräuschvoll zu erkennen. Dazu vom Computer die Stimmen von Ureinwohnern irgendeiner zeitfernen Weltgegend. Ein akustisches Welttheater voller Imaginationsschübe und Gedanken an Klimaschutz, Kolonialismus, Überlegungen über den Unterschied von Syntax und Semantik in der Sprache. Eins sitzt an und in der Bühne wie als ihr Teil in einer imaginären Welt aus Klängen und einer Sorte Sprache, die selbst Musik ist wie die Musik Sprache. Mindestens drei der fünf Sinne sind im Spiel: Augen, Ohren, Nase.

https://www.heinergoebbels.com/works/stifters-dinge/4

In zwölf „Songs“, die unter Überschriften wie „Nebel“ / „Salz“ / „Wasser“ / „Wind“ / „Die Bäume“ / „Das Ding“/ „Die Küste“ / „Der Sturm“ aneinandergereiht sind, ruft Heiner Goebbels die Elemente und einige archaische Monumente der Naturerscheinung wach – er lässt wachrufen. Aber fürs Publikum sichtbar gibt es keine Performer. Alle akustischen Begebenheiten, die sich in Geräusche, in Klänge verwandeln, die zu Tönen werden, welche sich zu Melodien bis hin zum Thema des a-Moll Orgelpräludiums BWV569 von Bach formen – werden im Moment, da sie erklingen, von Maschinen erzeugt; die Klaviere lassen ohne direkte menschliche Einwirkung von sich hören. Das Ganze geht komplett von Algorithmen aus.

Aber romantisch umfassender und zugleich modern intensiver als in dieser Sorte – ein Angebot – MaschinenTheaterMusikInstallation, hat kein Dvorak, kein Wagner, kein Bruckner und keine Sechste Mahler die Welt als Naturereignis und globales Netz von Klangerscheinung und Sprache in Musik hereingeholt in die Seele.

Heiner Goebbels

Die genannten Größen der Musik vergangener Zeiten bleiben groß. Aber groß eben innerhalb einer bestimmten Art musikalischer Formation, die sich seit dem Ausgang des Mittelalters in Mitteleuropa gebildet hat. Heiner Goebbels geht neue Wege, radikaler neu als etwa die den Musikgeneigten bekannten „neuen Wege“ Beethovens. Denn die Art und Weise, wie Goebbels mit dem umgeht, was bei ihm unterm Strich ein, wenn nicht neuer, so doch radikal erweiterter Begriff von Musik und ihrer Praxis ist, lässt vermuten: sein Komponieren sieht sich und seine Ästhetik signifikant weniger eingebunden ins Netzwerk der Tradition, als es beim komponierenden Beethoven bis zuletzt in der Missa der Fall war. Beethovens großartige Neuerungen stellten in der Konsequenz das Überkommene, dessen Existenz riskierend, infrage. Aber darum geht es Goebbels nicht. Sein Verhältnis zur ihn umgebenden Welt ist im Vergleich zur Tradition – hier macht das aktuelle Reizwort endlich einmal Sinn – dereguliert. Er zitiert, collagiert, montiert, was an äußerer Natur, an Tradition, Geschichte oder Gesellschaft vors Künstlerbewusstsein tritt. Er lässt, es in akustische Wellen verwandelnd viel freier als die Alten, etwas Neues daraus werden. Goebbels zerstört die alte Musik nicht, er verweist sie, wohin sie gehört und wo sie schon lang ist: ins Museum. Wer wissen will, was draußen in der Welt vorgeht, besorge sich Goebbels CD “Stifters Dinge“. Der im Song „Trees“ („Wald“) mit einem langen, von Goebbels mit seiner Art Klangmaterial wie ein Lied komponierte Text des österreichischen Dichters Adalbert Stifter (1805-1868) ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch in einem guten (historisch, materialistisch, dialektisch) Museum noch viel über die Welt draußen zu erfahren ist.

Heiner Goebbels/Klaus Grünberg/Hubert Machnik/Willi Bopp: Stifters Dinge (Universal/ECM; spotify)

Heiner Goebbels/Klaus Grünberg/Hubert Machnik/Willi Bopp: Stifters Dinge (Universal/ECM; spotify)

CDREVIEWS

Heilige und Hure.

Patrizia Kopatschinskaja, hier eher kindlich

Auf den Konzertplakaten der Klassik steht der Name des Orchesters und/oder des Solisten deutlich im Mittelpunkt, das Repertoire viel kleiner irgendwo drunter. Maximal drei Komponisten, mehr sind es in der Regel nicht, gegriffen meist aus dem traurig engen Fundus der »Großen« der Musik des 19. Jahrhunderts. Das war am Dienstag abend, dem 18. April, in der Elbphilharmonie in Hamburg anders. Unter dem Titel »Maria Mater Meretrix« stand im großen Saal das Bild der Frau in der Musikgeschichte im Mittelpunkt der »Resonanzen 5« des Hamburger Ensembles Resonanz. Für das Konzept zeichneten die zwei Solistinnen des Abends verantwortlich, Sängerin Anna Prohaska und Geigerin Patricia Kopatchinskaja, erstere im langen Barockkleid, letztere wie immer barfuß, in Hosen.

Anna Prohaska

Mit Gustav Holsts (1874–1934) »Jesu sweet« op. 35 ging es im Mittelalter los, allerdings präraffaelitisch zurückgegriffen, der Saal abgedunkelt. Beim folgenden Walther von der Vogelweide (1170–1230), so der für die Maßstäbe der deutschen Gegenwart erfreulich kritische Programmheftbeitrag (Thilo Braun), taucht die Frau lediglich als gebärende »magt« auf. Walthers »Palästinalied« macht den Gläubigen nach uraltem Rezept die räuberischen Kreuzzüge ins »heilige Land« als Missionen im Namen göttlicher Liebe schmackhaft, heute ziehen sie im Namen der »Menschenrechte« los.

Frank Martin

Tobias Rempe, künstlerischer Leiter und Manager des Ensemble Resonanz, wies in seiner kurzen Einführung vor dem Konzert darauf hin: Die in der Marienverehrung durch die Jahrhunderte unveränderte Festlegung der Frau auf ein unkörperliches, abhängiges, duldsames Nebenwesen hat sich bei Licht besehen bis in die Gegenwart nicht entscheidend bzw. nicht überall gewandelt. Die Musikentwicklung in derselben Zeitspanne fand indes in einer Folge musikalischer Revolutionen statt. So passierten an diesem Abend Mittelalter (Hildegard von Bingen), Choralpolyphonie (Guillaume Dufay), Renaissance (Tomás Luis de Victoria), Barock (Antonio Lotti und Antonio Caldara) und Wiener Klassik (Joseph Haydn) Revue. Die Romantik war mit dem schönen Lied »Maria durch den Dornwald ging« und in spätesten Vertretern wie Frank Martin (1890–1974) vertreten. Gipfelnd im »Magnificat«, verarbeitet Martin in seinem »Marien-Triptychon für Sopran, Violine und Orchester« die Tradition auf dramatische, mit bis zur Zwölftontechnik angereicherte Art.

Eingestreut die Zeitgenossen. George Crumbs (1929–2022) erstes Streichquartett »Black Angel« trägt den Untertitel: »In tempore belli«, der Programmhefttext bringt es zeitlich mit dem Vietnamkrieg in Verbindung. Ein zarter, hoher Klang füllte an seinem Ende die Konzertsaalluft; er entsteht, wenn Kristallgläser von Geigenbögen angestrichen werden, darüber eine Art schriller Serenade des durchweg am Steg gestrichenen Solocellos. Es wurde leise, als die Gläser wieder allein erklangen, die Stimmung dimmte nicht zum ersten Mal an diesem Abend ins Gefühlig-Intime.

Prohaskas Sopran bewältigte die sich zwischen den Kompositionen auftuenden, maximal den Faktor acht aufweisenden Jahrhundertsprünge souverän, stilsicher und beeindruckend schön. In den drei »Kafka-Fragmenten« des Ungarn György Kurtag (geb. 1926) drang das fahle Licht und die Gebrochenheit einer brutal dissonanten Gesellschaftsordnung mit ihrer marienhaft statischen Verehrung der bürgerlichen Familie ins Ohr. In ihrem in virtuoser Rage dahinspringendem »Danse macabre« lief Kopatschinskaja (geb. 1977) zu großer Form auf. Sie ist geigespielend ein Wesen zwischen Fee und – im feministisch positiven Sinn – Hexe. Mit Hanns Eislers (1898–1962) »Kuppellied« aus Brechts »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« ging es dem Ende zu. Das Gegenteil der Jungfrau Maria, die Hure Meretrix des Programmtitels, wurde zu neusachlich-aufmüpfiger Musikwirklichkeit. Caldaras Lied der Maria Maddalena, gesungen zu Füßen Christi, machte den herzergreifenden Schluss.

Es gibt keine »großen« und »kleinen« Komponisten, keine Unverträglichkeiten zwischen Stilen und Zeiten. Es gibt nur gute und schlechte Musik und Musiker, die historisch stimmig mit ihr umgehen. Ein gelungener Abend. Werbung für eine von Vorurteilen befreite Klassik. junge Welt, April 2023

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Fantasie.Par Alexander Melnikov.

Tangentflügel von Christoph Friedrich Schmahl (1790), rest. von Georg Ott

„Fantasie“ nennt Alexander Melnikov seine neue CD, ein, wie es in der Popmusik heißt, Konzeptalbum – in zweierlei Hinsicht. Der in Berlin lebende Pianist aus Moskau widmet sich hier der musikalischen Gattung Fantasie; er macht anhand von sieben historischen Instrumenten aus seiner „Collection“ anschaulich, wie, analog zur Entwicklung der Musikgattung Fantasie – und diese zugleich beflügelnd – die Klavierbautechnologie heranwuchs. Die Wortschöpfung „Fantasie“ geistert seit dem 16. Jahrhundert durch die Musikgeschichte. Johann Sebastian Bach (1685-1750) hat sie auf den Begriff gebracht in Richtung einer Form, die später sein zweitältester Sohn Nachfolgern wie Mozart oder Schubert als „Fantasie“ hinterließ.

Der Vergleich von sieben Entwicklungsstadien sowohl des Zeitstils als auch des Instruments, in dem er sich verwirklichte: das Siebenerlei der Klangentwicklung wird anhand einer einzigen musikalischen Form demonstriert. Sie wandelt sich im 19. Jahrhundert bis zur Unkenntlichkeit. Bleibt sich aber in der Haltung des Spielers zu dem, was Musik in einem einzigen Moment sein und werden kann, durch alle Zeiten erkennbar ähnlich. 

Flügel von Érard (1885), rest. von Markus Fischinger

Eine Haltung, mit der sich in dem dreißigjährigen Bach in Köthen eine Wendung vollzog. Von der bloßen Demonstration, von der musikalisch distanzierten Schilderung ausgewählt aristokratischer Gefühlszustände im Barock wendet sich die Musik von da an der Innerlichkeit ihrer Erfinder zu. Aus den vielen, Bachs Fugen vorangestellten Präludien entwickelt sich in der berühmten »Chromatischen Fantasie und Fuge d-Moll« die Keimzelle der Fantasie. Kein Zufall, dass damit die Hinwendung von der gottesdröhnenden Orgel zum Privatklang eines »Claviers« einherging.

Was Bachs Genie der weltzugewandten, lebensfrohen köthener Atmosphäre verdankte, war – mit der Entdeckung spontaner Lebenslust nun auch im Komponieren – eine gewisse Distanz zu den altehrwürdigen Regeln des Satzes, der Periodenbildung, der Tonartendramaturgie. Es ist die Haltung des improvisierenden, des sich im Moment der Aufführung ungebunden aus der Fülle des Angebots an Motiven, Imitationen, Variationen, an schier endlos modulierenden Arpeggien-Perlenschlangen bedienenden Musikers – unvorstellbar, dass so etwas von den, sich auf dem Podium als Einheit von Komponist und Interpret zeigenden Tonsetzern aus dem Gedächtnis nachnotiert wurde.

Alexander Melnikov, ein nicht erst seit Februar 2022 putinphober NATO-Kritiker, bewegt sich auch in der Musikgeschichte als Freigeist. Er gilt nicht als „Spezialist“. Vielleicht, weil er sich beim Spielen von Bach bis Schnittke so ideomatisch ausdrückt, als sei er einer. Er spielt auf der neuen CD, zum ersten Mal in seiner langen Diskografie, auch ein von der Klaviertastenhaptik weit entferntes Cembalo, seine Finger arbeiten auf den Tasten eines mozartschen Hammerflügels (Anton Walter), für Mendelssohn-Bartholdi wählt er einen Alois Graff, einen Érard für Chopin, den Busoni spielt er auf Bechstein, den Schnittke auf einem modernen Steinway. Der rote Faden, der Bezugspunkt, bleibt bis zum Steinway – Schnittke bedient gekonnt die Unique Playing Points (UPP) dieser Marke – der alte Bach.

Eine Enzyklopädie des Klangs per Tasten gespielter Saiteninstrumente, ein kleines Organon musikalischer Aura und eine kurze Formgeschichte der Fantasie in der Musik, alles dargereicht auf dem Silbertablett mit kühl-sensibler Leidenschaft inszenierter Musik, eine ausgemachte Geistes-und Ohrenschwelgerei. junge Welt, Mai 2023

Fantasie: Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Wolfgang Amadé Mozart, Felix Mendelssohn-Bartholdi, Frederic Chopin, Ferrucio Busoni, Alfred Schnittke (Harmonia Mundi France/spotify, apple music et al.)

CDREVIEWS

War früher wirklich alles besser?  

Der Klassikbetrieb im Wandel

SWR 2 , 2023

<– Eine von sechs: die Sopranistin Christine Schäfer

Ein ironischer Titel. Sechs Protagonisten des Klassik-Betriebs erzählen im Präsens, im Imperfekt, in der Vergangenheit aus sechs Perspektiven die Lage der Dinge. Vieles in dieser Branche blieb sich allzulange gleich. Anderes hielt mit dem unaufhaltsamen Wandel der Zeiten Schritt, es spielt ihm im Bestfall seine eigene Melodie vor. Eine unvermeidbar unvollständige Bestandaufnahme, eine Hommage an alle auf der Bühne und im Saal, die in einer unübersichtlichen Weltlage auf der Suche nach neuen Wegen sind.

Redaktion: Almut Ochsmann, Technik: Andrea Greß, Sprecherin: Bettina Müller-Hesse

RADIOARBEITEN

Bella Ciao.Mittwochs in der Einkaufszone.

Es gibt so Tage. Mittwoch. Alles ganz normal. Regenwetter, windig und kalt, ein trüber Tag auch in der Seele. Die unter größeren Bahnhöfen angesagte Shopping Mall ist überlaufen wie immer. Die Leute kommen von den Zügen, strömen zu den Zügen, sie eilen von A nach B. Reklame baggert von allen Seiten. Auf der Treppe nach oben prickelt es plötzlich wieder im Gesicht. Ich höre Musik. Ein fernes Akkordeon. Oben angekommen, blicke ich in die breite Öffnung der Fußgängerzone. Auch hier, von Bussen unterbrochen, strömt es hin und her. Niemand bleibt stehen bei dem Mann mit dem Akkordeon.

Aber was spielt er! Ich kenne das Lied, ich habe es Ewigkeiten nicht gehört. Er spielt es schnell, schwungvoll, nicht wie ein Lied der Trauer, mehr wie einen Tanz. Ich nähere mich. Er sieht orientalisch aus, auf seinem Kopf eine schwarze Pudelmütze, Bart und Haare von feinem Weiß durchwirkten Schwarz, eine warme Jacke. Er lacht. Dieses Lied an solch einem Tag unter solchen Menschen! Ich zücke das Portemonnaie, ich fingere einen Euro heraus und werfe ihn im Bogen zu den anderen Münzen in die Akkordeontasche, ich schaue ihn an und rufe begeistert und für die geschäftige Menge ringsum wohl ein wenig zu laut: Bella ciao! Er lacht. Ich gehe weiter. Ich höre hinter mir, mit immer neuen Verzierungen und Überleitungen, immer wieder einmündend in denselben, das Herz erwärmenden Refrain: Bella Ciao!

In »Bella Ciao« betrauern die Antifaschisten ihre Heldinnen und Helden, sie beschwören in ihnen zugleich den Kampf per la libertá – wie die italienischen Partisanen sangen – , für die Freiheit von Ausbeutung und Unterdrückung; in diesem Kampf wirkt das Ethos der Märtyrer auf die Lebenden zurück. Es nimmt mich mit. Ich putze mir die Nase. Verschämt entferne ich mich ein Stück. Es ist alles viel zu rührselig. Er spielt das Lied immer fort. Und miteins geht mitten in dieser angsterfüllten Welt wertebasierten Raubs in mir ein anderer Himmel auf. Es ist mir egal, was die Leute denken. Warum soll ein fast alter Mann in irgendeiner Einkaufszone aus irgendeinem persönlichen Grund nicht in der Menge stehenbleiben und herzerschütternd weinen im Versuch, so auszusehen, als putze er sich die Nase? Der traurige Abschied dieses Lieds eines todgeweihten Freiheitskämpfers geht in mir auf in der Vorstellung einer riesigen, „Bella ciao“ singenden Menschenmenge. Ein Meer schwarzer Haare, Hüte von Kokabauern, von Reisbauern, Palästinensertücher, Tarnfarben der Frauen der YPJ, irgendwo das Schwarz der Madres de Plaza de Mayo. Fröhlich untergefasst mitten unter ihnen singt in mir das Lied, getrieben vom zärtlichen Optimismus des – woher auch immer das Instrument kommt – auf jeden Fall blockfreien Akkordeons.

Wenige Meter entfernt stochert sich ein in Lumpen gekleideter, abgemagerter Mann meines Alters vor einer Wand mit in der Sonne vergilbten, schon lang nicht mehr gültigen Veranstaltungspostern auf Krücken vorbei. Auf einem der halb abgerissenen Plakate das in der Blässe immer noch krass bunte Selbstporträt Frida Kahlos. Ich drehe mich um. Eine junge Frau kommt mir entgegen, die rechte Hand über ihren runden schönen Babybauch gelegt. Hätte ich etwas in dieser Art irgendwo als Skript abgeliefert – jeder hergelaufene Medienmensch hätte mich vollzurecht raugeschmissen.

Der Wirklichkeit aber muss man so eine Story abnehmen, sie ist mir schließlich letzten Mittwoch zugestoßen. Und meine Weigerung, mich der allgemeinen Niedergeschlagenheit anzuschließen, ist nicht aus der Luft gegriffen. Wollte man etwa eine Weltraumstation bereisen und auf die kleine Einkaufszonenwelt neben dem Bahnhof dort unten hinabschauen; wollte man zugleich die Regionen auf dem vor uns in der unverstellten Sonne liegenden Erdball einfärben nach der Lebenseinstellung der Menschen, die in ihnen leben; und würde man die Regionen der Menschen mit der Lebenseinstellung in der kleinen Einkaufszone grau einfärben, die restlichen Erdteile, deren Bewohner aufgrund sehr verschiedener Lebensumstände eine grundverschiedene Weltsicht haben, dagegen blau – strahlte ein blauer Planet zu unserem Raumstationspanzerfenster herein. Das Grau, es fände sich überwiegend in der nördlichen Hälfte, füllte kein Drittel der blauen Weltenkugel, es schmölze ohnehin ganz langsam ab.

So wie der Westen tickt, kann selbstverständlich niemand ausschließen, dass auch das Unausdenkliche geschieht, dass alles anders kommt. Aber die wahrhaft internationale Gemeinschaft (der Friedfertigen) war ökonomisch und diplomatisch nie stärker als heute. So seltsam es zurzeit vielleicht klingt: es ist der Krieg als Ultima Ratio des kapitalistischen Systems, der im Frühjahr 2023 mit dem Rücken zur Wand steht. Der Versuch, ihn zum Teufel zu jagen, lohnt bis zum letzten Atemzug. Sorry für so viel Pathos. Bella ciao.   junge Welt, April 2023

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Beethovens Besondere.Die Missa.

(Zwischenüberschriften: Redaktion)

Beethoven hat immer Geburtstag. Mit Aufführung jedes seiner Werke wird er neu geboren. Besonders schwierig ist diese Neugeburt nicht bei den großen Werken, mehr bei den größten, jenen, denen auf ewig die Zukunft gehört. Die Zukunft der Missa solemnis D-Dur op. 123 hat so richtig vielleicht noch gar nicht begonnen.

Geburtshelfer der Stunde ist der belgische Dirigent und Ex-Altist René Jacobs. Die bis 2027 zum 200. Todestag des Tonsetzers weiterlaufende große Beethoven-Edition des Labels Harmonia Mundi France gab ihm mit dem Freiburger Barockorchester (FBO) und dem RIAS-Kammerchor sowie vier exzellent ins Konzept passenden Gesangssolisten erneut einen mit historischer Aufführungspraxis virtuos vertrauten Kreis von Musikern an die Hand.

René Jacobs

Vom Gebrauchswert zunächst. Die fünf Abschnitte des Ordinariums der Missa, Beethoven hält sich mit akribischem Eifer an die überlieferte Form des Texts, sind per Einzeltracks in ihren Teilen abzuhören. Das erleichtert jenen, die sich schlau gelesen haben und das Gelesene im einzelnen hörend überprüfen möchten, die Arbeit des Vergnügens. By the way: Wer zur Missa solemnis gerade nicht weiß, welches Buch, dem sei Jan Assmanns Arbeit zum Thema empfohlen. Von Haus aus ein international renommierter Ägyptologe, trägt der offenbar große Musikfreund und Kenner Assmann von Zeit zu Zeit auch in Musikbüchern enormes Wissen zusammen. Im Buch über die Missa findet sich von der Entstehungsgeschichte der Messform und Themen wie »Die Kunstwerdung der Messe« bis hin zum kurzen Einblick in die andauernde wissenschaftliche Kontroverse um die Missa auch eine detaillierte Werkanalyse; das Buch, für den Fall, dass man sich hineinwühlen möchte in die Missa, kommt zu Jacobs’ Neuaufnahme gerade recht.

Der Anlass

Anlass der Messkomposition war die Nachricht von der Ernennung des jüngsten Kaiserbruders Rudolph zum Erzbischof von Olmütz. Eine auch musikalisch zu feiernde Bischofsweihe stand an. Beethoven trug sich schon lange mit dem Gedanken einer großen Messe. Zufällig arbeitete er mit den »33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli« zeitgleich daran, Bachs epochalen »Goldberg-Variationen« etwas Ebenbürtiges an die Seite zu stellen. Auch dem anderen Opus summum des Thomaskantors, der h-Moll-Messe, wollte er nun – knapp hundert Jahre nach Bach – mit einem eigenen Werk gerecht werden. Zudem wäre es für ein endlich einmal regelmäßiges und hinreichendes Einkommen sicher nicht schlecht gewesen, wäre er seinem Edelschüler, dem Erzherzog Rudolph, als Domkapellmeister nach Olmütz gefolgt.

Zitat aus meinem Beethoven-Buch: „Als er sich Anfang 1819 an die Arbeit macht, mag er ahnen – er hat ‚immer das Ganze vor Augen‘ –, es wird etwas länger dauern als geplant. Er beschäftigt sich von ‚den Mönchen‘ (Kirchentonarten) bis zu Palestrina, von Bach und Händel bis zu Haydn mit allem, was er in den Bibliotheken des Kaiserhofs, des Hauses Lobkowitz und Erzherzog Rudolphs an Noten ‚aller christkatholischen Psalmen und Gesänge‘ findet.“ Und begegnet in den alten Partituren ihm bis dato mehr vom Hörensagen bekannte musikalische Möglichkeiten. Es scheint ihm offenbar ausgeschlossen, sich ihrer wie gewohnt – nämlich mit „thematischer Arbeit“ sowie mit allgegenwärtiger Polyphonie – zu bemächtigen. Nachahmen oder Zitieren kommt – mit Ausnahme zweier Händel-Stellen – nicht infrage. Er nutzt den Umstand, dass er großen Meistern der Vergangenheit wie Perotin, Buxtehude oder eben Händel an kompositorischer Größe in nichts nachsteht und schreibt in ihrer aller Geist auf ihrer Höhe einen Beethoven, den es vorher nicht gab und nachher nicht noch einmal geben wird. Der von ihm bis an seine Grenzen entwickelte Typus einer sinfonisch-oratorischen Ausspinnung der Idee des Sonatenhauptsatzes – ihr Meisterwerk das Finale der Neunten – macht einer prallen und ungewohnt oft homophonen Vielfalt unterschiedlicher Genres, Stile, Idiome und Tonfälle aus vielen Zeitaltern Platz. Ein bei jedem Hören umfangreicher werdender Reichtum an Musik entsteht. Statt per durchgehend von thematisch-linearer Logik getriebener Teleologie: die Idee eines, wie Peter Gülke sagt, „objektlosen, aus sich selbst bewegten Flusses.“ Rudolphs Inthronisation findet am 9. März 1820 statt. Die Missa ist Anfang 1823 fertig.

Zitat aus meinem Beethoven-Buch: »Als er sich Anfang 1819 an die Arbeit macht, mag er ahnen – er hat ›immer das Ganze vor Augen‹ –, es wird etwas länger dauern als geplant. Er beschäftigt sich von ›den Mönchen‹ (Kirchentonarten) bis zu Palestrina, von Bach und Händel bis zu Haydn mit allem, was er in den Bibliotheken des Kaiserhofs, des Hauses Lobkowitz und Erzherzog Rudolphs an Noten ›aller christkatholischen Psalmen und Gesänge‹ findet.« Und begegnet in den alten Partituren ihm bis dato mehr vom Hörensagen bekannten musikalischen Möglichkeiten. Es scheint ihm offenbar ausgeschlossen, sich ihrer wie gewohnt – nämlich mit »thematischer Arbeit« sowie mit allgegenwärtiger Polyphonie – zu bemächtigen. Nachahmen oder Zitieren ist – mit Ausnahme zweier Händel-Stellen – keine Option. Ihm kommt zugute, dass er großen Meistern der Vergangenheit wie Pérotin, Buxtehude oder eben Händel an kompositorischer Größe in nichts nachsteht, und er schreibt in ihrer aller Geist auf ihrer Höhe einen Beethoven, den es vorher nicht gab und nachher nicht noch einmal geben würde. Der von ihm bis an seine Grenzen entwickelte Typus einer sinfonisch-oratorischen Ausspinnung der Idee des Sonatenhauptsatzes – ihr Meisterwerk das Finale der Neunten – macht einer prallen und ungewohnt oft homophonen Vielfalt unterschiedlicher Genres, Stile, Idiome und Tonfälle aus vielen Zeitaltern Platz. Ein bei jedem Hörr Reichtum an Musik ent

G. B. Tiepolo

In ihr muss man nicht bis zum Chorfinale warten, bis Beethoven die Assoziationen an Deckengemälde Michelangelo Buonarottis oder Giovanni Battista Tiepolos weckenden chorsinfonischen Himmelsklanggewölbe aufspannt. Ein ruhig schönes Kyrie lang steht Beethovens Lehrer Haydn von fern noch einmal Modell. Dann geht es im Gloria mit Pauken und Trompeten richtig vollchor los. Ehre sei Gott in der Höhe, preisen die Engelsscharen. Dann, im tiefen Bass, piano auf einem Ton fünf Takte mittelalterlich mönchisch, melden sich mit dem Wunsch nach Frieden die Erdenbewohner zu Wort. Eine kaum bemerkliche musikhistorische Rolle rückwärts. Die Missa ist voll von solchen Kontrasten und Sprüngen. In ihnen, so die konservative Deutung, geht es gemäß dem vom Komponisten strikt befolgten liturgischen Text durchweg um den Gegensatz von Gott und Mensch, Oben und Unten. Der mit einem Riesenaufgebot an vokalen und instrumentalen Stimmen aufwartenden Fuge desselben Gloria könnte man allerdings auch entnehmen: Der da so prachtvoll und schwungvoll die Allmacht Gottes beschwörende Komponist ist Teil einer Menschheit, in der es selbst schon ein Oben und Unten gibt. Beethoven als einer der Unteren steckt als ihr Urheber zugleich selbst in der klingenden Darstellung höherer Allmacht. Dass er selbst allmächtig wird, indem er sie Klang werden lässt, ist republikanisch gedacht. Insofern auch die Chöre der sechsflügeligen Cherubim in der Himmelshierarchie zu den Unteren gehören, könnte man die herrlichen Töne des dreieinigen Oben in der Missa als Projektionen hören. Der Bürger Beethoven hätte in ihnen noch in der Zeit nach dem Wiener Kongress die grenzenlose Zukunftsgewissheit des aufgeklärten Teils seiner Klasse in Musik aufbewahrt.

Apropos Tiepolo. Mir ist es früher beim Hören der Missa gegangen wie beim Betrachten des Deckengemäldes im Treppenhaus der Würzburger Residenz. Ich war erschlagen von der Fülle ästhetischer Reize und nahm erst einmal gar nichts wahr. Die Lösung: näher heran. Im Auditiven bieten die vielen Mikrophone einer CD-Aufnahme diese Möglichkeit. Selbst im Konzertsaal – je kleiner (bis zu einem gewissen Grad), desto besser – lässt darüber hinaus der je charakteristische Klang der alten Instrumente ihre Trennung und Interaktion in Orchestergruppen deutlicher hervortreten als bei modern-konventioneller Instrumentation. Dirigent Jacobs sorgt mit bewusster Steuerung der Klangbalance für weitere Durchhörbarkeit. Als ehemaliger Sänger hat der Belgier ein Händchen auch für die Einbettung der Vokalstimmen in den Instrumentalklang.

Er führt das Oben und Unten und die vielen aus ihm resultierenden Diskontinuitäten der Missa zu einem plausiblen Hörerlebnis zusammen. In den mir bekannten Aufnahmen und Aufführungen – mit Ausnahme der von Michael Gielen – vermisste ich gerade den Eindruck ästhetischer Geschlossenheit. Jacobs demonstriert sie besonders glücklich im Benedictus. In kaum einer anderen Passage scheint es so schwierig, die unterschiedlichen Dimensionen und Energien der die Missa Aufführenden sinnvoll zu organisieren. Am meisten zu kämpfen mit einem gewissen Befremden seitens des Publikums hatte wohl immer die solistische Geige im Benedictus. In Jacobs’ Neuaufnahme überzeugt die Konzertmeisterin Anne Katharina Schreiber vom ersten Ton an. Von den Flöten weiß gehöht, fliegt sie in den Sphären eines dreigestrichenen g aus dem wie ein Orgelchoral farbig präsenten Präludium ein und schwebt in Sekundschritten herab in ein über lange Strecken auch in den Chor- und Orchesterpartien kammermusikalisch wirkendes Geschehen. Man verstand das Geigensolo lange Zeit als Violinkonzert innerhalb der Messe, man hat es so interpretiert: mit ebensoviel Emphase wie virtuosem Glanz. Aber trotz vermeintlicher Klangverstärkung durch heftiges Vibrato schaffte es die Geige kaum je, mit all ihrer von Beethoven verliehenen melodiösen Grazie nennenswert aufzutauchen aus dem, wie es schien, immer zu groß dimensionierten Chor- und Orchesterklang. Schreiber dagegen muss sich nicht größer machen, als sie ist. Sie übernimmt – non vibrato und unangestrengt – eine besondere, nämlich die Geigenstimme unter fünf solistischen Gesangsstimmen und singt ihren – sagen wir: konzertant ariosen – Ensemblepart eben nicht mit der Kehle, sie singt ihn, immer gut wahrnehmbar, mit Geigenkorpus und Bogen und steht zu dieser Art Besonderheit auf eine Weise, die sich musikalisch einem Klangorganismus anverwandelt, der ihr allerdings dank Jacobs genau den Raum lässt, den sie um ihrer Wirkung willen braucht. Ein wohlig heiliges Schunkeln. Die sich in so vielen Missa-Aufführungen zwischen Hörende und Musik schiebende Monumentalität kommt nicht auf: Man fühlt sich »näher dran«, die Missa wird – fasslich.

Eine Kirche für sich

Die im Zusammenhang mit speziell diesem Werk immer wieder auftauchende Frage nach Beethovens Gottesverständnis beantwortet Jan Assmann unter anderem so: »Nachdem ihm klar geworden war, dass er die Messe nicht rechtzeitig (…) fertigstellen konnte und er sich vom Gedanken an eine liturgische Aufführung im Rahmen des Festgottesdienstes verabschieden musste, fühlte er sich frei, (…) seine Messe nicht (nur) für den Gottesdienst, sondern (auch) für einen beliebigen Konzertsaal zu komponieren (…). Zugleich kam es ihm aber darauf an, seine Messe so intensiv und exzessiv mit religiösen Emotionen gleichsam aufzuladen, dass sie sich in Kopf und Herzen der Zuhörer als ein sakraler Vollzug ereignen und den Konzertsaal in einen sakralen Ort verwandeln konnte.« Im Begriff »religiös« verschwimmen die Grenzen zwischen Kirchenwelt und Menschenleben. Beethoven war im Sinn einer Art Haltung – nicht eines Inhalts – »religiös«, die auch Atheisten kennen und schätzen. Er war, obwohl durch die Bonner Hoforganistentätigkeit in seiner Jugend mit der Liturgie bestens vertraut, kein Kirchgänger. Mit dem Musikautor Max Kalbeck könnte man leicht kantisch sagen: Beethoven war sich selbst Kirche genug.

Es gab schon in seiner Zeit verschiedene Formen des Glaubens, den Pantheismus Goethes, fernöstlich angeregte Spielarten der Spiritualität, agnostische Sichtweisen. Der vom Weltbild der Aufklärung erschütterte Gott, an den sich der alte Beethoven in seinen persönlichen Aufzeichnungen und im Schlusschor der 9. Sinfonie öfter zu wenden scheint, war längst nicht mehr identisch mit dem autoritär obrigkeitlichen Gott der Christenheit. Beethoven stand am Beginn einer Entwicklung, an deren Ende niemand damit, dass sie oder er »mein Gott« oder »in Gottes Namen« seufzt, in den Verdacht gerät, religiös zu sein. Recht nah an Beethoven heran dürfte, die Glaubensfrage betreffend, Felix Mendelssohns Vater gekommen sein, sechs Jahre jünger als Beethoven. Er schrieb in einem Brief an seine Tochter Fanny: »Ob Gott ist? Was Gott sei? Ob ein Teil unserer selbst ewig sei und, nachdem der andere Teil vergangen, fortlebe? Und wo? Und wie? – Alles das weiß ich nicht und habe Dich deswegen nie etwas darüber gelehrt. Allein, ich weiß, dass es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewissen gibt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon entfernen. Ich weiß es, ich glaube daran, lebe in diesem Glauben, und er ist meine Religion.«

So entschieden gründlich Beethoven mit dem Messetext umging – anders als Schubert in allen seinen Messen komponierte er auch das Bekenntnis zur einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche mit –, so konsequent erdet er in seiner Vertonung die sich im Himmel verlierenden Formeln der Kurie. Beethovens sogenannte heroische Periode endete nach verbreiteter Ansicht 1812. Aber als er ab 1819 an der Missa arbeitet, hat der Modus seiner Vertonung der kirchenheiligen Schrift schon mit Beginn des Glorias und des Credos und an anderen Stellen einen Zug, den man mit Fug erneut »heroisch« nennen dürfte. Da strömt in der Musik – so kann man es hören, so scheint es Jacobs’ Interpretation nahezulegen – eine Vielzahl von Aktivisten hochgemut kraftvoll auf etwas abgemacht Wünschenswertes zu.

Jan Assmann ist wohl nicht der einzige, dem im Credo auffiel, dass Beethoven mit der Auferstehung Christi und der Toten offensichtlich wenig anfangen konnte. Er widmet den diesbezüglichen vier Zeilen des Textes sieben Takte. Auf die letzte einzige Zeile aber – et vitam venturi saeculi (und das Leben der kommenden Welt) – komponiert er in knapp 170 Takten eine der schönsten und musikalisch interessantesten der unsterblichen Fugen seines Spätstils – »das Credo, das Credo mit der Fuge«, jauchzte aus ihrem Anlass Thomas Mann in seinem »Faustus«-Roman. Die je nach Missa-Text von unten nach oben und umgekehrt so auch am Ende des Credos durch die Stimmen laufenden Skalen erinnern Assmann an Jacobs Traum im Buch Genesis. »Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.« Aus Himmelsleitern macht Beethoven Tonleitern. Muss man das Schrifttum von Augustinus bis Ernst Bloch kennen, um in den biblischen Bildern vom Verkehr zwischen Himmel und Erde mit Beethoven den Traum von »der kommenden Welt« zu ahnen? »Religion«, sagt Schleiermacher, von Assmann zitiert, sei »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«. Noch ein schöner Anhaltspunkt fürs Nachdenken über Beethovens Art von Religiosität.

Eine Messe für den Frieden

Im abschließenden Agnus Dei der Showdown alles Unteren. Beethoven beschreibt im Miserere in h-Moll, seiner »schwarzen Tonart«, das irdische Elend, jesuitisch schlau verknüpft mit Peccata mundi, der Schuld der Welt: Kein Wunder, Welt, wer sich so übel beträgt, wird mit irdischer Not – womit auch die erklärt wäre – nicht unter einer Ewigkeit bestraft! Adagio. Finster und lastend. Getragen. »Die Musik stellt nicht dar, sie bildet nicht ab«, stellt Jan Assmann fest. »Sie vollzieht, ist nicht objektivierende Darstellung, sondern dramatisierender Ausdruck des Gegenstands.« So könnte man René Jacobs’ Lesart der Missa beschreiben. Auch die Hörenden vollziehen nach. Jede und jeder anders und jedesmal anders, aber immer: aufregend zu allerlei Gedanken.

Man weiß nicht, was beglückender wäre: das in seiner Lebendigkeit zum Niederknien an Rembrandt erinnernde Dunkel des Qui tollis. Oder die fröhliche Leichtigkeit des folgenden Allegretto vivace. Jacobs weist im Booklet-Gespräch mit dem FBO-Dramaturgen Martin Bail darauf hin, dass Leopold Mozart ein Allegretto vivace als »artig, tändelnd und scherzhaft« charakterisiert habe. Ein Siciliano-Rhythmus »im Sechsachteltakt; viele witzige Begleitfiguren und spielerisch-leichte Sechzehntelläufe«. Jacobs: »Ein Friedensfest.« Klar, mit dem Dona nobis pacem ist der Schluss der katholischen Messe erreicht. Noch einmal soll sich, dafür ist wie eine Art Mediator zwischen Oben und Unten der Gottessohn zuständig, der Himmel der durch eigene Schuld ins Elend geratenen Menschheit erbarmen, er soll ihr den Frieden gewähren. Die Unteren feiern in wunderlicher Fröhlichkeit etwas, in das bei Beethoven dreimal sein Gegenteil hereinbricht, der Krieg. Auf Bails Frage, ob die Missa am Ende »eine Messe für den Frieden« sei, antwortet Jacobs: »Ich glaube, ja.« Entsprechend bildhaft gelingt dem Dirigenten die Musik an jener Stelle, an der der Krieg hereinbricht; er inszeniert sie theaterhaft als Hörbild einer in abnehmender Dramatik dreimal mit Pauken und Trompeten – beim letzten Mal fast drollig kleinlaut – wiederauftauchenden Aggression und macht die Missa so am Ende zu einer zutiefst irdischen Angelegenheit. Das Dona nobis pacem gerät nicht allein zum Friedensfest, es wächst von der frommen Bitte einer demütigen Gemeinde zur lateinischen Fassung der Forderung einer kämpferischen Menschheit heran: »Peace now!«

Die Rezeption

Wie ihre Vergleichsgröße, Bachs h-Moll Messe, hat es Beethovens Missa zwar aus der Liturgie in den Konzertsaal geschafft. Anders als Bachs Großtat ist sie bis heute nur nicht im Repertoire angekommen; sie erscheint auch 200 Jahre nach ihrer Entstehung relativ selten in den Spielplänen. Die Leute wissen am Ende offenbar ebensowenig wohin mit der Missa, wie die Musikwissenschaft bis heute an ihr zu beißen hat. Die bemerkenswerteste Extrawurst in der Debatte um Beethovens nach eigener Einschätzung »größtes Werk« briet der ansonsten mit einem herausragenden (fragmentarischen) Beethoven-Buch hervorgetretene Theodor W. Adorno. Ihm erschienen die Missa-Debatten als Streit um des Kaisers Bart, die Missa als Missgriff. Vor allem im Hinblick auf Igor Strawinsky waren »neoklassizistische« Rückfälle für Adorno als dem Propagandisten des Fortschritts in der Musik ein ästhetisches »No-Go«.

Der russische Neutöner war nach dem Ersten Weltkrieg nicht der einzige, der sich im globalen Trümmerfeld auch der Kunst für eine Weile im Gewesenen umschaute. Noch ausgeprägter neoklassizistisch zeigte sich Pablo Picasso. Er hatte mit den »Demoiselles d’Avignon« knapp ein Jahrzehnt vor dem August 1914 »das« erste Gemälde der Moderne geschaffen, begann aber während des Kriegs plötzlich – parallel zum kubistischen Aufbruch in ästhetisches Neuland –, große und schöne, in ihrer klaren Rundlichkeit an der Antike orientierte Frauengestalten zu malen.

Beethoven, seit langem mit Werken wie der Eroica auf »neuen Wegen«, hatte die Schreckenszäsur des Wiener Kongresses 1815 zu verkraften. Er komponierte nach einer längeren Schaffenskrise kurz vor der Missa mit der Hammerklaviersonate ein Werk, von dem er, sich leicht verschätzend, seinem Verleger gegenüber vermutete: »Die wird noch in fünfzig Jahren gespielt.« Sie war ein musikalischer Quantensprung, noch heute vielen ein Rätsel. Ein Jahr später begann die Arbeit an der Missa. Ihr folgte das durchweg avantgardistische Alterswerk.

Ist es wirklich verwunderlich? Wer sich so weit in die Höhen seines Metiers hinaufbegibt, hat – zugespitzt in Zeiten großer Krisen – das Bedürfnis, sich umzuschauen und zurechtzufinden, um sich schließlich zu verorten im zum Schwindeligwerden geweiteten Entwicklungsraum um sich herum. Erst danach ist ein Weitersteigen möglich. Darüber, wieviel Modernität die dabei entstehenden Werke ihrerseits wieder enthalten, wird auch in Zukunft nachzudenken sein. Und sie werden weiterhin Gegenstand sein auch von so einladend angemessenen Interpretationen wie der Neuaufnahme der Missa solemnis Beethovens aus Frankreich. junge Welt, April 2021

CDREVIEWS

Köthener BachCollektiv.Midori Seiler et al.

Es stellen sich den Musikern in der sogenannten „klassischen Musik“ immer wieder die gleichen Fragen. Die Geigerin Midori Seiler (bitte nicht zu verwechseln mit der US-amerikanischen Geigerin mit dem gleichen Vornamen als Künstlernamen) stellt sich solche Fragen in ihrem neuen Album „Bach’s Virtuosos“ gleich zu Beginn: „Wer bin ich, wenn ich spiele“, fragt sie im Booklet. „Wie ist meine Beziehung zur Komposition, zur komponierenden Person?“

MIdori Seiler

Die komponierende Person Bach hat in Vorahnung solcher Probleme seinen Text mit einer in seiner Zeit umstrittenen Fülle von Ausführungsanweisungen versehen. Die Virtuosen des 18. Jahrhunderts waren gewohnt, den Raum, den ihnen die vorliegenden Noten ließen, mit eigenen Verzierungen und Überleitungen zu füllen und im Verständnis des Publikums die rudimentäre Komposition auf diese Weise erst zu vollenden.

Das Wissen um die damaligen Spielkonventionen, in deren Rahmen solche Vervollständigungen stattfanden, ist verlorengegangen. Die neue CD erzählt davon, wie historisch-kritisches Musizieren auf alten Instrumenten im Zug der Wiederherstellung dessen, was nicht in den Noten steht, den „kulturellen Kontext“ einbezieht, in dem Bachs Köthener Schaffen (Brandenburgische Konzerte, Cello-Suiten, Partiten und Sonaten für Violine solo, Goldberg Variationen) entstehen konnte.

Das Köthener BachCollektiv wurde 2016 eigens für die alle zwei Jahre stattfindenden Köthener Bachfesttage gegründet. Es musiziert das einleitende Violinkonzert von Joseph Spiess, die Suite von Georg Linike und die das Französische mit dem Italienischen legierende Sonate für zwei Violinen von Augustin Reinhard Stricker – alle drei Musiker waren Bachs Köthener Hoforchesterkollegen – so virtuos, geladen mit so volkstänzerischem, italienisierendem Impuls und Charme, dass die verbreitete Mäkelei, da würden doch nur wieder mal langweilige Nebenwerke ausgegraben, im Keim verstummt.

Der geradezu experimentelle Charakter dieser Produktion tritt in den beiden Bachwerken hervor. Auch sie keine „Originale“. Midori Seiler, zusammen mit Mayumi Hirasaki, die Spirita Recta des BachCollektivs, hat Bachs in Köthen komponiertes, aber verschollenes Violinkonzert g-Moll BWV 1056R auf eigene Faust, mit viel Fleiß, Intuition und Risiko für die Geige rekonstruiert; so machten es mit eigenen und fremden Werken zur Bachzeit alle Komponisten. Das auf begleitenden Pizzicati der Bässe gesungene Largo, man hat es als Oboensolo aus der Sinfonia der Bachkantate BWV 156 im Ohr, gelingt ihr in kunstvollen Verschleierungen der Dynamik besonders anrührend. Eigentümlich auch der langsame Satz des Bachkonzerts für drei Violinen und Streicher D-Dur, von Seiler, Hirasaki sowie Georg Kallweit von der berliner Akademie für Alte Musik kollektiv nach der erhaltenen Transkription von Bachs Hand für drei Cembali als BWV 1064R wiederhergestellt. Da schwebt ein Terzett kaum verzweigter solistischer Streicher überm harmonisch sparsam aufgefüllten Bass. Gedehnte Lamento-Stimmung. Sie löst sich im abschließenden Allegro in einen, an Bachs berühmtes Doppelkonzert d-Moll erinnernden, schwungvollen Kontrapunkt. Gelungenster Ausdruck für die für Bach so erfreulichen, kreativen sechs Jahre am musikliebenden, kirchenfernen Köthener Hof ist am Ende von BWV 1056R das energiegeladene, immer neu von einem feinen Echo-Effekt gebremste Presto.

Concerto BWV 1056R – II: Largo

Die Barockmusikszene – mit kräftigen Trieben auch schon im Mozartbeet – hat sich zu einer eigenen Welt ausgewachsen. Sie erweist sich in dieser Aufnahme einmal mehr als Dynamo einer der Repräsentation erlegenen, auf einen kleinen Teil „toter Komponisten“ (Enno Poppe) reduzierten Klassikwelt. Die Geigenstars der Barockszene touren nicht im langen Silbernen über die Solisten-Bühnen. Durchweg weiblich, arbeiten sie oft als Konzertmeisterinnen kleiner Spezialensembles. Es hat bei ihnen eben nicht gelangt für die große Karriere, sagt der Mainstream. Umgekehrt. Was die Wahrnehmung der Besonderheit von Musikerinnen wie Midori Seiler, Mayumi Hirasaki oder etwa auch Daniela Helm angeht, langt es beim Mainstream nicht. junge Welt, April 2023

Bachs Virtuosos: Joseph Spiess, Augustin Reinhard Stricker, Georg Linike + 2 Bach-Bearbeitungen BWV 1056R – Midori Seiler / Mayumi Hirasaki / Freiburger Barockorchester (Harmonia Mundi France)

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