Von den Genen her mehrfach verwöhnt, habe ich schon als Heranwachsender mit der Sprache verucht und mit dem Zeichnen nicht aufgehört, als sich die anderen Kinder längst anderen Dingen zugewandt hatten. Zeichnen ist schön. Du versenkst Dich in was Du siehst, Deine Hand versenkt es per Feder, Stift oder Radiernadel mittels Linien und Flächen in der Eindimensionalität eines weißen Zeichenkartons. Ich habe immer nur abgezeichnet (was ich sehe), ich bin der Mimesis nicht entronnen. In die Freiheit, statt eines Abbilds von etwas, dieses Etwas selbst künstlerisch zu schaffen, habe ich mich nicht vorarbeiten können.
Leider verloren sich, da ich satirisch unterwegs war, infolge des gezielten Lesefehlers eines Herrn Schabowski aus Berlin in den 1990ern mein Publikum und ich uns aus den Augen. Heute ernähren mich statt der einen, zeichnenden Linken, die Finger beider Hände auf einer glatten Laptop-Tastatur, ich bin Autor.
Ich schreibe überwiegend über sogenannte „klassische Musik“. Anfangs weitgehend in dem ihr bis heute – auch von ihr sich selbst – verordneten Bereich „tote Komponisten“ (Enno Poppe). Dank der Musiker, denen ich beruflich begegne, richtet sich meine Neugier mit viel Freude inzwischen auch auf das, was in der Musik heute und morgen entsteht.
Es ergab sich, dass ich schreibend darauf kam, auch in der unter Journalisten seit Langem untunlichen Ichform zu schreiben. Ich schreibe als der, der ich bin, über Themen wie den Winter, über das Phänomen der Zeit, über E-Autos und meine Großväter und über Erinnerungen an Begegnungen mit längst verstorbenen Dichtern. Ich schreibe Rezensionen zum Beispiel über ein großartiges Buch über die Stalingrad-Schlacht (Gott hab sie selig), ich äußere mich zu politischen Fragen, ich denke schreibend über das Träumen und über sein Gegenteil nach: den Krieg.
(C) Self, 2023
Und sonst? Abzüglich der Weltlage (März/April 2023) soweit alles gut. Am See, an dem wir oft wohnen, lassen sich morgens inzwischen auch wieder die Meisen und Amseln hören neben den im Winter hegemonialen Krähen, den Möven und den hiergebliebenen Besserwissern und Wichtigtuern, unseren Enten. Brennholz und Briketts kosten mehr als das Doppelte als sie vor dem Sanktions-Schlamassel gekostet haben. Wir werden auf diese Weise die alten Holzmöbel los, die draußen bei jedem Wetter unserer Unentschlossenheit harren, die aber, verfeuert nach einigen Tagen Trocknung im Wohnzimmer, viel haptische, angenehm fühlbare Wärme verbreiten. Zuhause in Hamburg, wo wir morgens einfach die Heizung aufdrehen und gut ist, existiert so etwas wie Wärme so wenig, wie etwa die tägliche Unterwäsche, die wir, so sie nicht kratzt oder klemmt, einfach nicht mehr wahrnehmen. Wir haben sie ja.
Never in meinem nicht gar so kurzen Leben hatte ich stärker als heute den Eindruck, dass es, wenn die Zeiten sich wirklich wandeln und nicht nur wenden, recht unangenehm stürmt und auch, werweiß – vielleicht wird es noch wirklich kalt im Land.
Über Fachleute.
Meine Musiktexte lesend, wird jeder Musikwissenschaftler wissen: ich bin nicht vom Fach, ich habe es nicht studiert, ich kann aufgrund bildungsbürgerlicher Geigenstunden im Knabenalter gerade mal Noten lesen. Ich schreibe vielleicht darum besonders gern für Leute, die mir an dieser Stelle ein freundliches „Immerhin“ spendieren.
Als fleißiger Leser auch von Fachliteratur bin ich in den Augen vieler meiner Leserinnen Fachmann. Aber dieser Status ist kaum mehr als ein undeutlicher Nimbus. Er kann musikwissenschaftlich nicht bestehen. Dazu fehlt mir insbesondere die intime Kenntnis der Harmonielehre. Die wird freilich auf lange Sicht Sache der Eingeweihten bleiben, ein erlauchter Zirkel, sympathisch seltsam wie die Mathematiker oder die Physiker. Schon mit der Kenntnis der Tonartencharaktere allerdings ist viel gewonnen. Mit der Zeit hört man Modulationen, Chromatik, Kontrapunkt, man bemerkt Verschiebungen des Tempos, Verdichtungen des Satzes; der Bau – seien es Sonatensatzkonturen, ihre Abirrungen und Varianten, seien es die Strukturen, Klänge, Energien autonomer Musik – wird kenntlich. Im Fall es zum behandelten Gegenstand beiträgt, kann man über all das schreiben. Aber was ist der Gegenstand von Musik? Es gibt Leute, die bezweifeln, dass Musik überhaupt einen Gegenstand hat.
Da bleibt für jede Art Quacksalberei viel Platz. Platz reichlich aber auch für die Arbeit von “Fachleuten” wie mir.
Es passte an diesem Tag irgendwie alles. Die Enttäuschung darüber, vom Ende her gesehen, passte, dass am Hamburger Treffpunkt unweit des Hauptbahnhofs eine viel kleinere Anzahl Menschen stand als erhofft, dann waren es immerhin drei Busse – aber aus einer Millionenstadt drei Busse für den Frieden?
Angelangt in der Hauptstadt hatten wir uns darauf verständigt: alles über 10000 wäre ein Erfolg. In der prachtvollen Magistrale, die durch den Tiergarten aufs Brandenburger Tor zuführt, standen die Menschen – wir kamen in ihrem Rücken dazu – nach vorne hin immer dichter. Vorbei an zwei sowjetischen T 34 zur Kundgebung. Ein Fahnenmeer und miesestes Wetter. Schnee und Regen schienen niemand die Freude darüber zu verderben, dass „wir“ mindestens 3 x 10000 waren. Wir wussten alle, dass sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegen Waffenlieferungen und eine Verlängerung des Krieges ausgesprochen hat, die alte Friedensbewegung, deren Veteranen heute wieder dabei sind, zeitigt lange Wirkung. Aber wo befand sich diese Mehrheit von 56 Prozent jetzt, wo waren wir abgeblieben in dieser schrecklich zugerichteten Sorte Öffentlichkeit?
In Berlin an diesem regnerisch-windigen Nachmittag kamen wir zu uns. Wir sahen uns. In unserer Menge sahen wir uns und in unseren vielen, auf verschiedene Weise altgewordenen Gesichtern. Wir spürten: wir sind da. Und es sind natürlich viel mehr als wir: viele haben es an diesem Samstag nur noch nicht geschafft, sich auf den Weg zu machen. Dafür, was in den letzten Monaten an Propaganda-Unflat auf uns niedergegangen ist – vom Totgeschwiegenwerden und unseren Ängsten, bedroht zu sein, nicht weiter zu reden –, sind wir unfassbar viele. Die Polizei hilflos untätig. Keine Schreihälse. Keine Quertreiber. Ich sah einfach nur aufgeklärte, gut informierte, in langen politischen Erfahrungen besonnen gewordene Menschen unaufgeregt mittun bei einer großen Angelegenheit.
„Friedensmeute“ haben sie uns in der Süddeutschen Zeitung genannt. Was treibt solche Leute? Mit dem Drang nach Geld oder mit Ehrgeiz könnte man die Niedertracht erklären. Aber woher der Hass? Es muss solchen Leuten im Bereich Mitmenschlichkeit irgendwann die Lieferkette weggebrochen sein. Sie sind Täter und Opfer zugleich, sie verdienen kein Mitleid.
Es passte auch, dass die Veranstalter am Anfang eine Musik spielten, die ich zwar gut fand, altersbedingt aber nicht kannte, klar, wir bräuchten noch etwas mehr Leute, denen sie geläufig ist. Den musikalischen Schluss hatte sich jemand ausgedacht, die oder der Sinn fürs Runde hat. Einer der Klassiker der universalen Friedensbewegung, gedichtet und gesungen von einem ihrer vielen Märtyrer: John Lennons „Imagine“. Zwar sind auch die Hassprediger und Kriegshetzer nicht allein auf der Welt. Global gesehen sind sie ein Häufchen Elend. Und wir, als Träumer verspottet und befragt nach unseren Motiven, können künftig wieder durchatmend antworten: Anders als Kriege haben Friedensträume ein Programm „for all the people“; Träume stärken das Herz, sie organisieren die Hoffnung derer, die mit John Lennon wissen: We’re not the the only ones. junge Welt, März 2023
Schon das Coverbild. Aus dunkelbraunem Grund lässt Paul Klee Grün bis Gelb und Ocker Ölfarbenkerzenblumen und nirgendhin zeigende rote Pfeile aufleuchten und glühen. Sie tauchen wie organische Gebilde aus harmonischem, melodiösem Klang hervor aus dem dunklen Grund des Basses in einem von Johann Sebastian Bachs musikalischen Wegweisern und Leuchttürmen in die europäische Musik der Neuzeit – dem Wohltemperierten Clavier.
Der Cembalist Andreas Staier hat sich, nachdem er Ende 2021 das schwierigere, vielfältigere und vielgestaltigere zweite Buch des aus zwei abgeschlossenen Zyklen bestehenden Jahrtausendwerks vorlegte, das erste Buch vorgenommen: ein Himalaya des Tastenspiels, erreichbar nur jenen, die den Gipfel auch ohne musikalisches Sauerstoffgedöns und ähnlichen Schnickschnack schaffen.
Das eröffnende, irgendwie schon ganz schön populäre Präludium C-Dur ertönt in der armesünderhaft nüchternen Klangschönheit des Lauten-Zugs in Staiers französischem Nachbau eines Instruments des Hamburger Cembalo-Bauers Hieronymus Albrecht Hass vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Bach stellt in regelmäßig gebrochenen C-Dur-Akkorden das Ausgangsmaterial des folgenden Baus aus 24 Präludium-und-Fuge-Doppelmolekülen vor. In ihnen durchmisst er das von ihm mit diesem Werk für die Musik kommender Jahrhunderte geschaffene Tonuniversum als dem nächsten Epochenschritt nach der Choralpolyphonie der Renaissance; erreichbar, das Tonuniversum, über 24 chromatische Tonleitern in Dur und in Moll in allen Seelen- und Weltschattierungen. Am Anfang aber das Einfachste, die vorzeichenlose Tonart C-Dur, nicht mehr und nicht weniger.
Nun Staier hörend, fällt es einem wie Chopin von den Ohren: das von Bach gemeinte Weniger (das selbstredend in Wahrheit das Alles ist) ging schon vor langer Zeit in einem romantisch ausdrucksbeflissenen, einem – Bachs scheinbares Weniger unterschiedlich raffiniert, es meist aber besinnungslos-aufgebrezelt präsentierenden – Mehr unter. Das Idealinstrument für diese Methode war für knapp zwei Jahrhunderte der moderne Konzertflügel. Staier, Hieronymus Albrecht Hass im Rücken, trumpft auf dem wahren Idealinstrument – Bach hat es dem aufkommenden Hammerflügel vorgezogen – mit der Alternative auf: dem entschwulsten wahlweise entmonolithisierten, dem entsentimentalisierten, kurzum, mit dem von der Romantik befreiten Bach.
In Staiers Verzierungen am Ende des formgerechten Anfangspräludiums pulst erstmals die Spielfreude dieses Clavieristen, beflügelt von der souveränen Beherrschung flink sensibler Finger – die Verzierungen, bei ihm fungieren sie, keineswegs marginal, als galante Stromstöße der Lebenslust. Die erste Fuge in C wird von Staier als das präsentiert, was sie mit vielen anderen Stücken des Wohltemperierten Clavier tatsächlich ist: tönendes Lehrbuch; auf dem Hass-Cembalo ist es, als höre eins im Zugleich der Kontrapunktik Bachs im selben Moment jede Stimme einzeln, so anschaulich wirkt die differenzierte Registerfarbigkeit des Instruments. Es folgt an vier das erste Moll-Stück. Dramatik pur. Das Instrument lässt, vergleichbar der Farbigkeit des CD-Covers, chromatisch maschinenhafte Muskeln hören.
In der Fuge cis-Moll an achter Stelle zeigt das Instrument in Staiers Händen, wie in einer als Choral eines strafenden Gottes beginnenden Fuge eine harmlose Überleitung zur Spielfigur wird, die als fünfte Stimme den Ausdruck der ganzen Fuge in ein verspielt Lebensfrohes verwandelt, ohne dass das schwere, abwärts schreitende Choralthema ganz in Vergessenheit geriete.
Das „Alte Testament der Musik“ hat Hans von Bülow das Wohltemperierte Clavier genannt. Das stimmt nachseiten sowohl der Orte des Geschehens – vom Konzert im Lustschlösschen bis hin zum klampfenbegleiteten Volkslied in den Katen der Bauern –, als auch im Hinblick auf die Erzählweise und den Vortrag: vom improvisatorischen Präludieren (im hohen Orgelklang des Cembalo!), von den vielen neuen Wegen der Fuge von der strengen Form zum lebensvollen Inhalt, bis hin zum brillanten, glitzernd virtuosen Concertino und den vielen, von unten herauf bis in die Paläste vorgedrungenen Volkstänzen der Barockepoche. Das tummelt und ordnet und vergewissert sich seiner selbst im Wohltemperierten Clavier wie auf einem breughelschen Wimmelbild.
Andreas Staier zieht in dieser neuen Aufnahme alle Register seines Könnens, seiner Kunsterfahrung, seiner Belesenheit und Begabung. Er muss den Ausdruck nicht vermitteln – der Ausdruck ergibt sich bei ihm aus der Form, der Ausdruck ist die Form. Eine hochwohlgeborene Erfrischung der Diskographie, eine Großtat. junge Welt, Februar 2023
J. S. Bach: Das Wohltemperierte Clavier 1 – Andreas Staier, Cembalo (Harmonie Mundi France)
Das Wort bleibt hängen. Zeitenwende. Eine begriffliche Übergröße. Der Begriffeaufwärmer im Kanzleramt nutzt das Wort, um die Tatsache zu beschreiben, dass sich menschheitlich in der Welt gerade Allesentscheidendes tut.
Er hat ein Handycap. Das Ding, das er gerade dreht, muss durch ein Nadelör. Das Nadelör einer Zurückführung dieser Zeitenwende auf den – bitte immer dran denken – „grausamen“, „blutigen“, „menschenverachtenden“, den vor allem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ Wladimir Putins gegen die unschuldigen, mutig das Banner der Freiheit gegen die grausame, menschenverachtende – s.o. – russische Tyrannei schwingenden Ukrainer.
Aber nachdem draußen in der Welt längst nicht allein die Freunde des marokkanischen Fußballs begreifen, dass der Hase anders läuft, als in Berliner Jagdbeschreibungen vorgegeben, wird sich mit der Zeit wohl nicht verhindern lassen, dass ganz langsam auch der Block der notorischen Qualitätsmedien-Nutzerinnen im Spitzenland Europas bröckelt: Auch dieses Kamel wird, so etwas deutet sich an, am Ende nicht durchs Nadelör gehen.
Der Begriffeaufwärmer und seine Leute wissen es natürlich längst. Bevor sie, wenn denn nötig, Diskussionen über Probleme, die am Ende nicht durch Nadelöre passen, á la Erdogan in versteht sich demokratischer Manier freiheitlich und nunmehr auch offen verbieten – dürfen alle möglichen Menschen in diversen Talkshows und interaktiven Gesprächsforen alles mögliche zum Besten geben, was Gutversorgten so durchs Hirn wieselt, wenn der Tag lang ist. Im Mittelalter redeten sie sich die Köpfe heiß um die Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben.
Galilleo Galilei
Die eher party-scholastischen Spitzfindigkeiten unserer Tage haben mit den lateinisch mittelalterlichen (siehe „Name der Rose“) etwas gemeinsam: es gibt für ihre Freiheiten eine rote Linie. Wer sie übertritt, wie es Männer wie Kopernikus, Giordano Bruno oder Galilei taten, war des Todes. Heute bekommt man, schon, wenn man der roten Linie nahekommt, bei freilich noch lebendigem Leib, die öffentlichen Mittel gekürzt, wie es den Nachdenkseiten geschieht; man bekommt den Geheimdienst auf den Hals, wird als „extremistisch“ gebrandmarkt, wie die junge Welt; oder sie stecken einen bei schon gar nicht mehr so lebendigem Leib fern jeder Rechtsstaatlichkeit für Jahre in eine Isolierzelle des schlimmsten britischen Hochsicherheitsgefängnisses, als nur erst einer Warteschleife für die Auslieferung an den schlimmsten Unrechtsstaat unserer Zeit: die Vereinigten Staaten von Amerika.
Die katholische Kirche hat 400 Jahre gebraucht, ihre mörderischen Irrtümer zuzugeben, sie hat sich bis heute nicht bei den Millionen Opfern ihres weltweiten Glaubensterrors entschuldigt. Dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, bestreiten heute trotzalledem nicht einmal mehr die Evangelikalen. Und so kreisen die Sonnen der Menschheit nicht mehr unhinterfragt um die leidgeprüfte Erde der Yankee-Demokratie seit, neben vielen anderen, Julian Assange der Weltöffentlichkeit mit einem brutal deutlichen Video sowie der Veröffentlichung digitaler Korrespondenzen der US-Außenpolitik die Augen öffnete für Wesen und Wirken der selbsternannten Weltführungsmacht.
Das absolute Supremat dieser ganz speziellen Sorte Demokratie gleicht 2023 dem absoluten Supremat Gottes im christlichen Mittelalter. Beide, der eine einzige Gott und die einzigmögliche Demokratie, überwölbten und stabilisierten die Wirklichkeit der beiden, aufeinander folgenden europäischen Zeitalter. In beiden ist die Arbeit der großen Mehrheit der Bevölkerungen Bedingungen für die Existenz jeweils einer kleinen Bevölkerungsminderheit, eine Konstellation, die verlässlich für Krisen und Kriege sorgt. In ihrer Folge gerät heute der zumindest nach außen erhobene ethische Anspruch der Machtsysteme jener beiden Zeitalter in immer heftigere Konflikte mit ihrer Evidenz.
Die Kirche hat sich seit Galileo, Bauernkriegen und Schisma glänzend durchgemogelt, sie hat sogar Nietzsche überlebt. Es steht gleichwohl 2023 nicht gut um sie. Der Demokratie bürgerlicher Provenienz geht es kaum besser. Ihr Narrativ wird – so, wie es aussieht – zumindest für von Korruption nur oberschichtig betroffene Völker angesichts immer fadenscheinigerer Lügen der nunmehr digitalisierten Kolonialherren immer unglaubwürdiger.
Und wir, ziemlich fernab der weltrevolutionären Vorgänge der Gegenwart – der Ukrainekrieg ist ja nur als Vorspiel gedacht –, nehmen mit Blick auf die Geschichte staunend einmal wieder zur Kenntnis: Sie bewegt sich offenbar wirklich. junge Welt, Januar 2023
Beim Hören der Sinfonien fällt es besonders deutlich ins Ohr. Franz Schubert hat sich vorm Abfassen seiner sieben Sinfonien bis hin zu Rossini fleißig umgehört. Das Problem blieb Beethoven. In Schuberts letzter, der achten Sinfonie ist es am deutlichsten. Aber schon in der siebten – sie wurde als „Unvollendete“ berühmt, obschon es ihr trotz der nur zwei von Schubert komponierten Sätze an nichts fehlt – wäre zu hören, wie Schubert sich an dem Übergroßen hinter und über ihm abarbeitete.
Es gibt im Netz eine Life-Aufnahme der Sinfonie in h-Moll mit den Bamberger Symphonikern, geleitet von Herbert Blomstedt, er vollendete im Sommer 2022 sein 90. Lebensjahr. Sie besticht durch den sich schon in den Basstakten der Einleitung herstellenden Eindruck: da wird ungeheuer sorgsam musiziert; gerade so, als ob nichts von allem unbemerkt bliebe, was, bis hinein in die intrikaten Kleinigkeiten dieser Sinfonie, in ihr steckt; der Musikphilosoph und Musiker Peter Gülke hat in seinem reichen Schubert-Buch einiges darüber verraten.
Bis heute rätselt die Fachwelt. Warum hat Schubert die Sinfonie nicht weiterkomponiert? Von den vielen im Umlauf befindlichen Spekulationen hat jene einiges für sich, die beider Sätze ähnliches Tempo (verhalten) anführt, sowie den leisen Dreiertakt in beiden Sätzen. Hatten sie ihm zu viel Ähnlichkeit? Nach zwei Sätzen im Dreiertakt wäre ohnehin mit dem Scherzo des dritten wieder ein Dreiertakt fällig gewesen. Aber sollte Schubert, als sein Schöpfer-Ego dem Allegro moderato im Dreiertakt ein Andante con moto im gleichen Metrum folgen ließ, nicht gewusst haben, dass er, die Konvention verlassend, in die Sackgasse steuerte?
Schubert: Sinfonie Nr. 7 h-Moll – 1. Allegro moderato
Blomstedts musikalische Auslegung lässt noch anderes vermuten: Mit den zwei vollbrachten Sätzen konnte Schubert nicht nur mit einiger Gewissheit das Gefühl haben, alles sei gesagt. Er wusste auch: in ihnen sind typische Charaktere der zwei der Konvention nach fehlenden Sätze – Scherzo und Finale – mehrfach enthalten.
Schon Haydn hatte sich bei seiner „Erfindung“ langsamer Sinfonie-Einleitungen auf die langsamen ersten Sätze der im zweiten Satz schnellen und kontrapunktischen Eröffnungen barocker Orchestersuiten bezogen. Schubert bezieht sich in der a capella-Einleitung der Kontrabässe, in den gravitätischen drei Aufwärtsschritten sowie der Terz zurück, in nicht kürzer zu fassender Konzentration, auf die nicht mehr erkennbar barock-haydnsche Art von Sinfoniebeginn. Das erste Thema hätte in seinen langen Noten das Zeug auch zum Adagio. Einerlei, es kommt in der Durchführung nicht vor. Schubert geht über Beethoven hinaus, wenn er die karge langsame Einleitung, den Sonatenhauptsatz grenzwertig strapazierend, statt des ersten Themas zur Kernmonade der Durchführung macht. Auf der Grundlage jener wenigen fahlen Bassnoten des Satzbeginns findet in der Durchführung ein Orchesterdrama statt, voll kontrapunktisch aufwallender Beethovenheroik. Kaum jemand fällt auf: das beschwingt in den Himmel schaukelnde Seitenthema fehlt ebenfalls. In Form eines eigenen Satzes hätte es, abzüglich wiederum einiger Eigenheiten Schuberts, ein herrliches Scherzo abgegeben.
Dieses Seitenthema wurde freilich noch innerhalb der Exposition sattsam durchgeführt, so etwas haben, vielleicht nicht so demonstrativ, auch schon Beethoven und Mozart gemacht. Aber einen ersten Satz in der Coda im langsamen Tempo des Sinfoniebeginns, kurz und notengleich mit dem Anfang enden zu lassen, noch dazu in eroika-affiner Trauermarschstimmung – das gab’s’ so bei den Mitklassikern noch nicht. Da taten sich, jenseits des Sonatensatzes, ganz neue Möglichkeiten auf.
Es macht den Unterschied, wenn Herbert Blomstedt seine Musiker dazu bestimmen kann, dem neuartigen Umgang Schuberts mit dem Sonatensatz – mit den neuen farblichen, rhythmischen, stimmungsdynamischen Möglichkeiten Schuberts – eine Spannung auch dort herzustellen, wo es keinen Sonatensatz mehr gibt. Nur Fachleute mögen freilich im langsamen Satz hören, dass dieser Satz gar keine Durchführung hat. Aber eine Coda hat er, eine Apotheose des Abschieds; erst Gustav Mahler am Ende seiner 9. Sinfonie dürfte so etwas ähnlich eindrucksvoll hinbekommen haben.
Es wirkt schlüssig und logisch bei Blomstedt: dass am Ende einer Sinfonie, zumal einer mit solchen Inhalten, nicht das große Finale den Atem rauben muss. Es kann auch der leise, wehmütige Atem des Abschieds aus dem Erlebnis einer so gewaltigen Musik sein, der sinkende Abend eines langen Tages. So ist diese Aufnahme musiziert. So kommt sie an. junge Welt, Januar 2023
Es gibt Dirigenten, die können in einer Musik ein Leben erwecken, das gar nicht in ihr ist. Giovanni Antonini ging den langen Weg vom erfolgreichen Solisten auf der Barockflöte, über die Gründung der ersten italienischen Kapelle auf alten Instrumenten, Il Giardino Armonico 1985, bis er seit etwa zwei Jahrzehnten zum originellen Gestalter von für Orchester geschriebener Musik von der Renaissance bis zu – soweit auf Tonträgern zu erhaschen – Beethoven wurde.
Er hat sich vor Jahren auf eine lange Reise begeben. Alle 104 Sinfonien Joseph Haydns (1732-1809) will Antonini bis 2032 aufgenommen haben, bis zum 200. Geburtstag des als „Vater der Wiener Klassik“ geltenden Komponisten. Und natürlich haben sich von Anfang des Projekts bis zum gegenwärtigen Stand allerhand Fachleute gefragt: Ob das, was dieser Italiener da mit Haydn veranstaltet, noch hinnehmbar ist? Denn Antoninis Haydn unterscheidet sich auf im positivsten Sinn erschreckende Weise in fast allen Belangen von einer langen Haydnkonvention.
Man nahm Haydn sehr lange nicht für voll, man tut das manchenkopfs bis heut nicht. Man ließ anstelle der im Programm angekündigten Haydn-Werke flache Gesellschaftsmusik aus einer Vergangenheit erklingen, die sowieso niemand näher interessierte; ihre Harmlosigkeit schien durch den großen Namen Haydn verdeckt und gedeckt. So noch zu erleben selbst bei Aufführungen der beiden Haydn-Oratorien „Schöpfung“ und „Jahreszeiten“, lange Zeit Haydns Allzeit-Boxfavoriten. Haydn wurde als „Wegbereiter“ gehandelt, mit einer extrem kleinen Auswahl aus seinem Riesenwerk. Aber er war nicht der Wegbereiter. Er war der Weg. Der Eindruck gefälliger Harmlosigkeit seiner Werke kam nicht aus den Noten, er kam aus den Instrumenten jener, die unkritisch einen langlebigen Zeitgeschmack bedienten.
Joseph Haydn
In der inzwischen gutgewachsenen Literatur auch über Haydn ist zu erkennen: Er war das produktive Nadelöhr neuerer europäischer Musikgeschichte. Seine Musik wurde zum „ächten Fundament“ (Haydn) modernen Denkens in Tönen. Zum monadischen Kompressor und Aggregat für die Entwicklung von der Choralpolyphonie der frühen Renaissance bis zum Barock und zur Mannheimer stamitzschen, wahlweise der norddeutsch carl-philipp-emanuellen Vorklassik, nicht zu vergessen das musikalische Völkersprachengemisch Panoniens, der südosteuropäischen Heimatregion Haydns. Für Ludwig Finscher, einen, obschon er historisches Denken ausschlug, klugen und gründlichen Haydn-Forscher, hat Haydn „die Grundlagen der Musikkultur des 19. und weiter Teile des 20. Jahrhunderts“ gelegt, er entwickelte „eine europäisch verbindliche Sprache der Musik, vor allem der Instrumentalmusik“.
Man stelle sich vor. Einer der ganz Großen der Musik kam vom Dorf. Ein Hof mit Werkstatt am Ufer des Neusiedler Sees in Rohrau, heute Burgenland, Republik Österreich. Die Stellmacherfamilie Haydn fertigte dort seit Generationen Wagenräder und allerlei hölzernes Landgerät. Spärlich die Quellenlage. Wer hätte ahnen können, dass so ein Stellmacherkind, nur weil es so schön zur Harfe des Vaters sang, eines Tages bei einem Zufallsbesuch des Hainburger Chorregenten Franck so positiv auffiel, dass der Chorregent den Sechsjährigen zur weiteren Ausbildung nach Hainburg mitnahm. Auch dass der Sopran des hörbar begabten Kinds – mutmaßlich – etwa drei Jahre später dem Kapellmeister Reutter von der Kapelle des Wiener Stephansdoms ins Ohr drang und Haydn damit zum Wiener Sängerknaben wurde mit den bekannten Folgen: das alles geschah im diffusen Vorfeld der Musikbiografik.
Er lebte, so erzählte er als alter Mann seinen ersten beiden Biografen, in Zimmern, die „kaum den Regen abhielten“. Frierend oder schwitzend, winters wie sommers, las er nach dem stimmbruchbedingten Ausscheiden aus der Domkapelle als Gelegenheits- und Straßenmusiker abends nach der Arbeit bis in die Nacht Johann Joseph Fux‘ Gradus ad Parnassum und andere Standardwerke der Theorie; er schaffte sich Grundlagen. „Durch dieses elende Brod“, so der Rohrauer, „gehen viele Genie zu Grund, da ihnen die Zeit zum Studiren mangelt“. Haydn – ein bienenfleißiger Autodidakt.
Er war fünfundzwanzig, da gelangen ihm Durchbruch und Aufstieg: Musikdirektor beim Fürsten Morzin von 1757 bis 1761! Freie Kost und Logis, regelmäßiges Gehalt; er aß nicht am Gesindetisch, er speiste mit den „Offizialen“ – und er hatte ein kleines Orchester zur Verfügung, mit ihm konnte er alles zu Klang werden lassen, was ihm so tag- und nachtlang „durch die Birne rauschte“ (Eckhard Henscheid).
Esterhaza (Fertöt)
Noch idealer als Laboratorium und Prüfstand für die werdende Grammatik der instrumentalen Musiksprache zweier bürgerlicher Jahrhunderte erwiesen sich freilich nach Haydns Umzug 1761 die beiden panonischen Schlösser der ungarischen Fürsten Esterhazy – Eisenstadt bis 1778, Esterhaza bis 1790. Doppelt so viele Gulden wie bei Morzins, stolze 400 als Anfangsgehalt (sein letztes Gehalt in Pannonien betrug testamentarisch verfügte 1000 und vom Erben und Nachfolger um vierhundert auf 1400 ergänzte Gulden). Eine seit seinem Dienstantritt mit erweiterter Streichergruppe und chorischen Bläsern besetzte Kapelle – mit einem Fagott in der Bassgruppe, einer Bratsche in den Mittelstimmen, Flöten dazu. Er blieb in Eisenstadt und Esterhaza, nicht weit von seinem Heimatdorf, für vierzig schöpferische Jahre.
Nur zwölf seiner 104 Sinfonien sind außerhalb des Burgenlands entstanden; sie wurden für die Konzerte während der zwei, Anfang der 1790er Jahre nach London unternommenen Reisen komponiert. Mit ihnen war er europaweit endgültig berühmt. Aber um gerade mal diese zweimal sechs „Londoner Sinfonien“ wurde nach und nach – Ausnahme England – der aus nicht viel mehr als aus dem „Kaiserquartett“, der „Sinfonie mit dem Paukenschlag“ und der „Abschiedssinfonie“ sowie den beiden Oratorien bestehende Haydn-Kanon erweitert. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beschränkte sich das Abendland auf eine Art Schrumpfhaydn.
Zwar haben schon Dirigenten wie Antal Dorati oder Adam Fischer auf älteren, verdienstvollen Gesamtaufnahmen Licht in den bis dahin eher toten Haydn-Winkel geworfen. Aber über ein wissenschaftliches Interesse an bisher weitgehend nur Fachleuten Bekanntem hinaus sorgt Giovanni Antonini dafür, dass es, angefangen mit der 1. Sinfonie D-Dur Hob. I:1 (I:1) ein bis in die Herzkranzgefäße strömendes Wohlgefühl erzeugt, dem frühen und mittleren Haydn-Sinfonien zuzuhören.
Pierre Barbaud stellt für diesen ersten Abschnitt der panonischen Sinfonieproduktion, sie dauert bis ungefähr 1773, „eine dionysische Periode eines im Wesentlichen apollinischen Genies” fest. Womit er auf die auf Erschaffung und Erfüllung strenger Kompositionsregeln gerichtete Arbeit Haydns an seinen Streichquartetten ab Opus 33 hinauswill: „In den Sinfonien dramatisiert Haydn seine Quartette“, er hebt den Widerspruch zwischen Kopf und – wie Mozart fachsimpelte – „Arsch“ der Musik auf.
Die Energie und Lebenskraft, die Antonini Haydn in diesem Sinn mitgibt, seine Vergrößerung aller Ausdrucksparameter, die hingehauchten Pianissimo-Passagen so gut wie die, den Lärm nicht scheuende Vehemenz des fortissimo, eine Schelmin, die sich dabei an die Ästhetik der Italowestern erinnert fühlt – ergibt am Ende einen, zu kleinen und großen Tutti-Explosionen neigenden, farbenfroh grell gespannten, eine Art bei Bedarf auch dämmrig nachdenklichen Espressivoismus.
Für einige Fachleute verstößt Antonini mit so etwas gegen alles, was sie der klassischen Musik als „künstlerische Seriosität“ einbedingen und abverlangen. Für andere, wie den Autor dieser Zeilen, erfüllt der Mailänder mit seinem Haydn einfach den Wunsch nach einer, den Wirkungen der Popmusik vergleichbaren Erfüllung auch musiksinnlichster Momente geistigen Spaßes.
Und spaßeshalber bekommt man dann noch mit, wie interessant das Gehörte im Hinblick auch auf die Möglichkeit ist, nachzuverfolgen, wie sich da, fast von Werk zu Werk, aus der eigenschöpferischen Verarbeitung ringsum einwirkender Einflüsse die haydnsche Form der Sinfonie entwickelt; in ihr dieser spezifische, für die meisten Dirigenten so schwer zu treffende Haydn-Ton.
Antonini trifft ihn blind, er scheint ihn im Blut zu haben, so impulsgeladen musiziert er bereits den Beginn der dreisätzigen Sinfonie I:1 am Beginn der 104 Sinfonien. Es ist – etwa 20 Jahre, bevor Mozart in Italien die dortige Sinfonie vor Ort erkundete – Haydns besondere Kunst, mit dem damals in Europa hegemonialen Einfluss italienischer Musik umzugehen. Die Eleganz Italiens verwandelt sich in Haydns der Welt zugewandtem und weltgewandtem, von pannonischer Kraft durchströmtem Geist in ein im Vergleich zwar vielleicht nicht ganz so italienisch leichtfüßiges, so, wie es Antonini musiziert aber pointiert dynamisches Voranstürmen eines aufgeklärten Optimismus im protorevolutionären Europa.
Ein wenig langweilig wird es selten, vielleicht in Sätzen wie dem eröffnenden Adagio von I:5. Ihm liegt das Formgerüst der Kirchensonate zugrunde, Haydn lässt es unangetastet. Es macht gleichwohl Freude nachzuverfolgen, wie Haydn schon zu Beginn seiner Erkundung sinfonischer Möglichkeiten die Wirkung der Instrumente nach und nach im Orchestersatz ausprobiert. Sie kommen konzertierend alle dran, von der Flöte bis zum Kontrabass. Zunächst die seit Barockzeiten in den Orchestern vorhandenen Hörner und Oboen/Englisch Hörner. Dann die Geigen, in Gestalt des großartigen Konzertmeisters Luigi Tomasini, dessen Doppelgriffe solo das Adagio von I:6 eröffnen. Überall durch die sehr frühen Sinfonien spukt so die in der Musikgeschichte bald auslaufende Sinfonia Concertante.
Am Beginn von I:6, die Sinfonie trägt den Beinamen „Le Matin“ (der Morgen), ist, nach einem ausinstrumentierten Crescendo mannheimer Art, eine Miniversion des großen C-Dur Anbruchs „Und es ward Licht“ aus der „Schöpfung“ zu hören. In den Menuetten, sie werden später zur unangefochtenen Spezialität haydnscher Sinfonik, verbreiten sich, oft volkstümlich spärlich aber farbig instrumentiert, höfische Etikette in gepuderten Bewegungen mit tänzerischer Lust am Auf und Ab der Volksmelodien.
Zwischen den ersten Satz von I:26 und das folgende Adagio legt Antonini eine markant lange Pause ein. Das Werk ist mit „Lamentatione“ überschrieben, eine Klage. Aber das Allegro assai con spirito des Beginns verdankt sich zwar, wie der langsame zweite Satz, den Passionsmotiven einer Choralbearbeitung. Aber es klingt im Allegro weder klagend noch leidend, soviel „spirito“ legt Antonini hinein: es klingt nach Auflehnung gegen das Leiden. Selbst die durchgehend legato-traurige Choralmelodie des Adagio wird von beunruhigenden Triolenfiguren der Geigen hintergangen; da kommt jemand nicht zur Ruhe. Offenbar wehte der Zeitgeist, den man heute verkürzend „Sturm und Drang“ nennt, auch durch die Köpfe Panoniens. Beim Eisenstädter Haydn – von Antonini mit, sich der Gefahr von Manieriertheit aussetzendem Nachdruck betont – bricht er impulsgeladen, voller Spannungen und kompakt dynamischer Aufladungen in den Moll-Sinfonien durch. In der Literatur wird diese Periode Haydns seine „romantische Periode“ genannt. Falsch im Sinn von undialektisch wäre das nur, wollte man übersehen, dass die Romantik des „Sturm und Drang“ eine (vor)revolutionäre war, die Romantik E. T. A. Hoffmanns, Eichendorffs oder Schumanns eine postrevolutionäre bis erzkatholisch-reaktionäre.
Mozart: Sinfonie xg KV 183 / I. – The English Concert / Trevor Pinnock
Gleich die erste der g-Moll Sinfonien, I:39, hat es in sich. Kein Wunder, dass gerade dieses Werk, in dem seinerseits viel Carl Philipp Emanuel Bach steckt, besonders kenntlich in den wilden Synkopen von Mozarts „kleiner“ g-Moll Sinfonie KV 183 nachklingt. Antonini lässt gleich in I:39 aus Haydn, dem gemütlichen Biedermeier-Kretin des Bildungsbürgertums, den Citoyen Haydn werden, der im Saft seiner Dreißiger eine – Beethoven dynamisch vorwegnehmende, nur eben pannonisch charmantere – jakobinische Variante der Aufklärung musikalisiert. Antoninis Streichertutti wird hier endgültig zum Schlagwerk der Saiten. Der massive Streichereinsatz in dieser Sinfonie wird von vier Hörnern hinterfüttert, es ist eine wahre Orchesterklangwucht – geöstreichert: a echte Hetz, a Mordsgaudi!
Ein weiteres, ausgefallenes Beispiel aus Haydns, von Giovanni Antonini so lebhaft beleuchteten totem Winkel wäre I:60. Sechs Sinfoniesätze. Als wär’s eine barocke Orchestersuite. Damit hat sie aber gar nichts mehr im Sinn. Denn sie ist aus der Theatermusik zu Jean Francois Regnards Komödie „Der Zerstreute“, Il Distratto, entstanden. Theaterhaft abwechslungsreich, voller Kontraste und Stilbrüche. Man kann gut darauf verzichten, diese Musik programmmusikalisch auf den Verlauf der Komödie herunterzubrechen. Immerhin, die unerwarteten Wendungen der Handlung, die komische Zerstreutheit Leandres, der männlichen Hauptfigur, inspirierten Haydn offensichtlich zu vielen Ausflügen in sein Vergnügen an musikalischer Überraschung: Nach dem ouvertürenhaft serianahen Portal einer vielleicht karikierend-pompös kurzen Adagio-Einleitung eine wunderbar sangliche Partie der Geigen, begleitet von zwischen Tonika und Dominante hin und her schaukelnden Sechzehnteln der tiefen Streicher. Im anschließenden Allegro di molto ein geradezu aktivistisch aufmunterndes, signalhaftes erstes Thema aus drei Staccato-Achteln und einem kurzen Viertel, motivischer Kern und Keimzelle des Satzes. Am Themenende reduziert Haydn den Fluss, die Musik kommt pianisissimo in einer Generalpause zum Erliegen. Sekundenlang atemberaubende Stille, Spannung – und Tuttischlag! Es geht fullspeed weiter. Haydn langt ins Komische, er spielt mit den Erwartungen. Der bald sprichwörtliche „haydnsche Witz“ kommt zu sich.
Das den Satz durchziehende Motiv der drei kurzen und der einen längeren Note markiert eine weitere der haydnschen Neuerungen: der Rhythmus kann zum Thema werden. Beethoven hat das im ersten Satz seiner 7. Sinfonie und geradezu ikonophonisch mit dem Anfang der 5. Sinfonie fortgesponnen. Auch deren Anfangsmotiv besteht bekanntlich aus drei kurzen und einer weiteren Note, die Beethoven allerdings durch verlängernde Betonung zum Schwerpunkt macht; die drei kurzen Noten werden zu einer Art Auftakt ihrer selbst.
Anders als später sein widerspenstiger Schüler Beethoven, spricht Haydn nicht bewusst in eine Öffentlichkeit – er reißt auf persönlicheren Wegen das Auditorium im Allegro von I:60 in die gleiche Richtung hin, in die auch Beethoven streben wird, ins dramatisch ereignishaft Offene. Das Adagio ein Idyll unisono-bukolischen Friedens. Legato, das war in der dogmatisch mageren Anfangsphase historischen Musizierens nahe am No go, es wurde misstrauisch beäugt. Inzwischen spielen die Streicher von Il Giardino Armonico oder die von Antoninis zweiter Haydn-Kapelle, dem Basler Kammerorchester, das naturhaft unwiderlegliche Legato-Idyll wunderweich und atmend aus; die dazwischenfunkenden Hornsignale bekräftigen närrisch kontrastierend nur die Unbeirrbarkeit des auf den sich zuweilen imitatorisch brechenden Wellen eines stampfend-beschwingten Volksphilosophentanzes dahinfließenden Friedens. Im Menuett von I:60 taucht sogar kurz eine fugierte Passage auf; im abschließenden Presto fällt den Violinen, kaum dass sie das erste Thema vorgestellt haben auf, dass ihre Instrumente verstimmt sind. Sie halten an und stimmen ihre auf F abgesunkenen G-Saiten nach, dann geht’s weiter.
Es spielt im Grunde keine Rolle, ob Haydn sich komponierend an den Motiven der Theaterdichtung Jean Francois Regnards orientierte oder sich von ihr nur hat anregen lassen. Haydns Musik spricht ihre eigene Sprache und erzählt allen die Geschichte, die in jeder und jedem in dem Moment gerade entstehen will. Eine Geschichte vielleicht darüber, dass Idyllen einen gegen Banalitäten allergischen Menschen des dritten Jahrtausends als solche erst interessieren, wenn in ihnen angelegte Brüche bemerkbar werden. Ohne Brüche ist die real existierende Idylle zurzeit längst unglaubwürdig.
Der harmonische Reichtum im Orchestersatz Haydns wächst gegen Ende seiner panonischen Lebenszeit, er wird motivisch-thematisch verwickelter. Seine Vorliebe für komische Diskontinuitäten aber, für die originelle Verletzung der Konvention, sie bleibt. So steckt, kurz vor Beginn seiner Arbeit an den für die Konzerte in der französischen Hauptstadt Ende der 1780er Jahre vorgesehenen „Pariser Sinfonien“, noch die 1784 entstandene I:80 voller feiner Ordnungswidrigkeiten. Abermals ganz gegen die Erwartung, die ihr Beinamen „La Passione“ weckt, stürmt und drängt sie, zumindest in den Ecksätzen, leidensfrei voran.
Da stampfen – es „fehlt“ die langsame Einleitung am Beginn des Allegro spirituoso –, begleitet von dramatischem Streicher-Tremolo, gewaltige Tuttischläge im Bass die erste Zählzeit eines Dreivierteltakts ins Ohr. Nach 20 Takten wird die Betonung der ersten Note von Synkopen irritiert. Wieder Tremolo und Aufregung. Am Ende der Exposition aber geht das dramatische Geschehen, man weiß nicht wie, in einen beschwingten Ländler simpelster Art über. Ihm fehlt allerdings gezielt der letzte Takt der üblichen achttaktigen Periode. Nach der Wiederholung wird nach einer zwei Takte langen, wie ein unvorhergesehenes Ende der Musik wirkenden Generalpause die Durchführung zur Bühne des banalen Ländlers, in der Luft ein Vorausahnen der Vorliebe Gustav Mahlers fürs Abgestandene. Mit dem Ländler klingt der Satz aus.
Das Presto am Sinfonieschluss spielt schon in der dreifachen Viertelnote des Beginns mit der Synkope, denn sie ist beim ersten und dritten Erklingen als doppeltes, über den Taktstrich hinweg verbundenes Achtel notiert, man kann die Synkope als quasi ihren eigenen Auftakt nur hören, wenn man sie vorher gelesen hat. Viel mehr an Thematik als diese drei Noten ist kaum zu erkennen. Der unglaublich ausführlichen Verarbeitung dieses Themenminimums schon in der Fortspinnung seiner drei Bestandteile, erst recht aber in der Durchführung, entspricht ein Maximum an vielfach variiertem Einsatz synkopischen Vorwärtsdrangs.
Haydn wird vor allem für die gedankliche, konzeptionelle Ausfüllung des schon lange vor ihm in der Musik vorhandenen Sonatensatzes gepriesen. Aber die Durchsetzung des ihm zurecht zugeschriebenen Sonatenhauptsatz-Prinzips (der Inhalt wurde von ihm ausgearbeitet, der Begriff bildete sich erst nach seinem Tod) spielt in den hier besprochenen frühen und mittleren Sinfonien noch kaum eine Rolle. Es ist der Orchesterklang, der Einsatz seiner dynamischen und farbklanglichen Möglichkeiten, der in diesen Sinfonien auftrumpft. Es ist deren neue Art klangkörperlicher Präsenz und öffentlicher Wirksamkeit.
Es wird im Fall Haydns oft darüber geklagt, dass es für einen weiten Zeitraum seines Lebens nur wenige Dokumente und folglich wenig Wissen über sein Privatleben, sein Menschsein, gibt. Aber Musik – als tönende Form – ist nicht nur eine Delikatesse für den Intellekt. Schon einzelne ihrer Töne, allein oder miteinander, richten bis ins Dunkel unseres Unterbewusstseins rätselhafte Wirkungen an. Weil sie darüber hinaus offenbar auch noch in der Lage sind, zumindest das historisch und kunsthistorisch versorgte Bewusstsein zu Eulenflügen zu inspirieren etwa durch die untergegangene Welt des 18. Jahrhunderts – darum erfährt, wer Haydns pannonische Sinfonien hört, viel Persönliches und Atmosphärisches auch über diesen immer wieder neu zu Entdeckenden.
Was hat dieser Mann vom Dorf, ohne große Vorbildung, im Laufe seines Lebens nicht alles an Weltwissen in sich untergebracht, was hat er daraus werden lassen, für wen nicht alles? Allein zur weiteren Entdeckung all dessen hat Giovanni Antonini in der Tat einiges beigetragen. junge Welt, Januar 2023
Es war eine Welturaufführung. Aber dass sie nun am Sonntag in Berlin als passender Epilog einer großartigen XXVIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz gerade von der einzigen marxistischen Tageszeitung des Landes zu Wege gebracht wurde, war wohl ein glücklicher Zufall. Denn zur Freiheitlichkeit der Demokratie auch des Vereinigten Königreichs gehört es nun mal, Filmen wie »Oh, Jeremy Corbyn: Die große Lüge« maximal viele Steine in den Weg zu legen, bevor sie, wenn überhaupt, erscheinen dürfen. So war es die junge Welt, die die Dokumentation über den Putsch gegen Jeremy Corbyn als Weltpremiere zeigen konnte, wie Chefredakteur Stefan Huth eingangs berichtete. Dass der Film von Regisseur Christopher »Chris« Reeves am Folgetag der Konferenz über die Leinwand des Kino Babylon und direkt in die Köpfe und Herzen eines aufgeklärten Berliner Publikums gehen konnte, war auch den in Rekordzeit und Nachtarbeit erstellten deutschen Untertiteln Susann Witt-Stahls zu verdanken. Der Saal war prallvoll, ausverkauft.
Ein Film wie ein sanftes Gewitter. Bilder von den begeisternden Auftritten Jeremy Corbyns vor den Massen überwiegend jugendlicher Labour-Anhänger. Der fast lebenslange linke Hinterbänkler hatte mit der Losung »For the Many, Not the Few« (Für die Vielen, nicht die Wenigen) die Sache mit der Demokratie auf den Punkt gebracht. Bilder und Worte von einer Authentizität, von der bürgerliche Politiker nur träumen können. Zum Nachdenken zwischenein besonnene, humorvoll-realistische Kommentare britischer Linker, unter ihnen Kenneth »Ken« Loach, der Vater des Films der britischen Arbeiterklasse.
Eine aus dieser Reihe, die Graswurzelaktivistin Jacqueline »Jackie« Walker, antwortete nach der Filmvorführung live auf Huths Fragen. Sie beschwerte sich lachend, Fragen solcher Art bedürften Stunden der Antwort, aber sie wolle versuchen, sich kurz zu fassen. Die schwarze Engländerin jüdischer Abkunft, langjähriges Mitglied von Jewish Voice for Labour, sprach aus Erfahrung auch über Jeremy Corbyns entscheidenden Fehler im Schlamm-Tsunami, den die freiheitliche Presse, die vereinigte Rechte, mittendrin der Labourpolitiker Keir Starmer, und die City of London, gegen ihn entfachten: Auf dem zurzeit immer noch schwierigsten Terrain propagandistischen Klassenkampfs, dem Antisemitismus, entschuldigte sich Corbyn für seine Solidarität mit dem palästinensischen Volk. »Wer angegriffen wird«, sagte dazu Jackie Walker mit geradezu revolutionärer Gelassenheit, »darf sich nicht entschuldigen; er muss zurückschlagen«.
Auch an anderer Stelle gab es für die deutsche Linke zu lernen. »Was wäre geschehen«, fragte Huth, »wäre mit Corbyn in einem imperialistischen Hauptland ein NATO-Gegner an die Regierung gekommen?« Walker erläuterte anhand von Zitaten britischer Militärs, dass jenes Gebilde, das sich notorisch »freiheitliche Demokratie« nennt, in dem Moment, da jemand die rote Linie eines Systemwechsels ansteuert, sich seines Demokratiefummels leichterhand entledigt und offen terroristisch mit einem Staatsstreich reagiert.
Ohne den Unterhaltungswert der Veranstaltung bewusst steigern zu wollen, fragte Huth auch nach der Rolle der britischen Tageszeitung The Guardian in dieser Angelegenheit. Man hat im Babylon einen Menschen auf eine Frage wohl selten derart herzhaft lachen sehen. »Nicht die Rassisten und offenen Kolonialisten sind die Schlimmsten«, antwortete Walker, »bei denen weiß man wenigstens, woran man ist – die Liberalen, die ihren Rassismus und Kolonialismus hinter kostenfreien Wortwolken verbergen, sind die Schlimmsten«. Was Jeremy Corbyn anginge: Er sei kein Revolutionär und kein Marxist – aber ein Mensch, der ohne Wenn und Aber konsequent gegen den Krieg einstehe. Das allein sei unschätzbar viel.
Unerfreulich und von Jackie Walker im nachhinein als Symptom der gegenwärtigen Schwäche der Linken gedeutet: dass jemand sich das Saalmikrofon reichen ließ, um statt einer Frage versuchsweise das an diesem Nachmittag nicht gefragte Thema Covid in den Mittelpunkt zu rücken. Was ist eigentlich an »Disziplin« so übel, möchte man da in die Richtung fragen, wo einmal die Linke war.
In Antwort auf Susann Witt-Stahls letzte Frage, was wir in der BRD aus dem vorläufigen Scheitern Jeremy Corbyns und seiner Ideen lernen könnten und was uns zu tun bleibe in der Situation, in der wir selbst sind, erinnerte Walker daran, dass wir am Ende keine andere Wahl hätten, als bei der Wahrheit zu bleiben. Der Zeitpunkt, da sie wieder verfängt, könnte nicht gar so fern sein. Bei der Wahrheit bleiben, wenn ich Jackie Walkers weiches Englisch richtig verstanden habe, mit Geduld und leise, wenn’s geht – das war ein gutes Schlusswort am Ende eines Nachmittags voller wichtiger Eindrücke. junge Welt, Januar 2023
Fassen wir uns kurz. Es dreht sich bei Rudi Hurzlmeier – er wird am 13. November siebzig, wir gratulieren heftig – um einen Künstler, der ohne Bayern, viel mehr aber noch ohne Komik undenkbar wäre. Um Missverständnisse zu vermeiden: Komik und Humor sind zweierlei. Hurzlmeier hat in seinen besseren und besten Arbeiten mit Humor seltener etwas am Hut. Humor spitzt nicht zu, er urteilt und verurteilt nicht, er ist halt mehr humorig, wie etwa Wilhelm Busch es war, nichts gegen ihn, er hat die Form des Comic mitgeschaffen, er war ein außergewöhnlich guter Zeichner und Reimer. Die Komik aber brachte Kinder wie Ironie und Satire zur Welt. Beiden und mit ihnen dem Komischen eignet die Tendenz, Position zu beziehen und gesellschaftlich einzugreifen mittels Kunst.
Annibale Carracci
Das aber ist bei Hurzlmeier so eine Sache. Er ist ein Großmeister komischer Kunst, keine Frage. Von im gebräuchlichen Sinn „politisch“ aber kann bei ihm nicht die Rede sein, muss ja auch nicht. Schon die im späten 16. Jahrhundert bedeutenden florentiner Malergebrüder Caraccci hatten ihren Spaß daran, das hohlgewordene Schönheitsideal der Renaissance in prallen Karikaturen mit der witzigen Wahrheit des Hässlichen zu konfrontieren, auch das ein Eingreifen. Aber politisch? Noch nicht.
Die Essenz von Komik und Komischem ist die Kritik. Das Bestehende – es hat die starke Tendenz, sich für alternativlos zu halten – wird im Komischen mittels diverser Tricks infrage gestellt und damit zur Disposition. Insoweit Hurzlmeier alles mögliche auf den Kopf stellt und alles Unmögliche ermöglicht, aus einem Wal einen Tropenvogel werden lässt, aus einem Schornstein ein Klosett, aus einem Schimpansen einen Goethe oder umgekehrt, lehrt er das, was eins als Realität zu kennen meint, das Fürchten vor den enthüllenden Interventionen des Komischen.
Kunst in ihrer neuzeitlichen Ausprägung – die ersten veröffentlichten europäischen Bildsatiren waren antiklerikal – ist entstanden aus der Kritik am gesellschaftlichen Zustand (deren Fehlen macht die Kunst 2022 im Abendland weithin so öde). In den frühen Zivilgesellschaften kam sie von unten. Lange vor den Heiligenbildern oder den herrschaftlichen Epen und Ritterdichtungen des frühen Mittelalters wurde in der großen, arbeitenden Bevölkerungsmehrheit Europas aufmüpfig gedichtet, gesungen und eben auch gebildert. Geburtsorte und Nahrungsgrund der Kunst – denn sie hat den Widerspruch in der DNA – waren darum weder die Gotteshäuser, noch gar die Orte ihrer Aufbewahrung oder Aufführung, die feudal privaten Konzertsäle und Museen der adeligen Paläste. Es war die Öffentlichkeit der Straßen, Plätze, Märkte und Wirtshäuser.
Oben in der Gesellschaft war das Komische darum immer eher unbeliebt. Dort verpasste man ihm das Stigma des plebejisch Unterklassigen und Minderwertigen. Es wurde – im Kontrast zum elitär würdigen E für den rituellen Ernst der Hochkultur – mit dem Buchstaben U abgestempelt, Unterhaltung, Schnickschnack, bestenfalls Hofnarr. Seit den 1960er Jahren hat es bis in unsere Tage gedauert, bis es die Comics, Cartoons, die komische Kunst Hurzlmeiers und seiner nicht mehr adenauernden Spaßgesellen in Gegenwart und Vergangenheit aus der wenig kunstprominenten Öffentlichkeit der paar Satiremagazine und Zeitungs-Humorseiten endlich ins Museum geschafft haben.
Hurzlmeier fing, nach Abbruch diverser Laufbahnen, Schule inklusive, in den 1970er Jahren mit dem Zeichnen an. Typisch für ihn, dass seine Karriere nebenbei eine trauerrandige Bestätigung darstellt für die ganze Überflüssigkeit von Kunstakademien der überkommenen Sorte. Hurzlmeier war, selfmade, früh druckreif. Seine Arbeiten fanden oder finden sich in Pardon, Eulenspiegel, Kowalski, Titanic etc. Er illustrierte Texte bedeutender komischer Autoren wie Harry Rowohlt, Robert Gernhard, Wiglaf Droste, Peter Hacks, Fritz Eckenga, Thomas Gsella uva. Aber erst 2004, mit zweiundfünfzig, ereilte ihn der zunächst 3. Preis des Deutschen Karikaturenpreises. Ihm folgten zweimal Gold in 2010 und 2014. Der Ritterschlag 2016 eine Ausstellung in Hannover im Wilhelm Busch Museum, dem Ausstellungs-Olymp für große Zeichner. Hurzlmeiers bis heute letzte große Ausstellung schließlich markiert mit ihrem Ort zugleich einen gewissen Quantensprung deutscher Kunstgeschichte. Sie fand im ersten, allein der komischen Kunst gewidmeten Haus in Deutschland statt, im Caricatura Museum Frankfurt; es verdankt sich einem unaufhaltsam rührigen, echten Karikaturenversteher wie Achim Frenz aus Kassel, der kenntnisprall auch alles kuratiert, was in seinem Museum gezeigt wird.
Lange wurde das Komische als das auch ästhetisch Untere sorgsam rausgehalten aus allem, was als Kunst galt, es war geduldet. Aber lediglich als Moment und Element des Allerheiligsten. So etwa, wenn Picasso als alter Mann in den einzigartigen 347 Gravuren die erotische Fülle seiner Jugend und die Schönheit der Frauen – sich selbst als sie malenden Affen – feiert oder wenn Breughel, schon recht nah an komischer Kunst, in seinen sinnensatten Wimmelbildern das tanzende, prassende, vögelnde Volk der äußerlich so sittsamen Oberschicht gegenüberstellt. Rudi Hurzlmeier darf sich das Verdienst zurechnen, den Spieß und den Spaß endgültig umgedreht zu haben. Das Komische in seinen Bildern ist nicht mehr nur Würze und Beifutter von etwas hierarchisch Höherem – es wird in seinen Arbeiten zum Ausgangspunkt und Eigentlichen.
Es fällt an dieser Stelle eine weitere hemmende, im Zusammenhang mit Hurzlmeier bemerkenswerte Hierarchie der bildenden Kunst auf: die zwischen Zeichnerei und Malerei. Als Darstellung des räumlich, volumenhaft oder sonstwie Dinglichen mittels der Linie führt die per Feder und Tinte oder per Stift gefertigte Zeichnung, gestrichelt auf Papier oder geritzt in Metall, als eine Art „Vorstufe“ zum mit Pinsel und Farbe gemalten Tafelbild ein Schattendasein in den Museen und Herzen vieler Kunstliebender (das gleiche gilt natürlich in der ohne Abbilder operierenden Bildnerei für den Auftritt der puren Linie als Inhalt und Begriff für sich). Abbild oder Bild – die Königsdisziplin bleibt in den Augen der Mehrheit ohne Zweifel das Gemälde.
Fraglich also, ob Rudi Hurzlmeier die Aufmerksamkeit und den Erfolg erreicht hätte, auf die er diesen Sonntag vollzufrieden zurückblicken darf, wäre er Mit- und Nachwelt – in Anführung: nur als der ingeniöse Zeichner überliefert, der er ist. Die nicht wegzudenkende Rolle der Zeichnung auch in Hurzlmeiers Malerei einmal außeracht, geht man sicher nicht fehl in der Annahme, dass das an diesem Wochenende zu ehrende Geburtstagskind ohne seinen Entschluss in den 1990er Jahren, sich auch mit allein komisch inspirierter Malerei einen Namen zu machen, kaum so prominent (und wohlhabend) geworden wäre, wie es heute ist.
Ein Blick auf einen seiner vielen Klassiker, nicht zufällig eine Zeichnung, allein die Idee: die uralte Witzbild-Konstellation von der Hausfrau im Blümchenkittel, die ihren spätabendlichen Gatten mit dem schlagbereiten Nudelholz hinter der sich öffnenden Haustür empfängt – Hurzlmeier hängt sie, die Idee, um philosophische Welten höher, indem er statt des Gatten Gevatter Tod mit Kapuze, Knochenschädel und Sense in der Tür erscheinen lässt. Das Komische schlägt gnadenvoll zu. Es tut immer das Unerwartete und kritisiert mithin das Erwartbare. Es verzeichnet, überzeichnet und verzerrt das Erwartbare zur Deutlichkeit all dessen, was seine Oberfläche nicht hergibt. Und wie das gemacht ist! Mühelos, ja wie achtlos und scheinbar nebenheriger als eine – im Kern schon alles enthaltende – Skizze wirft er die Linien auf den Schöllershammer-Karton. Akademisch stimmt da nichts. Und ist zugleich in einem höheren als dem tektonischen, perspektivischen, dem anatomischen und allem sonstigen Sinn überaus richtig hingekrakelt und weggekringelt; sogar die mit transparentem Weiß unmerklich eingefügten Marginalkorrekturen fügen sich stimmig ein ins ästhetische Gefüge. Die zusätzlich zur Decken- und Bodenlinie den Raum aufreißenden beiden Lichtlinien der geöffneten Tür – zweimal ein Hauch von Strich. Die beiden Bogenlinien der Türoberseite wiederholen sich in der Sense und in der Kapuze des Sensenmannes. Das in der Perspektive sehr schmale Türblatt trennt die grellweiße Aura des Todes links vom Leben rechts, dem Hurzelmeier in der Schnelle noch den farbig-warmen Schatten mitgibt, den die Tür auf die Frau des Hauses wirft. Links am Bildrand hält eine in ihrer extremen Verkürzung dito hinreißende Garderobe das Bildganze zusammen. An diesem Blatt ist, wird sein und war immer jeder Millimeter Kunst. Anlässlich ihrer, das unterscheidet sie vom mehrheitlich akomischen Rest, darf eins, ja soll eins im Museum als über eben große Kunst berstend lachen.
Besonders laut natürlich über eine von Hurzlmeiers Spezialstrecken, die Tiersatire. In einer kahlen Voralpenlandschaft voller sauber abgenagter Baumstümpfe steht eine Bibermutter mit ihren Kleinen neben einem Erdhaufen und keift auf diesen zu: „Du bist kein Biberl net! Sieh’s endlich ein und schleich dich!“– „Freilich bin ich ein Biberl!“, antwortet restlos verzweifelt oben auf dem Erdhaufen ein kleines Vögelchen. Er hat viele seiner gezeichneten Ideen später als Gemälde wiederholt. Nicht immer zu ihrem Vorteil und oft unter Inkaufnahme einer Minderung des Komischen, hin zu mehr humorigen, tendenziell harmloseren Wirkungen. So, beispielhaft, die folgende Zeichnung: Allein, eine Kuh von hinten zu zeichnen, ist rein tieranatomisch für jeden Zeichner eine Herausforderung. Darauf aber, wie Hurzlmeiers Kuh in der Art eines Hundemännchens das eine Hinterbein hebt und aus vollem Euter mit einer der Zitzen an einen Baum milchelt, wäre sicher gern auch Ernst Kahl gekommen. Die beiden Großmeister der Menschenphilosophie in Tiergestalten haben sich unabhängig voneinander und vielleicht inspiriert von Michael Sowa, dem dritten im Bunde der Monarchen im Bund gemalter komischer Kunst, eines besonders schönen Tages und jeder auf seine ganz besondere Art auf die Akrylmalerei verlegt.
Und da treibt Hurzlmeiers hochschulfrei ausgeschüttetes und von ihm auf ureigene Art veredeltes Talent nun noch einmal auf Leinwand gepinselte, bis ins Grellbunte und Flüchtige driftende Blüten. In einer, für seine Verhältnisse vielleicht eine Idee zu simplen Verhonepipelung der Mona Lisa, zitiert Hurzlmeier – dessen Stil und Maltechnik souverän paraphrasierend und karikierend – Leonardo. In anderen Werken nimmt er lässig kurz den Delacroix samt Impressionismus oder Vincent van Gogh mit auf die Schippe oder bedient sich in der meisterhaft aufgerissenen Ansicht einer barock- bis neudeutschen Stadt aus Sicht eines, beim Kacken zeitunglesend und gemütlich auf dem Schornstein eines Hauses im Vordergrund sitzenden Schornsteinfegers, der hurzlmeierisierten Malweise des 19. Jahrhunderts; gelegentlich schaut ihm auf anderen Bildern glückhaft der großartige, nur als humoriger Genremaler be- und verkannte, Landschafter Carl Spitzweg (1808-1885) über die Schulter, auch er ein Urahn komischer Malerei.
Carl Spitzweg
Hurzlmeier erweist sich malend als Polystilist. Er bedient sich – spielend, spielerisch, gelegentlich schon mit fast taschenspielerisch anpassungsfähig leichter Hand – je nach Thema, der Technik und Ästhetik einiger Jahrhunderte und kommt, gegriffen wieder wahllos aus einer, beizeiten so langsam besorgniserregenden Fülle von Hurzlmeier-Beispielen, bei der Formulierung einer Art malerischer Allegorie der Erotik zu erstaunlichen Ergebnissen: im Schoß eines in einer Mischung aus Egon Schiele und Michelangelo wie in dessen jüngstem Gericht, nur eben über einem Bett, in der Luft schwebenden riesigen Mannes – dramatisch fleischfarben, mit offen wehendem grünen Hemd hinreißend gemalt (besonders die Füße!) – sitzt, seinen sattroten Schweif enteregiert und buschig aus dem Mannesdistrikt streckend, ein süßes kleines Eichhörnchen.
Egal, was Meister Hurzlmeier thematisiert: der ganze malerische Aufwand dient immer einzig der komischen Wirkung (und der Mordsgaudi des Künstlers beim Malen). Als Surplus sorgt er für poetische bis kunstvoll banale, in der neueren Produktion allerdings vielleicht öfter auch schon postbillige Stimmungen. So allerdings überhaupt nicht in jenem, in nachtgrauen und dunkleren Tönen gehaltenen Friedhofsblatt. Der Blick, es ist Nacht, eine Mondsichel und ein Paar Sternlein sorgen für Aura, fällt zuerst unweigerlich auf einen im Zentrum liegenden, helleren Grabstein. Er ist rechteckig groß, auf der gerundeten Oberseite das Kreuz, die Inschrift: „Hier ruht / Oberregierungsrat / Dr. Schnepf“. Erst dann fällt der Blick auf den exakt auf der Grabplatte über dem Verblichenen unter einer aufgefalteten Zeitung schlafenden Obdachlosen mit ungepflegtem Bart und zottelig lang nicht geschnittenen Haaren, die leeren Flaschen neben ihm, die Aldi-Tüte zu seinen, aus der Zeitung unten herausschauenden Schuhen verheißen nichts Gutes. Am Ende doch noch ein „politischer“ Hurzlmeier? Die Arbeit funktioniert wie ein ganz normaler Bilderwitz, sie mutet wie einer an. Sie hat auch nichts vordergründig Anklagendes. Und doch. Nicht nur die komparative Bildunterschrift „Bezahlbarerer Wohnraum“ bringt die Gedanken aufs Sozialkritische. Hurzlmeier scheint nichts dagegen zu haben. Er ist kein dummer Künstler.
Das Feuilleton klebt seinen Arbeiten gern und billig Vokabeln wie das Absurde, das Groteske oder den Surrealismus an. So hoch, scheint’s, pokert dieser mit den schönsten Anlagen Gesegnete aber gar nicht. Hurzlmeier ist gottseidank kein Dali, auch nirgends ein Max Ernst oder Renè Magritte; die hatten alle wenig bis nichts am Hut mit so etwas wie dem Komischen; Rudi Hurzlmeier seinerseits hat es faustdick in den Genen.
Auch in seiner Malerei ist es die Linie, die das Bild und die Kunst macht. Was immer dahinter steckt: Es ging in diesem Großmeister komischer Kunst verschwenderisch mit seinen, den Möglichkeiten dessen um, was dahintersteckt. Am Ende steckt freilich auch milder vielfarbiger Humor in seinen Gemälden. Aber das Komische, im bitterlustigen Kern Kritische, setzt sich in seinen besten Blättern immer wieder auch direkt durch. Ein Aquarell soweit ich aus der Reproduktion erkennen kann (auch das, technisch besonders schwer, kann er) – einfacher Bildaufbau: auf einer grün und zentral ins Bild ragenden Bergkuppe oben, umgeben von Baum und Büschchen, steht, ein Weg schlängelt sich von unten auf es hin, ein schlichtes weißes Gotteshäuschen mit Zwiebelturm vor einer bläulich an den Horizont getuschten Alpenkulisse und einem wölkchenbetupften Himmel darüber. Mit Stift überm Bild: „Kirche von hinten“. Erst jetzt sieht man das dunkle runde Fensterlöchlein oben in der sonst leeren weißen kirchlichen Hinterseite. Darunter die Zeile: „Jetzt erst recht eintreten!“ Man muss nicht gleich Surrealist sein oder sonst was – Humanist tut’s auch. Es trifft’s.
Politisch oder nicht – was er zeichnet und malt, ist durchweg ins Philosophische langend komisch, es tut vor allem um den Bauch herum extrem wohl und reicht üppig hin, sich einzureihen und ihm an seinem Ehrentag von Herzen zu danken für so schier unendlich viel Vergnügen! junge Welt, Oktober 2022
Vorn drauf, so ähnlich würden sie, in Dialekt eingefärbt, in Mörfelden wahrscheinlich sagen, vorn drauf steht auf dem blauen Umschlag in weiß – in deutsch, russisch, englisch, französisch, spanisch und chinesisch – das Wort „Frieden“. Geschmückt mit der Friedenstaube des Genossen Pablo.
„Es ist November 2022“, hebt, auf den folgenden Seiten ins Russische und Ukrainische übersetzt, Rudi Hechlers Vorwort an. Wer über den Frieden redet, kann vom Krieg nicht schweigen. Also beginnt dieses Buch mit der Situation, in die uns das Geschehen in der Ukraine gebracht hat. Ein Buch über persönlich erlebte Zeitgeschichte. Und vor allem ein im denkbar schönsten alten Sinn rundum gelungenes Buch zum Lesen, ein Lesebuch. Denn Rudi Hechler hat in ihm eine, im doppelten Wortsinn: erlesene Auswahl an Lyrik, Prosa und Dokumentartexten zusammengetragen, die alle sein Leben begleitet, ausgerichtet und bereichert haben.
Schließlich ein Schauebuch. Prallvoll mit alten und brandneuen Fotos in vergilbtem Schwarzweiß bis hin zu digitalen Handyfarben; Bilder vom alten Mörfelden und seinen Menschen, am Ende Fotos von Demonstrationen gegen die aktuellen Kriege des US-Imperiums. Nicht zu vergessen die Abbildungen von Bildkunstwerken, am Beginn eine Hommage an Otto Dix, den wichtigsten proletarischen Maler gegen den Krieg. Rudi Hechler ist durch und durch ein Kulturmensch; man hat es ihm nicht an der Wiege gesungen.
Als eines von vielen Kindern einer Maurerfamilie aus dem hessischen Maurer- und Bauerndorf Mörfelden bahnte er sich seinen Weg in die Welt der Kunst, seine eigentliche Welt, auf eine für seine Klasse typische Weise: „Am 1. April 1948, einem Donnerstag, begann ich meine Schriftsetzerlehre in der damaligen Firma Bayer & Wurm, später Frankfurter Druckhaus. Ich hatte noch nie telefoniert und war noch nie allein weg aus Mörfelden.“ Da war er vierzehn, eine Generation, die in den Erinnerungen der Väter, der Großväter und Onkel seiner Familie den ersten Weltkrieg noch in den Worten derer nacherlebte, die ihn durchlitten hatten.
Als er fünf war, begann der erste große Krieg seiner eigenen Lebenszeit. Zu den eindringlichsten Stellen des Buchs gehören für den Schreiber dieser Zeilen die Passagen, in denen Rudi Hechler die Wege sachlich sprachschöner Geschichtserzählungen verlässt und unmittelbar aus seinem Leben erzählt. Im Deutschland seiner Kindheit wurde eine ganze Generation zu Fremdenhass erzogen. „Ran an den Feind!“ sangen sie in der damaligen Horst-Wessel-Schule, heute nach Albert Schweizer benannt. Der Refrain „Bomben! Bomben! Bomben auf Engeland“ – da war Rudi neun – dröhnte in Form anglo-amerikanischer Bomben krachend blutig nach Deutschland zurück. „Wir sahen wie der Himmel rot war, als Darmstadt verbrannte“, schreibt Rudi poetisch genau. „Wir hatten morgens in der Schule noch warme Bomben- oder Granatsplitter in der Hose zum Tauschen“. Im Hechler-Haus wohnte eine Mieterin mit drei Kindern, der Mann an der Front. Bei Fliegeralarm rannten Rudi und die anderen, vom Vater geweckt, die Treppe herunter, „rissen die Kinder der Mieterin aus den Betten, nahmen ihre Kleider vom Stuhl und sausten in den Keller.“
Käthe und Rudi Hechler beim Ostermarsch in jungen Jahren
Nichts hat er vergessen. Nicht Hiroshima, nicht die Ostermärsche, nicht den großartigen Kampf der deutschen Kommunisten gegen die Wiederaufrüstung der Hitler- zur NATO-Armee. Die Geflüchteten und die Klimakatastrophe kommen zu Wort und ins Bild, der Vietnamkrieg, der Genozid der Nazis an drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Als Rudi Hechler und die DKP-Genossen in Mörfelden im Rathausarchiv zum Thema Verfolgung jüdischer Bürger im Heimatort recherchierten, „konnte man zwar nachforschen, wieviel Hafer die Pferde Gustav-Adolfs gefressen hatten. Über das Schicksal der Juden in unserer Stadt war nichts zu finden“. Am 25. Oktober 1983 beschloss die Stadtverordnetenversammlung auf Initiative der DKP-Fraktion einstimmig die Errichtung eines Gedenksteins am Platz der ehemaligen Mörfelder Synagoge. Heute werden Menschen, die ähnlich handeln und darüber das Schicksal der Palästinenser nicht vegessen, als Antisemiten diskriminiert.
Meist geht Hechler von seinem Heimatort aus; es wird sichtbar (auch auf den vielen Fotos, auf denen Rudi und seine Frau Käthe zu sehen sind), wieviel er selbst als kommunistischer Kommunalpolitiker für diesen Heimatort geleistet hat. Auch die Feiern sind dabei, die großen Abrüstungsdemonstrationen im Bonner Hofgarten, die breiten Bündnisse, die damals zwischen den heute erfolgreich zerlegten Fraktionen der Friedenskräfte möglich waren.
Luther hielt sich 1521 in Mörfelden auf, Lenin fuhr 1917 durch – der kleine hessische Ort bleibt der Mittelpunkt des Buches, der Frieden bleibt sein roter Faden, seine Quintessenz: das Leben Rudi Hechlers. Wie ein Motto steht über diesem Leben, dem Leben einer biblisch großen „merfeller“ Kommunistenfamilie, der von Rudi angeführte Text Erich Frieds: „Solange der Untergang der Menschheit nicht hundertprozentig feststeht, lohnt es sich, dagegen zu arbeiten.“ junge Welt, late Dezember 2022
Eine Weimarer CD. Liese Klahn hatte von 2002 bis 2018 als Festivalleiterin der Klassik-Stiftung Weimar ihren Lebensmittelpunkt an der Ilm; dort lebt und arbeitet auch der Naturhornist und Instrumentenbauer Stephan Katte. Zwei Musiker, deren faktische Prominenz nicht im entferntesten an die beeindruckende Qualität und Ausstrahlung ihrer Arbeit heranragt, was wiederum dem gegenwärtigen dessen entspricht, was sich hierzulande mit dem Begriff »Klassik« schmückt.
Klahn ist Inspiratorin und tragende Solistin einer neuen Schumann-CD, Katte einer der drei Solisten. Er sei, so das Booklet, einer »der gefragtesten Naturhornspieler«, eine magere Auskunft. Denn Kattes atmend lebendige Spielweise, seine unverdorbene, unpolierte, zugleich hochvirtuose Musikalität sind einzigartig, die Kraft seiner Lippen meistert noch weiteste Intervallsprünge, höchste Lagen organisch. Einer Einleitung ähnelnd, singt sich das in der Mitte der CD platzierte Adagio für Horn und Klavier op. 70 von 1848 auf das zugehörige Allegro hin aus. Das romantische Subjekt, danach schmeckt das Ganze, will statt Distanz und Übersicht Einfühlung, statt Lösung ist ihr nach Auflösung.
Für die neue CD haben sich Klahn und Katte mit dem Bassisten Thomas Stimmel zusammengetan. Liese Klahn entfesselt im einleitenden »Lust und Sturmnacht« fortissimokrachend einen Klaviersturm aus Dissonanz und einer Sorte Wut, die weit über die da komponierten Biedermeierverse Justinus Kerners hinausgehen. Stimmels Bass erzählt, unangestrengt textverständlich und besonders in der Tiefe stimmschön und zurückhaltend treffsicher timbriert, worum es geht. Liese Klahn begleitet nicht demonstrativ und apodiktisch, sie bietet kostbar Offenes an, gibt dem neugierigen Ohr eine Chance.
Bei den zwei Gesangszyklen handelt es sich zunächst um zwölf Lieder Kerners op. 35. Nach dem zentralen Intermezzo des Horns mit dem Klavier erklingt der auf Joseph von Eichendorffs Gedichte komponierte Liederkreis op. 39, entstanden beide in Schumanns »Liederjahr« 1840 – Musik vor dem Hintergrund der Epoche zwischen dem Wiener Kongress und der 1848er Revolution, im letzten Kapitel dieser CD komponiert von Robert Schumann als archetypischem Vertreter dessen, was abendlandweit als musikalische Romantik gilt.
Lise Klahn und Stephan Katte im Schloss Belvedere in Weimar
Bis hinein in die Umgangssprache der Gegenwart ist das Romantische der dem Alltag abgetrotzte Bezirk des Gefühligen. Er ist schon äußerlich an Kulissen kenntlich wie der des Monds unter Palmen oder einer Liebesnacht in der herzförmigen Wanne eines Fünfsternehotel-Hochzeitszimmers (selbst erlebt, nur leider allein). Kunst- und musikgeschichtlich sind »romantische« Phasen die das Hergebrachte oft innovativ dekonstruierenden Reaktionen der Kunst auf geschichtliche Katastrophen, ein sich durch die Jahrhunderte ziehender Expressionismus.
In den Versen des schwäbischen Dichters und Arztes Kerner fehlt nichts, was der Romantik als Indooraccessoir ihrer Flucht ins mythologisch Metaphysische heilig war. Seine Topoi tauchen nahezu alle auch in Eichendorffs Dichtung auf, nur sprachlich verdichtet, metaphorisch zugespitzt: »Aus der Heimat hinter den Blitzen rot / da kommen die Wolken her« – das könnte auch von Georg Trakl sein.
Schumann/Eichendorff: In der Fremde aus op. 39
Grundiert von den harmonischen Wolken des Klaviers im eröffnenden »In der Fremde«, taucht Eichendorffs Schlüsselwort auf. Es spielt in Kerners Biedermeier kaum eine Rolle. In Eichendorffs Romantik dagegen ist Fremdheit die Chiffre für eine ihres Gottes nicht mehr sichere Welt, das Grundgefühl des progressiven bürgerlichen Künstlers.
Thomas Stimmel
Ohne selbst in ihren ausdrucksstarken Passagen des Sängers Präsenz und Verständlichkeit zu gefährden, ruft Liese Klahn in der registerfarbenreich durchsichtigen Räumlichkeit ihres Wiener Bertsche-Flügels von 1830 die Aura des sich im Naturerlebnis vereinzelnden und isolierenden Subjekts herauf. Thomas Stimmels Bass gibt ihm die menschliche Stimme, Stephan Katte die der instrumentalen Natur. Diese Stimme ist in Schumanns Liedern, seiner Klavier- und Kammermusik in besonderer Weise vom öffentlichen Ton zum intimen geschrumpft und darin wunderlich gewachsen.
Die auf der CD verwendeten Instrumente sind zur selben Zeit wie die Musik und für diese Zeit gebaut, sie stimmen klanglich und historisch auch in ihrer Intimität überein. Einzig der menschliche Körper als Resonanzboden der menschlichen Stimme hat sich organisch und klanglich weniger schnell verändert als die Instrumente, die den Gang der Stimme nachzuahmen suchen. Thomas Stimmel, ein Primus inter primi, verwandelt sich ihnen stimmführend an. junge Welt, Dezember 2022