Mit Harnoncourts beim Obauer.

Nikolaus Harnoncourt (1929-2016) im schönen Restaurantgarten in Werfen (rechts der blutjunge Autor).

Beobachtet man die Harnoncourts bei der Arbeit – ihn auf der Bühne mit einem Spitzenorchester, sie im Parkett mit den Noten auf den Knien –, merkt man ihnen nicht an, dass sie genau wissen, wo es ihnen schmeckt. Aber am Telefon auf die Frage, wo wir uns zum Essen treffen wollen, antwortet Alice Harnoncourt wie aus der Pistole geschossen: „Im Obauer in Werfen!“

Werfen liegt im Pongau, ein Filetstück alpiner Landschaft, halbe Stunde südlich von Salzburg, an der Salzach, zu Füßen des Tennengebirges. Einen richtigen Hutmacher gibt es dort, Filz und Gamsbart im Fenster, einen Handschuhmacher vier Häuser weiter. Ein österreichischer Kapellmeister, möchte man meinen, sollte entsprechend aussehen, Janker, Jagerhut und Knotenstock. Aber nichts da. Die Fotos auf seinen CD-Covers lügen nicht. Groß und gerade ist er, nicht dick, aber schwer und eher o.k. als k.u.k.

Die Augen quellen leicht hervor, wie er so in den Pongauer Abendhimmel blinzelt. Sie wirken hell und empfindlich, für Momente fast stechend, ängstliche Menschen missverstehen das oft. Der Fotografin zuliebe hat er die Sonnenbrille abgenommen. Büsche und Baumkronen dämpfen das Licht, es sprenkelt fleckige Schatten auf gebügelte Tischdecken, Gläser, unberührte Teller. Harnoncourts Hemd hat einen sportlichen Kragen, die Leinenhose ohne Gürtel. Die Gattin im türkisenen Kleid mit angesetztem Blumenmusterrock, schaut auf die Uhr: „Pünktlich, nicht wahr?“

Schon sitzen sie am Tisch rechts von der Tür. In Erwartung der Speisekarte hängt sich der Dirigent die Lesebrille um den Hals. Doch statt der Karte kommt Karl Obauer, zusammen mit seinem Bruder Rudolf Herr im kleinen, überaus feinen Haus in Werfen. „Erinnern Sie sich an unseren letzten Besuch?“, fragt der Gast, der mindestens alle zwei Jahre herkommt, das letzte Mal nach einer Bergtour mit den Enkelkindern hinauf in die Ostpreußenhütte, elfhundert Höhenmeter von unserem Tisch entfernt. „Ich bitt‘ Sie“, entrüstet sich der Wirt auf landesübliche Weise liebenswürdig. Nikolaus Harnoncourt ist eine Institution in Östereich, zusammen mit Arnold Schwarzenegger einer der wenigen Weltstars des kleinen Alpenlands – den vergisst man doch nicht!

Das Amuse-bouche lässt ahnen, wofür das Obauer berühmt ist: edelst Regionales, Kalbsmilzpaste auf getrocknetem Schwarzbrot, hausgemachte Lammwurst, Auberginen-Sardellen-Creme und Schnecken, sie erinnern Alice Harnoncourt an den Ärger im eigenen Garten. Auf die unvermeidliche Frage, ob es Mineralwasser mit oder ohne „Bitzel“ sein solle, wünscht sich der Musiker Leitungswasser. „Das Wasser in Wien“, schwärmt er, „kam bis vor kurzem aus dem Hochschwabgebirge. Obwohl sie es heute mir Grundwasser mischen, schmeckt es immer noch phantastisch. Die Leut‘ waschen ihre Autos damit – und trinken Mineralwasser.“

Nicht allein das Wasser ist Nikolaus Harnoncourt in Wien gut bekommen. In der Donaumetropole begann vor über vierzig Jahren seine Karriere, zunächst als Solocellist bei den Wiener Symphonikern. Sein Probespiel damals beobachtete der Chefdirigent persönlich, ein gewisser Herbert von Karajan. Dessen Einstellungsbegründung: „Wie der sich hinsetzt, haben Sie das gesehen – den nehmen wir.“ Unvergesslich für den Orchestermusiker Harnoncourt auch die Abende, an denen Karajans Intimfeind Furtwängler im Saal saß. „Mit Karajan ging dann etwas vor. Die Stellen, die sonst immer dunkelgrün klangen, die sollten plötzlich glutorangen leuchten.“

Die Seewolf-Lasagne, die jetzt kommt, leuchtet goldgelb, ein schimmerndes Medaillon, deutlich auf dem Teller, kein Zierat, kein Blendwerk, nur Saft und Inhalt, Minze, Basilikum, Tomaten, eine Sauce vom grünen Veltliner. Wollte man Schmaus und Hörgenuss vergleichen: So etwa klingt Harnoncourt Art, klassische Musik anzurichten. Ganz anders als weiland Herrn von Karajans musikalische Präsentierteller.

Er sitz aufrecht beim Essen. Unvorstellbar, dass er sich aufstützt am Tisch. Obwohl die dunkelrauhe Stimme nicht eben leise ist, erregt er, schwungvoll aber uneitel gestikulierend, kein Aufsehen. Er isst langsamer als seine Frau. Deren Art, sich im Schatten ihres Mannes zu bewegen, erlaubt ihr Überblick. Sie wirkt mädchenhaft, lässt kaum ein Auge von ihm, sie ist immer dabei und versieht alle Aufgaben, von der Garderobiere und Physiotherapeutin bis zur Managerin.

Alice Harnoncourt ist eine vorzügliche Geigerin. Sie arbeitet bis heute als Konzertmeisterin des Concentus Musicus, den Nikolaus Harnoncourt 1953 – „gleich nach der Hochzeit“ – mit ihr gegründet hat, um neben dem Orchesterdienst klassische Musik auf den Instrumenten der Entstehungszeit der Musik aufzuführen, damals eine Sensation.

Bis 1969 hielt er es bei den Wiener Symphonikern aus. Dann war Schluss. „Es war nach einer dieser grauenvoll spätromantischen Aufführungen der Matthäuspassion.“ Wie um den Zuckergeschmack damaliger Barockkonzerte hinunterzuspülen, nimmt er zwei Schluck frisches Quellwasser und schaut über die Gartenbäume hinauf auf Gipfelzacken im Abendlicht. „Nennen Sie es Midlife-Krise, nennen Sie es künstlerische Konsequenz – ich hatte keine Lust mehr, Abend für Abend etwas zu machen, was ich für falsch hielt.“ Er kündigte, dirigierte von Stund an. Und machte alles anders.

Es gab keine Angebote. Er war vierzig und Familienvater. Wie nebenbei hatte Alice Harnoncourt bis dahin vier Kinder zur Welt gebracht, drei Mädchen und einen Jungen. Nikolaus Harnoncourt hatte Glück. Das erste Angebot kam gleich von der Scala in Mailand, er hatte Erfolg. Etwas an ihm begeisterte die Menschen. Und der neuartige Klang der mit Darmsaiten bespannten Geigen, der ventillosen Trompeten und Hörner, der mit Leder statt mit Plastik bespannten, mit bloßen Holzschlegeln traktierten Pauken des Concentus passte ins kulturelle Klima der 1968er Jahre, er provozierte einen neuen Klassikstil. Der Muff von 200 Jahren Bach- und Mozartinterpretationen war wie weggeblasen.

Als ich ihm von Mozarts Lieblingsessen, dem gebackenen Kapaun erzähle, neigt er sich etwas tiefer über die Brennnessel-Graukäseknödel-Suppe, die wir inzwischen essen. Woher ich das habe? Harnoncourt wühlt gewohnheitsmäßig in alten Autographen, Briefen, Dokumenten, bevor er die erste Note eines für ihn neuen Werks dirigiert. „Man weiß nie, ob etwas stimmt“, sagt er, und seine Rechte fegt Brotbrösel vom Tisch. „Ich kenne das aus meiner Familie. Da soll ich mit sieben Jahren einmal gesagt haben, ich mag Früchtebrot. Alle glaubten es. Meine Mutter – sie ist sechsundneunzig – hat mir bis vor vier Jahren jedes Jahr im Dezember zum Geburtstag Früchtebrot geschickt. Ich mag gar kein Früchtebrot. Aber sie ist überzeugt, es ist meine absolute Lieblingsspeise.“

Mütterlicherseits stammt er in direkter Linie von den Habsburgern ab. Der Ururgroßvater war Erzherzog Johann, der eine Postmeisterstochter heiratete und damit seiner Nachkommenschaft den Erzherzogtitel verscherzte. Der Großvater besaß eine große Jagd in der Steiermark. Der Enkel wohnt heute in St. Georgen bei Graz, wo er schon seine Jugend verbracht hat. Ab und zu besucht er die Familie in einem großen Schloss. „Ich sitze dort immer wieder gern an der Tafel. Die absolute Kennerschaft dieser Gesellschaftsschicht hat mich schon als Kind beeindruckt. Dort gab es Auerhahn, so ziemlich das Beste, was ich je gegessen habe. Es gibt überhaupt nur zwei, drei Leute in Österreich, die das wirklich gut zubereiten können.“

Fotos: (C) Uta Rauser

Das Rehrückenfilet mit Gebirgswermut-Sauce, Vogelbeeren und Selleriepüree, das die Kellnerin jetzt behutsam vor den Dirigenten hinstellt („Bitte sagen Sie nicht Maestro“), ist meisterlich zubereitet. Die kräftigen Hände, die sonst – übrigens ohne Stöckchen – Beethoven und Schuberts Takte zerteilen, widmen sich nun ebenso präzis drei zarten Scheiben Wild. Ein Glas Rotwein dazu? Sehr recht, einen weichen, typisch österreichischen Blaufränkisch vom Neusiedlersee. Aber nur eines. Frau Harnoncourt bietet an, die zwei Stunden Rückweg n die Steiermark zu fahren. Nicht nötig. Es wird bei einem Glas Roten bleiben.

Das Aristokratische hat Nikolaus Harnoncourt abgetan wie die Gürtel in seiner Hose. Schon sein Vater tanzte aus der Reihe. Dessen Stammbaum ging auf die Harnoncourts im einstigen Dreiländereck Belgien-Frankreich-Lothringen zurück. Die Familie kam, als Franz von Lothringen Kaiserin Maria Theresia heiratete, im 18. Jahrhundert in die Steiermark. „Sie können den Namen übrigens aussprechen, wie Sie wollen: mit oder ohne H am Anfang, ich sprech‘ ihn ja selbst nie aus.“ Warum nicht? „Ich geh‘ nicht ans Telefon.“

Harnoncourts Vater wünschte sich glühend, Musiker zu werden – unmöglich für einen Adeligen jener Zeit. Er wählte den Beruf, der, wie er meinte, am meisten mit Musik zu tun hatte: Er ging zur Marine. „Der Franz Lehár war ja auch bei der Marine. Auf jedem größeren Schiff gab’s ein Orchester, jedenfalls in Österreich.“ Leider begann, kaum dass der Vater sich solch einer Bordkapelle bemächtigt hatte, der erste Weltkrieg. Da schwieg die Musik. „Und als es vorüber war, war das Wasser weg.“ Soll heißen: Österreich hatte alle Zugänge zum Mittelmeer verloren.

„Nach dem Krieg war die Familie dann so verarmt“, erzählt er und Witz blitzt in den hellen Augen, „dass dem Großvater 1924 eine Bedienstete ohne sein Wissen das Frühstücks-Gulasch bezahlte. Er war nämlich der Ansicht, dass er ohne Frühstücks-Gulasch nicht leben konnte.“ Sein Enkel wird jetzt den Schwarzbeernocken gerecht, unser Dessert, in der Pfanne gebacken, eine Pongauer Spezialität. „Ist denn noch Schwarzbeerzeit?“, fragt der Dirigent die Kellnerin. „Nicht mehr lang.“

Vor einiger Zeit bekam er einen Brief aus Rom, mit auserlesen geschmackvollem Briefkopf, von einem „Taster of Wine“. Der Römer wollte wissen, ob seine, des Römers, Methode zur Beurteilung der Entwicklung von Weinen analog auf die Entwicklung klassischer Musik anwendbar sei. Harnoncourts Methode, Mozart, Beethoven oder Schumann auszubauen, hatte es ihm offenbar angetan. Auf eine vorsichtige Antwort aus St. Georgen kam aus Rom eine hölzerne Kiste mit zwei Flaschen Wein, zwei Gläsern und einem Brief. „Er gab mir genaue Anweisungen, was ich nach jedem Schluck beachten sollte. Fünf Stunden vor der Verkostung dürfe ich nichts mehr essen. Ich solle den Wein beim Verkosten unbedingt auf einen Glastisch stellen, mit einem Licht darunter.“

„Und: haben Sie’s gemacht?“ Harnoncourt schmunzelt, er nippt vorsichtig am Blaufränkisch: „Offengestanden – ich trau‘ mich nicht.“ Essen und Trinken, 5/97

PERLEN AUS DEM ARCHIV

Zweierlei Goldbergvariationen.

Hier lebte Bach 1717 bis 1723: Köthener Schloss

Noch drei Jahre, dann sind es siebzig Jahre her, dass, damals sensationell, die Goldbergvariationen aus der ehrwürdigen Nische von Wissenschaft und Bildungsbürgertum auferstanden und erstaunliche Teile einer etwas größeren Welt eroberten, als es die der klassischen Musik ist. Ein seltsam charmanter Musikkauz, Glenn Gould, hatte mit dem Stück die Charts des kapitalistischen „goldenen Zeitalters“ erobert. Er erregte sogar die Bewunderung des systemischen Grantlers und Schwarzmalers der Republik Österreich, Thomas Bernhard. Der schrieb einen ganzen, etwas dünneren Roman über den kanadischen Pianisten mit den ewig kalten Händen.

der junge Glenn Gould

Gould nahm mit seinem Bach-Hit damals Teile der Klassik-Zukunft vorweg: Er entrümpelte und erleichterte den klassischen Musikvortrag von der angstgetriebenen Schwergefühligkeit wahlweise von der klanglich-orchestralen Hochrüstung eines bürgerlichen Jahrhunderts. Ohne von der Idee wohl schon eine Ahnung gehabt zu haben, wurde er damit zum Vorfeld-Aktivisten der dann, ungefähr mit der Studentenbewegung 1968, aus der Versenkung auftauchenden, kritisch leidenschaftlichen historisierenden Aufführungspraxis. Gehört von heute aus, könnte das mit einer Skepsis gegenüber allem Nichtrationalen zusammenhängen. Denn Gould fing, möglicherweise unbewusst antizipierend, in seinen Goldberg Variationen den kalten Zauber, den trockenen Esprit des digitalen Maschinenzeitalters ein.

Bach erscheint vielen natürlich nicht nur schwer zu hören. Ganze Generationen von Tastenkünstlern wissen, wie schwer nun gerade dieses Werk auch zu spielen ist. Besonders gilt das für die musikalisch wie historisch unmittelbar Betroffenen, die Cembalisten; das Werk ist für die Grenzen und Möglichkeiten der Klangwelt und Mechanik ihres Instruments komponiert.

Hinter der Mehrzahl der dreißig Variationen steht „a 1 Clav.“ Hinter vielen auch „a 2 Clav.“ – Bach macht damit darauf aufmerksam, dass letztere auf den zwei übereinander liegenden Manualen entsprechender zeitgenössischer Cembali gespielt werden müssen. Die Stellen, an denen die Spieler, wie Bach es vorsieht, auf einem zweimanualigen Cembalo mit jeweils der einen Hand über die andere greifen wie etwa in der 14. Variation, um die polyphonen Strudel der Musik adäquat darzustellen, seien eine „sehr eingerissene Hexerey“, befand Bachs Zweitältester, Carl Philipp Emanuel, ein exzellenter Clavierist (und Komponist).

Lang Lang

Selbst in der neuen Aufnahme mit dem eingerissenen Klavier-Hexer Lang Lang hört, wer es genau nimmt, dass der überaus virtuose Chinese den Bass der fünften Variation – eine zweimanualige Hommage an Scarlatti – nicht nur so stark betont, weil ein starker Bass in den Goldberg Variationen generell Sinn macht: es scheint, als wolle er damit zugleich die Deutlichkeit bemänteln, mit der auch er die rasenden Sechszehntelläufe der Oberstimme nicht angemessen präzisgehext hinbekommt.

Von den drei Grundmustern der Variationen – Bravour, Charakter, Stilisierung –, mit denen Bach arbeitet, bedient Lang Lang, wen wundert‘s, den virtuosen Typ am überzeugendsten. Auch in der nächsten, der sechsten Variation, einem der von Bach für alle durch Drei teilbaren Variationen-Nummern vorgesehenen Kanons, spielt Lang Lang seine Stärke sowie den Vorteil seines modernen Instruments aus: er setzt die dem Cembalo unmögliche Dynamik des modernen Konzertflügels ein, er spielt laut und leise, er be-tont. Auf dem Video der Aufnahme sieht man, wie seine Fußspitzen das Pedal, wenn denn, meist nur eben berühren. So kehrt er, wo es die Musik plastisch und interessant macht, per Lautstärke und Tastendruck die Basslinie hervor. Denn nicht die melodische Linie der Arie wird in den Goldberg Variationen durchgehend variiert, sondern fast gänzlich die des Basses. Der Bass begleitet nicht mehr nur wie in den damals alten Zeiten – er geht auf Ohrenhöhe mit den anderen Stimmen, er spielt eine Rolle.

Durch die pointiert unterschiedlichen Tonstärken legt Lang Lang gleich die erste Variation darauf an, der Sache einen munter jazzigen Swing zu geben. Das funktioniert umso besser, als das moderne Klavier ohne Pedal auf einen in allen Lagen immer gleichen, opak die Linie betonenden Klang festgelegt ist. Auch das nutzt der Chinese vorteilhaft, indem er an den entsprechenden Stellen hören lässt, wie zwei Stimmen für einige Takte, einige Male sogar hörbar in Terzen, harmonisch zusammengehen. Er weiß, wie Wirkung geht, wer mag ihm die Nutzung solchen Wissens verdenken. Es ist ohnehin nicht verboten, Bach munter, jazzig oder sonst wie wirkungsvoll zu spielen, wenn der Spieler innerhalb bachschen Denkens und der Relationen seiner Zeit bleibt. Dass der, einem extrem fernen Kulturkreis angehörende Pianist aus Shenyang mit allem, was er mit Bach anstellt, bei Unvertrauten für Bach wirbt, kann als ausgemacht gelten und ihm gutgeschrieben werden. Die Frage, wie er als Chinese auf dem modernen Flügel den bachschen Kontrapunkt phasenweise derart stimmig und anregend zum Leben erweckt, beantwortete sich bei einem Telefonat mit Andreas Staier. Der Kölner Cembalist und Hammerflügelspieler hat sich auf dessen Anfrage dreimal mit Lang Lang getroffen. Staier war angetan. Der fernöstliche Weltstar erwies sich als arbeitsbereit hellhörig. „Unterm Strich ist das natürlich eine Art musikalischer Tourismus“, so Staier über Lang Langs Ausflug in die Welt der Goldberg Variationen – freilich, auch der Ausflug in weltferne Regionen kann erfreuliche Ergebnisse zeitigen. Das Wichtigste, so Staiers Riesenkompliment: „Er ist ein sehr guter Musiker“.

Es gibt in den Goldberg Variationen genügend Anhaltspunkte dafür, wieviel Bach an musikalischen Vergnügungen und prall volkstümlichem Spaß gelegen war – der Höhepunkt dessen in den Goldberg Variationen: das aus zwei wahren Volksliedern gemachte Quodlibet anstelle einer letzten Variation. Darüber, wie soviel Frohsinn in der Familie Bach entstehen konnte, berichtet der frühe Bach-Biograf Forkel: „Sie sangen nehmlich nun Volkslieder, theils von possierlichem, theils auch von schlüpfrigem Inhalt zugleich mit einander aus dem Stegreif so, daß zwar die verschiedenen extemporirten Stimmen eine Art von Harmonie ausmachten, die Texte aber in jeder Stimme andern Inhalts waren. Sie nannten diese Art von extemporirter Zusammenstimmung Quodlibet, und konnten nicht nur selbst recht von ganzem Herzen dabey lachen, sondern erregten auch ein eben so herzliches und unwiderstehliches Lachen bey jedem, der sie hörte.“

Lang Lang endet mit dem Quodlibet, er lässt die übliche Themen-Wiederholung in diesem Fall der Aria als der abschließenden Rundung des Zyklus weg und ist damit zumindest auf Höhe der Forschung. Denn ein Autograph der Goldberg Variationen hat sich bis heute nicht gefunden. Im Erstdruck allerdings, den Bach besaß und den er mit vielen Anstreichungen und handschriftlichen weiteren Kanons versah, findet sich die „da capo Aria“ nicht; Bach war’s keines Wortes Wert. Freilich kommt ohne die Aria am Schluss der symmetrische Aufbau des Werks nicht mehr zustande – zweimal 16 Takte (8+8) innerhalb jeder Variation, 2 mal 15 Variationen, plus vorn und hinten das Thema: macht zusammen 32 Nummern.

Andreas Staier spielt die Aria am Schluss. Es macht wenig Sinn, seine Aufnahme der Goldberg Variationen von 2010 mit den Bemühungen solcher Klaviergrößen wie Andras Schiff, Friedrich Gulda oder eben Glenn Gould zu vergleichen, die das Werk auf einem modernen Konzertflügel alle fraglos hörenswert hinbekommen haben. Allzu anders, ja einer anderen Welt zugehörig, klingt Staiers Instrument, ein zweimanualiges Cembalo aus der Werkstatt des Hamburger Cembalobauers Hieronymus Albrecht Hass (1689-1752).

Hass-Cembalo in Brüssel

Es handelt sich, sagt Staier sichtlich stolz, bei den Hass-Cembali um die „größten und an Registern reichsten, die vor dem 20. Jahrhundert überhaupt gebaut wurden“. In ihrer Klangpracht verwandeln diese Wunderwerke der Klavierbaukunst unter Staiers Fingern Bachs Polyphonie aus einer, in der Tendenz trocken rationalen Angelegenheit von Struktur und Logik in ein schillerndes, prickelndes, glitzerndes, ein opulent registerfarbig, durchsichtig fließendes und atmendes Netz feinster, verwirrend reich aufeinander reagierender Tonlinien.

Auf dem modernen Flügel bleiben die einzelnen Stimmen der Variationen bei sich, auch wenn sie miteinander in harmonischen Zusammenhängen stehen. Staier aber auf der Kopie seines alten Cembalo kann sie in Wahrung ihrer Einzelkörperlichkeit auch als Gesamtklangeindruck wirken lassen. Er ist, wie etwa im dreistimmigen Kanon der berühmten 15. Variation, in der Lage, eine Atmosphäre mittelalterlicher Würde herzustellen. In Nr. 16, der Eröffnungs-Variation der zweiten Hälfte, erklingt vielfach punktiert die mit Ausschmückungen und vielen Verzierungen kompakt repräsentative französische Ouvertüre eines Versaille kompatiblen Barockhofstaats.

Die Guten unter den Interpreten auf modernen Flügeln verlegen all ihre Kunst darauf, nicht per Pedal-Dynamik ins Hören und Deuten der Musik Bachs einzugreifen. Derlei ist Andreas Staier schon qua Instrument unmöglich. Substanz und Idee seines Vortrags sehen ohnehin vor, Bach und alle anderen so zu spielen, dass dem lauschenden Ohr – je nach Befinden, Bildung, Welterfahrung – viele Möglichkeiten hörender Auslegung offenstehen.

Andreas Staier

Die 15. Variation ist ein Wunder an kühler Melancholie. Lang Lang gerät sie wie eines von den raren Charakterstücken Mozarts in Moll fürs Soloklavier (Fantasie c KV 475; Rondo a KV 511): Die Oberstimme, verstärkt in der Eigenart des modernen Flügels, lässt, von einer Unterstimme, gefühlt akkordisch begleitet, eine Art Klagegesang hören. In Staiers Lesart legt die Unterstimme, begünstigt durch die Eigenart des Hass-Cembalo, nicht mehr nur begleitend, ein chromatisch durchtränktes, polyphones Stimmgefüge unter die Melodie. Es entstehen schräge Harmonien, fahles Licht, eine skeptische Innerlichkeit. Für die 19. Variation zieht Staier erneut das Lautenregister. Vielleicht ein klanglich festlich illuminierter, imitatorisch beweglicher Tanz vieler Liebender und Freunde? Eine der vielen Reminiszenzen ans angenehme Leben in Köthen.

Die zweistimmige Variation 13 bringt auf den Gedanken, Bach habe das Werk am Fuß endgültiger Reife komponiert. Eine Art Musik – Carl Maria von Weber hat so etwas über Mozarts „Entführung“ gesagt –, die ein Meister nur einmal im Leben schreiben kann: durchglüht sowohl von frischer Jugendkraft, von Unverdrossenheit des Einfalls, wie gleichermaßen vom wachsenden Kalkül und Ernst des gereiften Spätwerks. Ein Werk gelebter Schwelle.

Über seine Entstehungszeit weiß man bis heute wenig. Es wurde 1741 gedruckt, das war’s. Die lustige Anekdote Forkels, nach der die „Goldberg Variationen“ sich dem gestörten Schlafbedürfnis eines Herrn Grafen von Keyserlingk verdankten, dessen Musiklakei, ein gewisser Johann Gottlieb Goldberg, ein Schüler Bachs, ihm mit diesen Variationen Einschlafmusik geliefert haben soll, stimmt hinten und vorn nicht.

Aber die Nummer 13 legt die Vorstellung nahe: da klinge in Bach vollendet noch die Gefühlslage seiner Köthener Zeit (1717-1723) nach. Andreas Steier auf seiner Hass-Kopie lässt einen unbeschwerten Tag arios Revue passieren. Bach hat in Köthen keine Zeile Kirchenmusik schreiben müssen. In Werken wie den „Brandenburgischen Konzerten“, den zweimal je sechs Solowerken für die Geige und das Cello, möglicherweise auch schon in den Anfängen der Komposition der „Goldberg Variationen“, konnte er sich, auf seine unter Zeitgenossen bald schon recht altmodisch wirkende Art, ganz der Lebensfreude widmen, den Galantherien“ und „Gemüthsergetzungen“, die sich, während der alte Bach langsam vergessen war, in Europa ganz im Rokoko, in der Empfindsamkeit   verwirklichten.

Instrumente wie die aus der Hand eines Hieronymus Albrecht Hass beflügeln Überlegungen. Für Menschen des 3. Jahrtausends u. Z. stellt sich mit jeder neuen eigenen Zeit die Frage nach dem Wie des Zugangs zu den immer weiter zurückliegenden Zeiten der Musikentstehung. Die zeitgenössische Komponistin Isabel Mundry stellt im Booklet der Staier-CD zum Siegeszug der alten Instrumente fest: „Bach, Mozart oder Debussy differieren seither nicht mehr nur in ihren kompositorischen Konturen, sondern ebenso in der Klanglichkeit ihrer Instrumente“. Mundry zeigt sich erstaunt darüber, „wie die Interpretationsgeschichte das Verhältnis wechselseitiger Anregung zwischen Klangsprache und Instrumentenklang vorübergehend aus den Augen verlieren konnte“. Ihrem Resümee ist nichts hinzuzufügen: „Die Spanne zwischen der historischen Klangsprache und dem gegenwärtigen Hinhören wird hier zu einer ästhetisch aufgeladenen Erfahrung. Kunstvoll macht Andreas Staiers Spiel erlebbar, wie fein das Netz zwischen Hören und dem Strukturieren, aber auch zwischen Komponieren und Interpretieren gesponnen ist, gerade weil die Differenzen hier gewürdigt bleiben.“ junge Welt, April 2023

J. S. Bach: Goldbergvariationen BWV 988 – Lang Lang (Deutsche Grammophon) – Andreas Staier (Harmonia Mundi France)

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Der Nahe Osten ist nicht nur Ghaza (13. April 2024). Israel und seine Regierung bewegen sich aggressiv in alle Richtungen, schließlich ist das Land das Spitzenwerkzeug US-amerikanischer Aggressivität in Westasien. So hat das staatliche Israel, das sich seit 1947 auf palästinensischem Boden breit und breiter macht, im April die iranische Botschaft und ein Nebengebäude in der syrischen Hauptstadt Bagdad aus der Luft angegriffen und mehrere Führer der iranischen Revolutionsgarden sowie der Hisbollah getötet. Der brasilianische Publizist Pepe Escobar machte sich Gedanken über die nun von aller Welt erwartete strategische Antwort Irans und Chinas auf dieses weitere Zeugnis anhaltender israelischer Völker- und Menschenrechtsignoranz.

(03. November 2023) Erneut bekommen wir die Folgen US-amerikanischer “Außenpolitik” zu spüren, diesmal im Nahen Osten. Ein Westen, der sich beim Stichwort “Krim” vor lauter Empörung über grenzüberschreitende militärische Besetzung und Annektion kaum noch einzukriegen wusste, steht “solidarisch” hinter einem Land, das schon vor seiner Geburt in der Nakba 1948 fremdes Land besetzte und 700000 Palästinenser aus ihm vertrieb. Karin Leukefeld erzählt die lange Vorgeschichte des aktuellen Kriegsgeschehens.

Darüber, welche Sicht der nichtwestliche Teil der Weltöffentlichkeit auf den völkerrechtswidrigen Überfall der Hamas auf Israel hat, wie dramatisch isoliert ein zur in Armageddon-Dimensionen reagierenden israelischen Regierung stehender Westen inzwischen in der Weltbevölkerung ist, erfährt die westliche Öffentlichkeit so gut wie nichts. Sie erfährt nichts vom Umfeld des neuen Nahostkriegs. Von der gigantischen militärischen, der massiven politisch-propagandistischen Unterstützung des NATO-Westens für den daueraggressiven Staat Israel – nichts.

Sie kann sich vermutlich in der Mehrheit kein Bild von der Gefahr des Weltbrands machen, den eine sich in abenteuerlicher Weise an alttestamentarische Bibelvorstellungen klammernde israelische Reaktion auf den Überfall riskiert.

Auch der Begriff des Völkermords in seiner moralischen Wucht ist längst verschlissen durch die Wahllosigkeit seines Gebrauchs im Mund des Westens, stellt der Völkerrechtler Norman Paech fest.

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AKTUELL: Lanz als Fundgrube, wer hätte das gedacht? Deborah Feldman verleiht einem von den Kriegsverbrechen und Völkermorden der israelischen Regierung und ihren deutschen Propagandisten freien Judentum in Deutschland Anfang November 2023 eine Stimme, wahrlich. Da guckt der Habeck.

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Der Ukrainekrieg gerät über dem genozidischen Gemetzel in Ghaza fast etwas in Vergessenheit. Hier ein gründlich belegter, kenntnisreicher Beitrag zum thema “Annektion der Krim durch Russland“..

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(nur für den geografischen Überblick; der schwarze Balken oben ist älteren Datums)

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(06. August 2023) Es dauert, bis Spiegel, WELT, BILD, Tagesschau und Co. mit dem mehr als hundertjährigen Kolonial-Hintergrund dessen herausrücken, was sich derzeit in Westafrika abspielt. Ein “Putsch gegen eine demokratisch gewählte Regierung”. Gegen Putsche hat der Westen ausdrücklich nur etwas, wenn sie nicht, wahllos herausgegriffen, in Chile (1973), in der Ukraine (2014) in Venezuela, Bolivien, Kolumbien, Guatemala usw. stattfinden. Es ist schon wieder eine Weile her, dass Jens Berger auf den Nachdenkseiten einer der Ersten war, die den Gesamtzusammenhang der Niger-Krise vor dem Hintergrund der Viertelwahrheiten des Spiegel dargestellt haben. Das Online-Magazin Linke Zeitung bringt eine dem Niger gewidmete Folge der politschen Amy Goodman Show in den USA mit Einblendungen von tatsächlichen Experten, die ergo der Bezeichnung gerechtwerden, mit ergo entsprechend brauchbaren Informationen über Westafrika.

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(30. 07. 23) Und wer endlich einmal wissen will, wie “Verschwörungstheoretiker” im Original aussehen, wie sie sich bewegen, wie sie sprechen und was sie zu sagen haben, schaue sich die Redebeiträge einer Friedensveranstaltung an, die am 16. Juli 2023 in Mainz stattfand; freilich an einem kurzfristig umdisponierten Ort, weil die Politiker der Stadt aus strikt meinungsfreiheitlich-demokratischen Erwägungen “Verschwörungstheoretikern” den ursprünglich vorgesehenen und angemieteten Saal verweigerten.

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(04.06.23) Donald Trump hat ihn im Juni 2020 vegeblich auf den vakanten US-Botschafterposten in Berlin ernannt. Zuvor scheiterte er als einer der beiden Kandidaten für den Posten des Sicherheitsberaters von Trump. Colonel Douglas McGregor, ein im Irakkrieg dekorierter ehemaliger Oberst der US-Army und Militärtheoretiker, formuliert nicht nur brillant, er denkt auch in Richtungen, auf die man bei einem Fast-Sicherheitsberater eines US-Präsidenten wie besonders Donald Trump absolut nicht kommen würde. Thema hier: die derzeit die Schlagzeilen beherrschenden Drohnenangriffe auf Moskau, im Hintergrund McGregors Einschätzung der realen Waffenstärke und Wirtschaftskraft Russlands in diesem Stellvertreterkrieg.

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(01.06.2023) Robert Fleischer, Dirk Pohlmann, Mathias Bröckers – die Protagonisten des launigen Dreiertalks auf EXOMAGAZIN.TV, einer “Inspiration für Freigeister”. Wenn wieder mal der mediale Erstickungstod naht – kurz reinklicken.

Dito lohnend Dirk Pohlmanns Drohnenkurzflug durch die Weltgeschichte der Werte des Westens.

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(April 2023) Es sieht aus, als begönnen (Wiglaf Droste) einige Köpfe des Westens so langsam ihr Erinnerungsvermögen wiederzugewinnen. Geht da nun etwa ein Medium wie gerade die stramm transatlantische Deutsche Welle voran? Hier ihre Einschätzung des Irakkriegs. Da wundert sich, wer diesen Betrieb zu kennen meint. Ein kleiner Betriebsunfall? Einerlei. Es bleibt nur ein herzliches Danke!

Es ehrt, ganz ohne Ironie gesagt, den 2021 verstorbenen US-Außenminister Colin Powell, dass er die Wahrheit hinter seinem Auftritt vor der UNO im Februar 2003 noch zu Lebzeiten klargestellt hat. Über die US-amerikanische Verschwörungstheorie, der Irak besäße Massenvernichtungswaffen, log er dem Irak einen Krieg an den Hals, der , nach unterschiedlichen Schätzungen mindestens 200000 bis 1 Million Iraker das Leben kostete.

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Der empfehlenswerten Seite von Herrn Afsane Bahar zu entnehmen der Link auf den Blick des brasilianischen Investigativ-Autors Pepe Escobar auf die gegenwärtige Welt. Ein bündiger, kurzer atemberaubend weiter Blick über die Gegenwart und ihre Vorgeschichte (April 2023).

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Eine dito interessante Stimme des aufgeweckten Bürgertums: Franziska Augstein mit einem ihrer zuverlässig “haltbaren” Texte von 2021. Thema China.

Die Westpresse cancelt alles als “Verschwörungstheorie” oder gleich als “terroristische Propaganda”ab , was ihrem Narrativ widerspricht. Sie scheint dafür seriöser Belege nicht zu bedürfen, sie hat “Experten” und – wenn überhaupt – andere trübe Quellen. Ein Beispiel für exzellent recherchierte und belegte Fakten der Gegenseite: ein Bericht über die weltweit gestreuten Bio-Labore der Vereinigten Staaten. Dass sie unter anderem in der Ukraine vorhanden waren oder noch sind, hat Victoria Nuland vor einem Ausschuss des US-Kongresses bestätigt, sie spricht in wohlgewählten Worten allerdings von “biological research facilities” (biologische Untersuchungs-Einrichtungen).

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Hier die erstaunliche Sicht eines britischen Botschafters auf die Beziehungen zu China.

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Mit dem Blick auf Österreich richtet sich die Aufmerksamkeit auf ein bislang zwar zur Kenntnis genommenes, aber kaum zuendegedachtes Problem des Westens: seine Art von “Demokratie” scheint unaufhaltsam vom Aufstieg rechts-extremer bis faschistischer Parteien bedroht. Das Magazinstück des Deutschlandfunk mag zwar Max Horkheimers berühmter Erkenntnis nicht folgen, dass, wer vom Faschismus spreche, vom Kapitalismus (der Marktwirtschaft) nicht schweigen dürfe. Immerhin verproviantiert der gründlich recherchierte Beitrag sein Publikum mit wichtigen Informationen.

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Übersetzung eines “Reports” der “chinesischen Regierung”. Es wird leider nicht ganz klar, von wo in der “chinesischen Regierung” das kommt. Die Quelle: Xinhua news agency (im Netz nicht gefunden, die Alternative: xinhuanet.com) . Die chinesische Regierung habe, so das Vorwort der Übersetzer, hinsichtlich der Geopolitik der USA in diesem Report inzwischen “die Samthandschuhe ausgezogen”. Sie rede Klartext. Alles mit überwiegend westlichen Quellen belegt und verlinkt. Was den westlichen Mainstream, der nie auch nur eine seiner Behauptungen seriös belegt, nicht daran hindern wird, das Ganze wieder als Verschwörungstheorie abzutun. Sei’s drum, inzwischen siebzig Prozent der Weltbevölkerung interessiert so etwas.

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Die übers Medizinische weit hinausgehende Homepage eines Arztehepaares (Allgemeinmedizin, Sportmedizin, Akupunktur, Ernährung). In Texten und Bildern viel Kulturelles. Über Musik von Bach bis Dylan, von Grunge bis Liedermacher und Weltmusik. Eine Finde-Seite für vielseitig Interessierte, die vielleicht auch noch ärztlichen Rats bedürfen.

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Die Erfahrung lehrt: Verschwörungstheoretiker ist, mit Ausnahme einiger Trittbrettfahrer, längst ein Synonym für gut recherchierte, sauber belegte Informationen und Überlegungen zum Machtgefüge dieser Welt. Ein führendes Mitglied dieser Ehrenlegion ist Thomas Röper, wohnhaft in St. Petersburg. Interessant, was er den Forschungen einer seriösen US-Universität über die Kriege der Vereinigten Staaten seit 1945 entnommen hat. Logisch, dass er natürlich ­zu Putins fünfter Kolonne gehört, also Obacht!

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REUTERS/Oleksandr Ratushniak

Wer die Vorgeschichte des russischen Angriffs gegen die Ukraine nicht ignorieren mag, gehört in Deutschland schlagartig zu den “Putin-Verstehern” wahlweise zu anderem Quatsch. Ein Vortrag des US-Geopolitik-Wissenschaftlers John J. Mertesheimer, abgedruckt in der jeder Sorte Antiamerikanismus’ unverdächtigen Züricher Weltwoche vom 28. Juni 2022.

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Ein Bericht für das PROJEKT RAND DER US LUFTWAFFE von April 1972
Rand – SANTA MONICA, CA 90406 (Amtliche Geheimhaltung aufgehoben 30. März 2010). Nicht leicht zu lesen, aber lohnend zu wissen. Eines der vielen Beispiele dafür, wie genau und langfristig die Vereinigten Staaten ihre Verschwörungen planen. Ein erhellender Blick in die Karten der Verschwörungspraktiker.

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Die UNO, 1947 infolge der furchtbaren Erfahrungen zweier Weltkriege gegründet, könnte eine Art Weltregierung sein. Nichts wäre in Zeiten von Klimakatastrophe und Gefahr eines dritten Weltkriegs nötiger. Sie müsste als Weltparlament gleichberechtigter Völker Weltlegislative und Weltexekutive mit globaler Durchsetzungsfähigkeit sein. Sie ist es nicht. Hans von Sponeck, ehemaliger deutscher UNO-Diplomat, hat das Weltforum so, wie es ist, unmittelbar erlebt; er sprach vor dem Kasseler Friedensratschlag 2022 zum brandaktuellen Thema einer Uni- oder Multipolatität der Welt (Podcast der Nachdenkseiten).

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Über mich.

Ich darf mich vorab entschuldigen zumindest bei denen, die an dieser Stelle Einblicke erwarten, Einblicke in mich. Unabhängig von der Antwort auf die Frage, ob ich es überhaupt vermöchte, habe ich es nicht vor; wer meine Texte liest, bilde ich mir ein, erfährt ein wenig auch über mich. Ich gebe für wen’s interessiert nur ein wenig Auskunft über meine Sorte Arbeit.

Von den Genen her mehrfach verwöhnt, habe ich es schon als Heranwachsender mit der Sprache versucht; ich habe, als sich die anderen Kinder längst anderen Dingen zugewandt hatten, mit dem Zeichnen nicht aufgehört ohne auf die anderen Dinge zu verzichten. Zeichnen ist schön. Du versenkst Dich in was Du siehst, Deine Hand versenkt es per Feder, Stift oder Radiernadel mittels Linien in der Eindimensionalität einer begrenzten papiernen oder metalllischen Fläche. Aus der Seinsgestalt wird ein Zeichen, eine Bedeutung, es wird per sinnvollen Linienwerks – darin viel von mir – eine auch für andere nachvollziehbare Vorstellung der Seinsgestalt.

Leider verloren sich, da ich satirisch unterwegs war, infolge des gezielten Lesefehlers eines Herrn Schabowski aus Berlin in den 1990ern mein liebes Publikum und ich uns aus den Augen. Heute ernähren mich statt der einen, zeichnenden Linken, die Finger beider Hände auf einer kunststoffglatten Laptop-Tastatur, ich bin Autor.

Ich schreibe überwiegend über sogenannte „klassische Musik“. Anfangs weitgehend in dem ihr bis heute – auch von ihr sich selbst – auferlegten Bereich „tote Komponisten“ (Enno Poppe). Dank der Musiker, denen ich beruflich begegne, richtet sich meine Neugier mit viel Freude inzwischen auch auf das, was in der Musik heute und morgen entsteht.

Es ergab sich, dass ich schreibend darauf kam, auch in der unter Journalisten seit Langem untunlichen Ichform zu schreiben (untunlich für Nicht-Solisten). Ich schreibe als der, der ich bin, über Themen wie den Winter, über das Phänomen der Zeit, über E-Autos und meine Großväter und über Erinnerungen an Begegnungen mit längst verstorbenen Dichtern. Ich schreibe Rezensionen zum Beispiel über ein großartiges Buch über die Stalingrad-Schlacht (Gott hab sie selig), ich äußere mich zu politischen Fragen, ich denke schreibend über das Träumen nach und über sein Gegenteil: den Krieg.

(C) Self with beard of about five days, 2023

Und sonst? Abzüglich der Weltlage (März/April 2023) soweit alles gut. Am See, an dem wir oft wohnen, lassen sich morgens inzwischen auch wieder die Meisen und Amseln hören neben den im Winter hegemonialen Krähen, den Möven und den hiergebliebenen Besserwissern und Wichtigtuern, unseren Enten. Brennholz und Briketts kosten mehr als das Doppelte als sie vor dem Wirtschaftskrieg gekostet haben. Wir werden auf diese Weise die alten Holzmöbel los, die draußen bei jedem Wetter unserer Unentschlossenheit harren, die aber, verfeuert nach einigen Tagen Trocknung im Wohnzimmer, viel haptische, angenehm fühlbare Wärme verbreiten. Zuhause in Hamburg, wo wir morgens einfach die Heizung aufdrehen und gut ist, existiert so etwas wie Wärme so wenig, wie etwa die tägliche Unterwäsche, die wir, so sie nicht kratzt oder klemmt, einfach nicht mehr wahrnehmen. Wir haben sie ja.

Never in meinem nicht gar so kurzen Leben hatte ich stärker als heute den Eindruck, dass es, wenn die Zeiten sich wandeln und nicht nur wenden, recht unangenehm stürmen kann und auch, werweiß, vielleicht wird es noch wirklich kalt im Land. Wir schauen täglich genauer auf die Preisschilder, wir haben täglich mehr Gelegenheit, uns ängstlicher umzugucken. Wir bemerken, wie es zweierlei Altgewordene gibt, die sich den Abfallkörben auf dem Hauptbahnhof nähern: die Gutgekleideten gehen stabil draufzu und werfen etwas gezielt in den Müll. Die anderen aber in den verschlissen unmodischen Klamotten nehmen an Zahl und an Heruntergekommenheit in erschreckender Weise zu. Sie nähern sich unscheinbar. Sie werfen gezielte Blicke ins dunkle Viereck oben im roten Behälter, manche haben Taschenlampen dabei. Sie gehen unverichteter Dinge belehrt weiter. Oder kramen und fischen eine leere Bierflasche, eine verbeulte, dünnmetallische Dose heraus und lassen sie in ihren Plastiksack gleiten.

Über Fachleute.

Meine Musiktexte lesend, wird jeder Musikwissenschaftler wissen: ich bin nicht vom Fach, ich habe es nicht studiert, ich kann nicht mal Klavier spielen. Aufgrund bildungsbürgerlicher Geigenstunden im Knabenalter habe ich gerade mal Noten lesen gelernt. Ich schreibe vielleicht darum besonders gern für Leute, die mir an dieser Stelle ein freundliches „Immerhin“ spendieren.

Als fleißiger Leser auch von Fachliteratur bin ich in den Augen vieler meiner Leserinnen ein Fachmann, was kaum mehr als ein undeutlicher Nimbus ist. Musikwissenschaftlich hat er keine Geltung. Dazu fehlt mir insbesondere die intime Kenntnis der Harmonielehre (Klavier). Die wird freilich auf lange Sicht Sache der Eingeweihten bleiben, ein erlauchter Zirkel, sympathisch seltsam wie die Mathematiker oder die Physiker. Schon mit der Kenntnis der Tonartencharaktere allerdings ist viel getan. Mit der Zeit hört eins Modulationen, Chromatik, Kontrapunkt, man bemerkt Verschiebungen des Tempos, Verdichtungen des Satzes, man bemerkt eine Vorliebe für Variationen noch bei Giörgy Ligeti. Der Bau – seien es Sonatensatzkonturen, ihre Abirrungen und Varianten, seien es die Strukturen, Klänge, die Geräuschaliterationen und Energien autonomer Musik – wird kenntlich. Im Fall es zum behandelten Gegenstand beiträgt, kann man über all das schreiben. Aber was ist der Gegenstand von Musik? Es gibt Leute, die bezweifeln, dass Musik überhaupt einen Gegenstand hat.

Da bleibt für jede Art Quacksalberei viel Platz. Platz reichlich aber auch für die Arbeit von “Fachleuten” wie mir.

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We’re not the only ones.Wagenknecht/Schwarzer.Berlin 2023

Es passte an diesem Tag irgendwie alles. Die Enttäuschung darüber, vom Ende her gesehen, passte, dass am Hamburger Treffpunkt unweit des Hauptbahnhofs eine viel kleinere Anzahl Menschen stand als erhofft, dann waren es immerhin drei Busse – aber aus einer Millionenstadt drei Busse für den Frieden?

Angelangt in der Hauptstadt hatten wir uns darauf verständigt: alles über 10000 wäre ein Erfolg. In der prachtvollen Magistrale, die durch den Tiergarten aufs Brandenburger Tor zuführt, standen die Menschen – wir kamen in ihrem Rücken dazu – nach vorne hin immer dichter. Vorbei an zwei sowjetischen T 34 zur Kundgebung. Ein Fahnenmeer und miesestes Wetter. Schnee und Regen schienen niemand die Freude darüber zu verderben, dass „wir“ mindestens 3 x 10000 waren. Wir wussten alle, dass sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegen Waffenlieferungen und eine Verlängerung des Krieges ausgesprochen hat, die alte Friedensbewegung, deren Veteranen heute wieder dabei sind, zeitigt lange Wirkung.   Aber wo befand sich diese Mehrheit von 56 Prozent jetzt, wo waren wir abgeblieben in dieser schrecklich zugerichteten Sorte Öffentlichkeit?

In Berlin an diesem regnerisch-windigen Nachmittag kamen wir zu uns. Wir sahen uns. In unserer Menge sahen wir uns und in unseren vielen, auf verschiedene Weise altgewordenen Gesichtern. Wir spürten: wir sind da. Und es sind natürlich viel mehr als wir: viele haben es an diesem Samstag nur noch nicht geschafft, sich auf den Weg zu machen. Dafür, was in den letzten Monaten an Propaganda-Unflat auf uns niedergegangen ist – vom Totgeschwiegenwerden und unseren Ängsten, bedroht zu sein, nicht weiter zu reden –, sind wir unfassbar viele. Die Polizei hilflos untätig. Keine Schreihälse. Keine Quertreiber. Ich sah einfach nur aufgeklärte, gut informierte, in langen politischen Erfahrungen besonnen gewordene Menschen unaufgeregt mittun bei einer großen Angelegenheit.

„Friedensmeute“ haben sie uns in der Süddeutschen Zeitung genannt. Was treibt solche Leute? Mit dem Drang nach Geld oder mit Ehrgeiz könnte man die Niedertracht erklären. Aber woher der Hass? Es muss solchen Leuten im Bereich Mitmenschlichkeit irgendwann die Lieferkette weggebrochen sein. Sie sind Täter und Opfer zugleich, sie verdienen kein Mitleid.

Es passte auch, dass die Veranstalter am Anfang eine Musik spielten, die ich zwar gut fand, altersbedingt aber nicht kannte, klar, wir bräuchten noch etwas mehr Leute, denen sie geläufig ist. Den musikalischen Schluss hatte sich jemand ausgedacht, die oder der Sinn fürs Runde hat. Einer der Klassiker der universalen Friedensbewegung, gedichtet und gesungen von einem ihrer vielen Märtyrer: John Lennons „Imagine“. Zwar sind auch die Hassprediger und Kriegshetzer nicht allein auf der Welt. Global gesehen sind sie ein Häufchen Elend. Und wir, als Träumer verspottet und befragt nach unseren Motiven, können künftig wieder durchatmend antworten: Anders als Kriege haben Friedensträume ein Programm „for all the people“; Träume stärken das Herz, sie organisieren die Hoffnung derer, die mit John Lennon wissen: We’re not the the only ones. junge Welt, März 2023

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Andreas Staier spielt das Wohltemperierte Klavier I

Schon das Coverbild. Aus dunkelbraunem Grund lässt Paul Klee Grün bis Gelb und Ocker Ölfarbenkerzenblumen und nirgendhin zeigende rote Pfeile aufleuchten und glühen. Sie tauchen wie organische Gebilde aus harmonischem, melodiösem Klang hervor aus dem dunklen Grund des Basses in einem von Johann Sebastian Bachs musikalischen Wegweisern und Leuchttürmen in die europäische Musik der Neuzeit – dem Wohltemperierten Clavier.

Der Cembalist Andreas Staier hat sich, nachdem er Ende 2021 das schwierigere, vielfältigere und vielgestaltigere zweite Buch des aus zwei abgeschlossenen Zyklen bestehenden Jahrtausendwerks vorlegte, das erste Buch vorgenommen: ein Himalaya des Tastenspiels, erreichbar nur jenen, die den Gipfel auch ohne musikalisches Sauerstoffgedöns und ähnlichen Schnickschnack schaffen.

Das eröffnende, irgendwie schon ganz schön populäre Präludium C-Dur ertönt in der armesünderhaft nüchternen Klangschönheit des Lauten-Zugs in Staiers französischem Nachbau eines Instruments des Hamburger Cembalo-Bauers Hieronymus Albrecht Hass vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Bach stellt in regelmäßig gebrochenen C-Dur-Akkorden das Ausgangsmaterial des folgenden Baus aus 24 Präludium-und-Fuge-Doppelmolekülen vor. In ihnen durchmisst er das von ihm mit diesem Werk für die Musik kommender Jahrhunderte geschaffene Tonuniversum als dem nächsten Epochenschritt nach der Choralpolyphonie der Renaissance; erreichbar, das Tonuniversum, über 24 chromatische Tonleitern in Dur und in Moll in allen Seelen- und Weltschattierungen. Am Anfang aber das Einfachste, die vorzeichenlose Tonart C-Dur, nicht mehr und nicht weniger.

Nun Staier hörend, fällt es einem wie Chopin von den Ohren: das von Bach gemeinte Weniger (das selbstredend in Wahrheit das Alles ist) ging schon vor langer Zeit in einem romantisch ausdrucksbeflissenen, einem – Bachs scheinbares Weniger unterschiedlich raffiniert, es meist aber besinnungslos-aufgebrezelt präsentierenden – Mehr unter. Das Idealinstrument für diese Methode war für knapp zwei Jahrhunderte der moderne Konzertflügel. Staier, Hieronymus Albrecht Hass im Rücken, trumpft auf dem wahren Idealinstrument – Bach hat es dem aufkommenden Hammerflügel vorgezogen – mit der Alternative auf: dem entschwulsten wahlweise entmonolithisierten, dem entsentimentalisierten, kurzum, mit dem von der Romantik befreiten Bach.

In Staiers Verzierungen am Ende des formgerechten Anfangspräludiums pulst erstmals die Spielfreude dieses Clavieristen, beflügelt von der souveränen Beherrschung flink sensibler Finger – die Verzierungen, bei ihm fungieren sie, keineswegs marginal, als galante Stromstöße der Lebenslust. Die erste Fuge in C wird von Staier als das präsentiert, was sie mit vielen anderen Stücken des Wohltemperierten Clavier tatsächlich ist: tönendes Lehrbuch; auf dem Hass-Cembalo ist es, als höre eins im Zugleich der Kontrapunktik Bachs im selben Moment jede Stimme einzeln, so anschaulich wirkt die differenzierte Registerfarbigkeit des Instruments. Es folgt an vier das erste Moll-Stück. Dramatik pur. Das Instrument lässt, vergleichbar der Farbigkeit des CD-Covers, chromatisch maschinenhafte Muskeln hören.

In der Fuge cis-Moll an achter Stelle zeigt das Instrument in Staiers Händen, wie in einer als Choral eines strafenden Gottes beginnenden Fuge eine harmlose Überleitung zur Spielfigur wird, die als fünfte Stimme den Ausdruck der ganzen Fuge in ein verspielt Lebensfrohes verwandelt, ohne dass das schwere, abwärts schreitende Choralthema ganz in Vergessenheit geriete.

Das „Alte Testament der Musik“ hat Hans von Bülow das Wohltemperierte Clavier genannt. Das stimmt nachseiten sowohl der Orte des Geschehens – vom Konzert im Lustschlösschen bis hin zum klampfenbegleiteten Volkslied in den Katen der Bauern –, als auch im Hinblick auf die Erzählweise und den Vortrag: vom improvisatorischen Präludieren (im hohen Orgelklang des Cembalo!), von den vielen neuen Wegen der Fuge von der strengen Form zum lebensvollen Inhalt, bis hin zum brillanten, glitzernd virtuosen Concertino und den vielen, von unten herauf bis in die Paläste vorgedrungenen Volkstänzen der Barockepoche. Das tummelt und ordnet und vergewissert sich seiner selbst im Wohltemperierten Clavier wie auf einem breughelschen Wimmelbild.

Andreas Staier zieht in dieser neuen Aufnahme alle Register seines Könnens, seiner Kunsterfahrung, seiner Belesenheit und Begabung. Er muss den Ausdruck nicht vermitteln – der Ausdruck ergibt sich bei ihm aus der Form, der Ausdruck ist die Form. Eine hochwohlgeborene Erfrischung der Diskographie, eine Großtat. junge Welt, Februar 2023

J. S. Bach: Das Wohltemperierte Clavier 1 – Andreas Staier, Cembalo (Harmonie Mundi France)

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Nadelör Zeitenwende.

Der Begriffeaufwärmer

Das Wort bleibt hängen. Zeitenwende. Eine begriffliche Übergröße. Der Begriffeaufwärmer im Kanzleramt nutzt das Wort, um die Tatsache zu beschreiben, dass sich menschheitlich in der Welt gerade Allesentscheidendes tut.

Er hat ein Handycap. Das Ding, das er gerade dreht, muss durch ein Nadelör. Das Nadelör einer Zurückführung dieser Zeitenwende auf den – bitte immer dran denken – „grausamen“, „blutigen“, „menschenverachtenden“, den vor allem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ Wladimir Putins gegen die unschuldigen, mutig das Banner der Freiheit gegen die grausame, menschenverachtende – s.o. – russische Tyrannei schwingenden Ukrainer.

Aber nachdem draußen in der Welt längst nicht allein die Freunde des marokkanischen Fußballs ­begreifen, dass der Hase anders läuft, als in Berliner Jagdbeschreibungen vorgegeben, wird sich mit der Zeit wohl nicht verhindern lassen, dass ganz langsam auch der Block der notorischen Qualitätsmedien-Nutzerinnen im Spitzenland Europas bröckelt: Auch dieses Kamel wird, so etwas deutet sich an, am Ende nicht durchs Nadelör gehen.

Der Begriffeaufwärmer und seine Leute wissen es natürlich längst. Bevor sie, wenn denn nötig, Diskussionen über Probleme, die am Ende nicht durch Nadelöre passen, á la Erdogan in versteht sich demokratischer Manier freiheitlich und nunmehr auch offen verbieten – dürfen alle möglichen Menschen in diversen Talkshows und interaktiven Gesprächsforen alles mögliche zum Besten geben, was Gutversorgten so durchs Hirn wieselt, wenn der Tag lang ist. Im Mittelalter redeten sie sich die Köpfe heiß um die Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben.

Galilleo Galilei

Die eher party-scholastischen Spitzfindigkeiten unserer Tage haben mit den lateinisch mittelalterlichen (siehe „Name der Rose“) etwas gemeinsam: es gibt für ihre Freiheiten eine rote Linie. Wer sie übertritt, wie es Männer wie Kopernikus, Giordano Bruno oder Galilei taten, war des Todes. Heute bekommt man, schon, wenn man der roten Linie nahekommt, bei freilich noch lebendigem Leib, die öffentlichen Mittel gekürzt, wie es den Nachdenkseiten geschieht; man bekommt den Geheimdienst auf den Hals, wird als „extremistisch“ gebrandmarkt, wie die junge Welt; oder sie stecken einen bei schon gar nicht mehr so lebendigem Leib fern jeder Rechtsstaatlichkeit für Jahre in eine Isolierzelle des schlimmsten britischen Hochsicherheitsgefängnisses, als nur erst einer Warteschleife für die Auslieferung an den schlimmsten Unrechtsstaat unserer Zeit: die Vereinigten Staaten von Amerika.

Die katholische Kirche hat 400 Jahre gebraucht, ihre mörderischen Irrtümer zuzugeben, sie hat sich bis heute nicht bei den Millionen Opfern ihres weltweiten Glaubensterrors entschuldigt. Dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, bestreiten heute trotzalledem nicht einmal mehr die Evangelikalen. Und so kreisen die Sonnen der Menschheit nicht mehr unhinterfragt um die leidgeprüfte Erde der Yankee-Demokratie seit, neben vielen anderen, Julian Assange der Weltöffentlichkeit mit einem brutal deutlichen Video sowie der Veröffentlichung digitaler Korrespondenzen der US-Außenpolitik die Augen öffnete für Wesen und Wirken der selbsternannten Weltführungsmacht.

Das absolute Supremat dieser ganz speziellen Sorte Demokratie gleicht 2023 dem absoluten Supremat Gottes im christlichen Mittelalter. Beide, der eine einzige Gott und die einzigmögliche Demokratie, überwölbten und stabilisierten die Wirklichkeit der beiden, aufeinander folgenden europäischen Zeitalter. In beiden ist die Arbeit der großen Mehrheit der Bevölkerungen Bedingungen für die Existenz jeweils einer kleinen Bevölkerungsminderheit, eine Konstellation, die verlässlich für Krisen und Kriege sorgt. In ihrer Folge gerät heute der zumindest nach außen erhobene ethische Anspruch der Machtsysteme jener beiden Zeitalter in immer heftigere Konflikte mit ihrer Evidenz.

Die Kirche hat sich seit Galileo, Bauernkriegen und Schisma glänzend durchgemogelt, sie hat sogar Nietzsche überlebt. Es steht gleichwohl 2023 nicht gut um sie. Der Demokratie bürgerlicher Provenienz geht es kaum besser. Ihr Narrativ wird – so, wie es aussieht – zumindest für von Korruption nur oberschichtig betroffene Völker angesichts immer fadenscheinigerer Lügen der nunmehr digitalisierten Kolonialherren immer unglaubwürdiger.

Und wir, ziemlich fernab der weltrevolutionären Vorgänge der Gegenwart – der Ukrainekrieg ist ja nur als Vorspiel gedacht –, nehmen mit Blick auf die Geschichte staunend einmal wieder zur Kenntnis: Sie bewegt sich offenbar wirklich. junge Welt, Januar 2023

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Blomstedt dirigiert Schubert Siebte.

Beim Hören der Sinfonien fällt es besonders deutlich ins Ohr. Franz Schubert hat sich vorm Abfassen seiner sieben Sinfonien bis hin zu Rossini fleißig umgehört. Das Problem blieb Beethoven. In Schuberts letzter, der achten Sinfonie ist es am deutlichsten. Aber schon in der siebten – sie wurde als „Unvollendete“ berühmt, obschon es ihr trotz der nur zwei von Schubert komponierten Sätze an nichts fehlt – wäre zu hören, wie Schubert sich an dem Übergroßen hinter und über ihm abarbeitete.

Es gibt im Netz eine Life-Aufnahme der Sinfonie in h-Moll mit den Bamberger Symphonikern, geleitet von Herbert Blomstedt, er vollendete im Sommer 2022 sein 90. Lebensjahr. Sie besticht durch den sich schon in den Basstakten der Einleitung herstellenden Eindruck: da wird ungeheuer sorgsam musiziert; gerade so, als ob nichts von allem unbemerkt bliebe, was, bis hinein in die intrikaten Kleinigkeiten dieser Sinfonie, in ihr steckt; der Musikphilosoph und Musiker Peter Gülke hat in seinem reichen Schubert-Buch einiges darüber verraten.

Bis heute rätselt die Fachwelt. Warum hat Schubert die Sinfonie nicht weiterkomponiert? Von den vielen im Umlauf befindlichen Spekulationen hat jene einiges für sich, die beider Sätze ähnliches Tempo (verhalten) anführt, sowie den leisen Dreiertakt in beiden Sätzen. Hatten sie ihm zu viel Ähnlichkeit? Nach zwei Sätzen im Dreiertakt wäre ohnehin mit dem Scherzo des dritten wieder ein Dreiertakt fällig gewesen. Aber sollte Schubert, als sein Schöpfer-Ego dem Allegro moderato im Dreiertakt ein Andante con moto im gleichen Metrum folgen ließ, nicht gewusst haben, dass er, die Konvention verlassend, in die Sackgasse steuerte?

Schubert: Sinfonie Nr. 7 h-Moll – 1. Allegro moderato

Blomstedts musikalische Auslegung lässt noch anderes vermuten: Mit den zwei vollbrachten Sätzen konnte Schubert nicht nur mit einiger Gewissheit das Gefühl haben, alles sei gesagt. Er wusste auch: in ihnen sind typische Charaktere der zwei der Konvention nach fehlenden Sätze – Scherzo und Finale – mehrfach enthalten.

Schon Haydn hatte sich bei seiner „Erfindung“ langsamer Sinfonie-Einleitungen auf die langsamen ersten Sätze der im zweiten Satz schnellen und kontrapunktischen Eröffnungen barocker Orchestersuiten bezogen. Schubert bezieht sich in der a capella-Einleitung der Kontrabässe, in den gravitätischen drei Aufwärtsschritten sowie der Terz zurück, in nicht kürzer zu fassender Konzentration, auf die nicht mehr erkennbar barock-haydnsche Art von Sinfoniebeginn. Das erste Thema hätte in seinen langen Noten das Zeug auch zum Adagio. Einerlei, es kommt in der Durchführung nicht vor. Schubert geht über Beethoven hinaus, wenn er die karge langsame Einleitung, den Sonatenhauptsatz grenzwertig strapazierend, statt des ersten Themas zur Kernmonade der Durchführung macht. Auf der Grundlage jener wenigen fahlen Bassnoten des Satzbeginns findet in der Durchführung ein Orchesterdrama statt, voll kontrapunktisch aufwallender Beethovenheroik. Kaum jemand fällt auf: das beschwingt in den Himmel schaukelnde Seitenthema fehlt ebenfalls. In Form eines eigenen Satzes hätte es, abzüglich wiederum einiger Eigenheiten Schuberts, ein herrliches Scherzo abgegeben.

Dieses Seitenthema wurde freilich noch innerhalb der Exposition sattsam durchgeführt, so etwas haben, vielleicht nicht so demonstrativ, auch schon Beethoven und Mozart gemacht. Aber einen ersten Satz in der Coda im langsamen Tempo des Sinfoniebeginns, kurz und notengleich mit dem Anfang enden zu lassen, noch dazu in eroika-affiner Trauermarschstimmung – das gab’s’ so bei den Mitklassikern noch nicht. Da taten sich, jenseits des Sonatensatzes, ganz neue Möglichkeiten auf.

Es macht den Unterschied, wenn Herbert Blomstedt seine Musiker dazu bestimmen kann, dem neuartigen Umgang Schuberts mit dem Sonatensatz – mit den neuen farblichen, rhythmischen, stimmungsdynamischen Möglichkeiten Schuberts – eine Spannung auch dort herzustellen, wo es keinen Sonatensatz mehr gibt. Nur Fachleute mögen freilich im langsamen Satz hören, dass dieser Satz gar keine Durchführung hat. Aber eine Coda hat er, eine Apotheose des Abschieds; erst Gustav Mahler am Ende seiner 9. Sinfonie dürfte so etwas ähnlich eindrucksvoll hinbekommen haben.

Es wirkt schlüssig und logisch bei Blomstedt: dass am Ende einer Sinfonie, zumal einer mit solchen Inhalten, nicht das große Finale den Atem rauben muss. Es kann auch der leise, wehmütige Atem des Abschieds aus dem Erlebnis einer so gewaltigen Musik sein, der sinkende Abend eines langen Tages. So ist diese Aufnahme musiziert. So kommt sie an. junge Welt, Januar 2023

Schubert: Sinfonie Nr. 7 h-Moll op. 759 – Bamberger Symphoniker / Herbert Blomstedt

CDREVIEWS

No longer Schrumpfhaydn.

Es gibt Dirigenten, die können in einer Musik ein Leben erwecken, das gar nicht in ihr ist. Giovanni Antonini ging den langen Weg vom erfolgreichen Solisten auf der Barockflöte, über die Gründung der ersten italienischen Kapelle auf alten Instrumenten, Il Giardino Armonico 1985, bis er seit etwa zwei Jahrzehnten zum originellen Gestalter von für Orchester geschriebener Musik von der Renaissance bis zu – soweit auf Tonträgern zu erhaschen – Beethoven wurde.

Er hat sich vor Jahren auf eine lange Reise begeben. Alle 104 Sinfonien Joseph Haydns (1732-1809) will Antonini bis 2032 aufgenommen haben, bis zum 200. Geburtstag des als „Vater der Wiener Klassik“ geltenden Komponisten. Und natürlich haben sich von Anfang des Projekts bis zum gegenwärtigen Stand allerhand Fachleute gefragt: Ob das, was dieser Italiener da mit Haydn veranstaltet, noch hinnehmbar ist? Denn Antoninis Haydn unterscheidet sich auf im positivsten Sinn erschreckende Weise in fast allen Belangen von einer langen Haydnkonvention.

Man nahm Haydn sehr lange nicht für voll, man tut das manchenkopfs bis heut nicht. Man ließ anstelle der im Programm angekündigten Haydn-Werke flache Gesellschaftsmusik aus einer Vergangenheit erklingen, die sowieso niemand näher interessierte; ihre Harmlosigkeit schien durch den großen Namen Haydn verdeckt und gedeckt. So noch zu erleben selbst bei Aufführungen der beiden Haydn-Oratorien „Schöpfung“ und „Jahreszeiten“, lange Zeit Haydns Allzeit-Boxfavoriten. Haydn wurde als „Wegbereiter“ gehandelt, mit einer extrem kleinen Auswahl aus seinem Riesenwerk. Aber er war nicht der Wegbereiter. Er war der Weg. Der Eindruck gefälliger Harmlosigkeit seiner Werke kam nicht aus den Noten, er kam aus den Instrumenten jener, die unkritisch einen langlebigen Zeitgeschmack bedienten.

Joseph Haydn

In der inzwischen gutgewachsenen Literatur auch über Haydn ist zu erkennen: Er war das produktive Nadelöhr neuerer europäischer Musikgeschichte. Seine Musik wurde zum „ächten Fundament“ (Haydn) modernen Denkens in Tönen. Zum monadischen Kompressor und Aggregat für die Entwicklung von der Choralpolyphonie der frühen Renaissance bis zum Barock und zur Mannheimer stamitzschen, wahlweise der norddeutsch carl-philipp-emanuellen Vorklassik, nicht zu vergessen das musikalische Völkersprachengemisch Panoniens, der südosteuropäischen Heimatregion Haydns. Für Ludwig Finscher, einen, obschon er historisches Denken ausschlug, klugen und gründlichen Haydn-Forscher, hat Haydn „die Grundlagen der Musikkultur des 19. und weiter Teile des 20. Jahrhunderts“ gelegt, er entwickelte „eine europäisch verbindliche Sprache der Musik, vor allem der Instrumentalmusik“.

Man stelle sich vor. Einer der ganz Großen der Musik kam vom Dorf. Ein Hof mit Werkstatt am Ufer des Neusiedler Sees in Rohrau, heute Burgenland, Republik Österreich. Die Stellmacherfamilie Haydn fertigte dort seit Generationen Wagenräder und allerlei hölzernes Landgerät. Spärlich die Quellenlage. Wer hätte ahnen können, dass so ein Stellmacherkind, nur weil es so schön zur Harfe des Vaters sang, eines Tages bei einem Zufallsbesuch des Hainburger Chorregenten Franck so positiv auffiel, dass der Chorregent den Sechsjährigen zur weiteren Ausbildung nach Hainburg mitnahm. Auch dass der Sopran des hörbar begabten Kinds – mutmaßlich – etwa drei Jahre später dem Kapellmeister Reutter von der Kapelle des Wiener Stephansdoms ins Ohr drang und Haydn damit zum Wiener Sängerknaben wurde mit den bekannten Folgen: das alles geschah im diffusen Vorfeld der Musikbiografik.

Er lebte, so erzählte er als alter Mann seinen ersten beiden Biografen, in Zimmern, die „kaum den Regen abhielten“. Frierend oder schwitzend, winters wie sommers, las er nach dem stimmbruchbedingten Ausscheiden aus der Domkapelle als Gelegenheits- und Straßenmusiker abends nach der Arbeit bis in die Nacht Johann Joseph Fux‘ Gradus ad Parnassum und andere Standardwerke der Theorie; er schaffte sich Grundlagen. „Durch dieses elende Brod“, so der Rohrauer, „gehen viele Genie zu Grund, da ihnen die Zeit zum Studiren mangelt“. Haydn – ein bienenfleißiger Autodidakt.­

Er war fünfundzwanzig, da gelangen ihm Durchbruch und Aufstieg: Musikdirektor beim Fürsten Morzin von 1757 bis 1761! Freie Kost und Logis, regelmäßiges Gehalt; er aß nicht am Gesindetisch, er speiste mit den „Offizialen“ – und er hatte ein kleines Orchester zur Verfügung, mit ihm konnte er alles zu Klang werden lassen, was ihm so tag- und nachtlang „durch die Birne rauschte“ (Eckhard Henscheid).

Esterhaza (Fertöt)

Noch idealer als Laboratorium und Prüfstand für die werdende Grammatik der instrumentalen Musiksprache zweier bürgerlicher Jahrhunderte erwiesen sich freilich nach Haydns Umzug 1761 die beiden panonischen Schlösser der ungarischen Fürsten Esterhazy – Eisenstadt bis 1778, Esterhaza bis 1790. Doppelt so viele Gulden wie bei Morzins, stolze 400 als Anfangsgehalt (sein letztes Gehalt in Pannonien betrug testamentarisch verfügte 1000 und vom Erben und Nachfolger um vierhundert auf 1400 ergänzte Gulden). Eine seit seinem Dienstantritt mit erweiterter Streichergruppe und chorischen Bläsern besetzte Kapelle – mit einem Fagott in der Bassgruppe, einer Bratsche in den Mittelstimmen, Flöten dazu. Er blieb in Eisenstadt und Esterhaza, nicht weit von seinem Heimatdorf, für vierzig schöpferische Jahre.

Nur zwölf seiner 104 Sinfonien sind außerhalb des Burgenlands entstanden; sie wurden für die Konzerte während der zwei, Anfang der 1790er Jahre nach London unternommenen Reisen komponiert. Mit ihnen war er europaweit endgültig berühmt. Aber um gerade mal diese zweimal sechs „Londoner Sinfonien“ wurde nach und nach – Ausnahme England – der aus nicht viel mehr als aus dem „Kaiserquartett“, der „Sinfonie mit dem Paukenschlag“ und der „Abschiedssinfonie“ sowie den beiden Oratorien bestehende Haydn-Kanon erweitert. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beschränkte sich das Abendland auf eine Art Schrumpfhaydn.

Zwar haben schon Dirigenten wie Antal Dorati oder Adam Fischer auf älteren, verdienstvollen Gesamtaufnahmen Licht in den bis dahin eher toten Haydn-Winkel geworfen. Aber über ein wissenschaftliches Interesse an bisher weitgehend nur Fachleuten Bekanntem hinaus sorgt Giovanni Antonini dafür, dass es, angefangen mit der 1. Sinfonie D-Dur Hob. I:1 (I:1) ein bis in die Herzkranzgefäße strömendes Wohlgefühl erzeugt, dem frühen und mittleren Haydn-Sinfonien zuzuhören.

Pierre Barbaud stellt für diesen ersten Abschnitt der panonischen Sinfonieproduktion, sie dauert bis ungefähr 1773, „eine dionysische Periode eines im Wesentlichen apollinischen Genies” fest. Womit er auf die auf Erschaffung und Erfüllung strenger Kompositionsregeln gerichtete Arbeit Haydns an seinen Streichquartetten ab Opus 33 hinauswill: „In den Sinfonien dramatisiert Haydn seine Quartette“, er hebt den Widerspruch zwischen Kopf und – wie Mozart fachsimpelte – „Arsch“ der Musik auf.

Die Energie und Lebenskraft, die Antonini Haydn in diesem Sinn mitgibt, seine Vergrößerung aller Ausdrucksparameter, die hingehauchten Pianissimo-Passagen so gut wie die, den Lärm nicht scheuende Vehemenz des fortissimo, eine Schelmin, die sich dabei an die Ästhetik der Italowestern erinnert fühlt – ergibt am Ende einen, zu kleinen und großen Tutti-Explosionen neigenden, farbenfroh grell gespannten, eine Art bei Bedarf auch dämmrig nachdenklichen Espressivoismus.

Für einige Fachleute verstößt Antonini mit so etwas gegen alles, was sie der klassischen Musik als „künstlerische Seriosität“ einbedingen und abverlangen. Für andere, wie den Autor dieser Zeilen, erfüllt der Mailänder mit seinem Haydn einfach den Wunsch nach einer, den Wirkungen der Popmusik vergleichbaren Erfüllung auch musiksinnlichster Momente geistigen Spaßes.

Und spaßeshalber bekommt man dann noch mit, wie interessant das Gehörte im Hinblick auch auf die Möglichkeit ist, nachzuverfolgen, wie sich da, fast von Werk zu Werk, aus der eigenschöpferischen Verarbeitung ringsum einwirkender Einflüsse die haydnsche Form der Sinfonie entwickelt; in ihr dieser spezifische, für die meisten Dirigenten so schwer zu treffende Haydn-Ton.

Antonini trifft ihn blind, er scheint ihn im Blut zu haben, so impulsgeladen musiziert er bereits den Beginn der dreisätzigen Sinfonie I:1 am Beginn der 104 Sinfonien. Es ist – etwa 20 Jahre, bevor Mozart in Italien die dortige Sinfonie vor Ort erkundete – Haydns besondere Kunst, mit dem damals in Europa hegemonialen Einfluss italienischer Musik umzugehen. Die Eleganz Italiens verwandelt sich in Haydns der Welt zugewandtem und weltgewandtem, von pannonischer Kraft durchströmtem Geist in ein im Vergleich zwar vielleicht nicht ganz so italienisch leichtfüßiges, so, wie es Antonini musiziert aber pointiert dynamisches Voranstürmen eines aufgeklärten Optimismus im protorevolutionären Europa. 

Ein wenig langweilig wird es selten, vielleicht in Sätzen wie dem eröffnenden Adagio von I:5. Ihm liegt das Formgerüst der Kirchensonate zugrunde, Haydn lässt es unangetastet. Es macht gleichwohl Freude nachzuverfolgen, wie Haydn schon zu Beginn seiner Erkundung sinfonischer Möglichkeiten die Wirkung der Instrumente nach und nach im Orchestersatz ausprobiert. Sie kommen konzertierend alle dran, von der Flöte bis zum Kontrabass. Zunächst die seit Barockzeiten in den Orchestern vorhandenen Hörner und Oboen/Englisch Hörner. Dann die Geigen, in Gestalt des großartigen Konzertmeisters Luigi Tomasini, dessen Doppelgriffe solo das Adagio von I:6 eröffnen. Überall durch die sehr frühen Sinfonien spukt so die in der Musikgeschichte bald auslaufende Sinfonia Concertante.

Am Beginn von I:6, die Sinfonie trägt den Beinamen „Le Matin“ (der Morgen), ist, nach einem ausinstrumentierten Crescendo mannheimer Art, eine Miniversion des großen C-Dur Anbruchs „Und es ward Licht“ aus der „Schöpfung“ zu hören. In den Menuetten, sie werden später zur unangefochtenen Spezialität haydnscher Sinfonik, verbreiten sich, oft volkstümlich spärlich aber farbig instrumentiert, höfische Etikette in gepuderten Bewegungen mit tänzerischer Lust am Auf und Ab der Volksmelodien.

Zwischen den ersten Satz von I:26 und das folgende Adagio legt Antonini eine markant lange Pause ein. Das Werk ist mit „Lamentatione“ überschrieben, eine Klage. Aber das Allegro assai con spirito des Beginns verdankt sich zwar, wie der langsame zweite Satz, den Passionsmotiven einer Choralbearbeitung. Aber es klingt im Allegro weder klagend noch leidend, soviel „spirito“ legt Antonini hinein: es klingt nach Auflehnung gegen das Leiden. Selbst die durchgehend legato-traurige Choralmelodie des Adagio wird von beunruhigenden Triolenfiguren der Geigen hintergangen; da kommt jemand nicht zur Ruhe. Offenbar wehte der Zeitgeist, den man heute verkürzend „Sturm und Drang“ nennt, auch durch die Köpfe Panoniens. Beim Eisenstädter Haydn – von Antonini mit, sich der Gefahr von Manieriertheit aussetzendem Nachdruck betont – bricht er impulsgeladen, voller Spannungen und kompakt dynamischer Aufladungen in den Moll-Sinfonien durch. In der Literatur wird diese Periode Haydns seine „romantische Periode“ genannt. Falsch im Sinn von undialektisch wäre das nur, wollte man übersehen, dass die Romantik des „Sturm und Drang“ eine (vor)revolutionäre war, die Romantik E. T. A. Hoffmanns, Eichendorffs oder Schumanns eine postrevolutionäre bis erzkatholisch-reaktionäre.

Mozart: Sinfonie xg KV 183 / I. – The English Concert / Trevor Pinnock

Gleich die erste der g-Moll Sinfonien, I:39, hat es in sich. Kein Wunder, dass gerade dieses Werk, in dem seinerseits viel Carl Philipp Emanuel Bach steckt, besonders kenntlich in den wilden Synkopen von Mozarts „kleiner“ g-Moll Sinfonie KV 183 nachklingt. Antonini lässt gleich in I:39 aus Haydn, dem gemütlichen Biedermeier-Kretin des Bildungsbürgertums, den Citoyen Haydn werden, der im Saft seiner Dreißiger eine – Beethoven dynamisch vorwegnehmende, nur eben pannonisch charmantere – jakobinische Variante der Aufklärung musikalisiert. Antoninis Streichertutti wird hier endgültig zum Schlagwerk der Saiten. Der massive Streichereinsatz in dieser Sinfonie wird von vier Hörnern hinterfüttert, es ist eine wahre Orchesterklangwucht – geöstreichert: a echte Hetz, a Mordsgaudi!

Ein weiteres, ausgefallenes Beispiel aus Haydns, von Giovanni Antonini so lebhaft beleuchteten totem Winkel wäre I:60. Sechs Sinfoniesätze. Als wär’s eine barocke Orchestersuite. Damit hat sie aber gar nichts mehr im Sinn. Denn sie ist aus der Theatermusik zu Jean Francois Regnards Komödie „Der Zerstreute“, Il Distratto, entstanden. Theaterhaft abwechslungsreich, voller Kontraste und Stilbrüche. Man kann gut darauf verzichten, diese Musik programmmusikalisch auf den Verlauf der Komödie herunterzubrechen. Immerhin, die unerwarteten Wendungen der Handlung, die komische Zerstreutheit Leandres, der männlichen Hauptfigur, inspirierten Haydn offensichtlich zu vielen Ausflügen in sein Vergnügen an musikalischer Überraschung: Nach dem ouvertürenhaft serianahen Portal einer vielleicht karikierend-pompös kurzen Adagio-Einleitung eine wunderbar sangliche Partie der Geigen, begleitet von zwischen Tonika und Dominante hin und her schaukelnden Sechzehnteln der tiefen Streicher. Im anschließenden Allegro di molto ein geradezu aktivistisch aufmunterndes, signalhaftes erstes Thema aus drei Staccato-Achteln und einem kurzen Viertel, motivischer Kern und Keimzelle des Satzes. Am Themenende reduziert Haydn den Fluss, die Musik kommt pianisissimo in einer Generalpause zum Erliegen. Sekundenlang atemberaubende Stille, Spannung – und Tuttischlag! Es geht fullspeed weiter. Haydn langt ins Komische, er spielt mit den Erwartungen. Der bald sprichwörtliche „haydnsche Witz“ kommt zu sich.

Das den Satz durchziehende Motiv der drei kurzen und der einen längeren Note markiert eine weitere der haydnschen Neuerungen: der Rhythmus kann zum Thema werden. Beethoven hat das im ersten Satz seiner 7. Sinfonie und geradezu ikonophonisch mit dem Anfang der 5. Sinfonie fortgesponnen. Auch deren Anfangsmotiv besteht bekanntlich aus drei kurzen und einer weiteren Note, die Beethoven allerdings durch verlängernde Betonung zum Schwerpunkt macht; die drei kurzen Noten werden zu einer Art Auftakt ihrer selbst.

Anders als später sein widerspenstiger Schüler Beethoven, spricht Haydn nicht bewusst in eine Öffentlichkeit – er reißt auf persönlicheren Wegen das Auditorium im Allegro von I:60 in die gleiche Richtung hin, in die auch Beethoven streben wird, ins dramatisch ereignishaft Offene. Das Adagio ein Idyll unisono-bukolischen Friedens. Legato, das war in der dogmatisch mageren Anfangsphase historischen Musizierens nahe am No go, es wurde misstrauisch beäugt. Inzwischen spielen die Streicher von Il Giardino Armonico oder die von Antoninis zweiter Haydn-Kapelle, dem Basler Kammerorchester, das naturhaft unwiderlegliche Legato-Idyll wunderweich und atmend aus; die dazwischenfunkenden Hornsignale bekräftigen närrisch kontrastierend nur die Unbeirrbarkeit des auf den sich zuweilen imitatorisch brechenden Wellen eines stampfend-beschwingten Volksphilosophentanzes dahinfließenden Friedens. Im Menuett von I:60 taucht sogar kurz eine fugierte Passage auf; im abschließenden Presto fällt den Violinen, kaum dass sie das erste Thema vorgestellt haben auf, dass ihre Instrumente verstimmt sind. Sie halten an und stimmen ihre auf F abgesunkenen G-Saiten nach, dann geht’s weiter.

Es spielt im Grunde keine Rolle, ob Haydn sich komponierend an den Motiven der Theaterdichtung Jean Francois Regnards orientierte oder sich von ihr nur hat anregen lassen. Haydns Musik spricht ihre eigene Sprache und erzählt allen die Geschichte, die in jeder und jedem in dem Moment gerade entstehen will. Eine Geschichte vielleicht darüber, dass Idyllen einen gegen Banalitäten allergischen Menschen des dritten Jahrtausends als solche erst interessieren, wenn in ihnen angelegte Brüche bemerkbar werden. Ohne Brüche ist die real existierende Idylle zurzeit längst unglaubwürdig.

Der harmonische Reichtum im Orchestersatz Haydns wächst gegen Ende seiner panonischen Lebenszeit, er wird motivisch-thematisch verwickelter. Seine Vorliebe für komische Diskontinuitäten aber, für die originelle Verletzung der Konvention, sie bleibt. So steckt, kurz vor Beginn seiner Arbeit an den für die Konzerte in der französischen Hauptstadt Ende der 1780er Jahre vorgesehenen „Pariser Sinfonien“, noch die 1784 entstandene I:80 voller feiner Ordnungswidrigkeiten. Abermals ganz gegen die Erwartung, die ihr Beinamen „La Passione“ weckt, stürmt und drängt sie, zumindest in den Ecksätzen, leidensfrei voran.

Da stampfen – es „fehlt“ die langsame Einleitung am Beginn des Allegro spirituoso –, begleitet von dramatischem Streicher-Tremolo, gewaltige Tuttischläge im Bass die erste Zählzeit eines Dreivierteltakts ins Ohr. Nach 20 Takten wird die Betonung der ersten Note von Synkopen irritiert. Wieder Tremolo und Aufregung. Am Ende der Exposition aber geht das dramatische Geschehen, man weiß nicht wie, in einen beschwingten Ländler simpelster Art über. Ihm fehlt allerdings gezielt der letzte Takt der üblichen achttaktigen Periode. Nach der Wiederholung wird nach einer zwei Takte langen, wie ein unvorhergesehenes Ende der Musik wirkenden Generalpause die Durchführung zur Bühne des banalen Ländlers, in der Luft ein Vorausahnen der Vorliebe Gustav Mahlers fürs Abgestandene. Mit dem Ländler klingt der Satz aus.

Das Presto am Sinfonieschluss spielt schon in der dreifachen Viertelnote des Beginns mit der Synkope, denn sie ist beim ersten und dritten Erklingen als doppeltes, über den Taktstrich hinweg verbundenes Achtel notiert, man kann die Synkope als quasi ihren eigenen Auftakt nur hören, wenn man sie vorher gelesen hat. Viel mehr an Thematik als diese drei Noten ist kaum zu erkennen. Der unglaublich ausführlichen Verarbeitung dieses Themenminimums schon in der Fortspinnung seiner drei Bestandteile, erst recht aber in der Durchführung, entspricht ein Maximum an vielfach variiertem Einsatz synkopischen Vorwärtsdrangs.

Haydn wird vor allem für die gedankliche, konzeptionelle Ausfüllung des schon lange vor ihm in der Musik vorhandenen Sonatensatzes gepriesen. Aber die Durchsetzung des ihm zurecht zugeschriebenen Sonatenhauptsatz-Prinzips (der Inhalt wurde von ihm ausgearbeitet, der Begriff bildete sich erst nach seinem Tod) spielt in den hier besprochenen frühen und mittleren Sinfonien noch kaum eine Rolle. Es ist der Orchesterklang, der Einsatz seiner dynamischen und farbklanglichen Möglichkeiten, der in diesen Sinfonien auftrumpft. Es ist deren neue Art klangkörperlicher Präsenz und öffentlicher Wirksamkeit.

Es wird im Fall Haydns oft darüber geklagt, dass es für einen weiten Zeitraum seines Lebens nur wenige Dokumente und folglich wenig Wissen über sein Privatleben, sein Menschsein, gibt. Aber Musik – als tönende Form – ist nicht nur eine Delikatesse für den Intellekt. Schon einzelne ihrer Töne, allein oder miteinander, richten bis ins Dunkel unseres Unterbewusstseins rätselhafte Wirkungen an. Weil sie darüber hinaus offenbar auch noch in der Lage sind, zumindest das historisch und kunsthistorisch versorgte Bewusstsein zu Eulenflügen zu inspirieren etwa durch die untergegangene Welt des 18. Jahrhunderts – darum erfährt, wer Haydns pannonische Sinfonien hört, viel Persönliches und Atmosphärisches auch über diesen immer wieder neu zu Entdeckenden.

Was hat dieser Mann vom Dorf, ohne große Vorbildung, im Laufe seines Lebens nicht alles an Weltwissen in sich untergebracht, was hat er daraus werden lassen, für wen nicht alles? Allein zur weiteren Entdeckung all dessen hat Giovanni Antonini in der Tat einiges beigetragen. junge Welt, Januar 2023

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Oh, Jeremy Corbyn – die große Lüge

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Stefan Huth und Jackie Walker

Es war eine Welturaufführung. Aber dass sie nun am Sonntag in Berlin als passender Epilog einer großartigen XXVIII. Rosa-­Luxemburg-Konferenz gerade von der einzigen marxistischen Tageszeitung des Landes zu Wege gebracht wurde, war wohl ein glücklicher Zufall. Denn zur Freiheitlichkeit der Demokratie auch des Vereinigten Königreichs gehört es nun mal, Filmen wie »Oh, Jeremy Corbyn: Die große Lüge« maximal viele Steine in den Weg zu legen, bevor sie, wenn überhaupt, erscheinen dürfen. So war es die junge Welt, die die Dokumentation über den Putsch gegen Jeremy Corbyn als Weltpremiere zeigen konnte, wie Chefredakteur Stefan Huth eingangs berichtete. Dass der Film von Regisseur Christopher »Chris« Reeves am Folgetag der Konferenz über die Leinwand des Kino Babylon und direkt in die Köpfe und Herzen eines aufgeklärten Berliner Publikums gehen konnte, war auch den in Rekordzeit und Nachtarbeit erstellten deutschen Untertiteln Susann Witt-Stahls zu verdanken. Der Saal war prallvoll, ausverkauft.

Ein Film wie ein sanftes Gewitter. Bilder von den begeisternden Auftritten Jeremy Corbyns vor den Massen überwiegend jugendlicher Labour-Anhänger. Der fast lebenslange linke Hinterbänkler hatte mit der Losung »For the Many, Not the Few« (Für die Vielen, nicht die Wenigen) die Sache mit der Demokratie auf den Punkt gebracht. Bilder und Worte von einer Authentizität, von der bürgerliche Politiker nur träumen können. Zum Nachdenken zwischenein besonnene, humorvoll-realistische Kommentare britischer Linker, unter ihnen Kenneth »Ken« Loach, der Vater des Films der britischen Arbeiterklasse.

Eine aus dieser Reihe, die Graswurzelaktivistin Jacqueline »Jackie« Walker, antwortete nach der Filmvorführung live auf Huths Fragen. Sie beschwerte sich lachend, Fragen solcher Art bedürften Stunden der Antwort, aber sie wolle versuchen, sich kurz zu fassen. Die schwarze Engländerin jüdischer Abkunft, langjähriges Mitglied von Jewish Voice for Labour, sprach aus Erfahrung auch über Jeremy Corbyns entscheidenden Fehler im Schlamm-Tsunami, den die freiheitliche Presse, die vereinigte Rechte, mittendrin der Labourpolitiker Keir Starmer, und die City of London, gegen ihn entfachten: Auf dem zurzeit immer noch schwierigsten Terrain propagandistischen Klassenkampfs, dem Antisemitismus, entschuldigte sich Corbyn für seine Solidarität mit dem palästinensischen Volk. »Wer angegriffen wird«, sagte dazu Jackie Walker mit geradezu revolutionärer Gelassenheit, »darf sich nicht entschuldigen; er muss zurückschlagen«.

Auch an anderer Stelle gab es für die deutsche Linke zu lernen. »Was wäre geschehen«, fragte Huth, »wäre mit Corbyn in einem imperialistischen Hauptland ein NATO-Gegner an die Regierung gekommen?« Walker erläuterte anhand von Zitaten britischer Militärs, dass jenes Gebilde, das sich notorisch »freiheitliche Demokratie« nennt, in dem Moment, da jemand die rote Linie eines Systemwechsels ansteuert, sich seines Demokratiefummels leichterhand entledigt und offen terroristisch mit einem Staatsstreich reagiert.

Ohne den Unterhaltungswert der Veranstaltung bewusst steigern zu wollen, fragte Huth auch nach der Rolle der britischen Tageszeitung The Guardian in dieser Angelegenheit. Man hat im Babylon einen Menschen auf eine Frage wohl selten derart herzhaft lachen sehen. »Nicht die Rassisten und offenen Kolonialisten sind die Schlimmsten«, antwortete Walker, »bei denen weiß man wenigstens, woran man ist – die Liberalen, die ihren Rassismus und Kolonialismus hinter kostenfreien Wortwolken verbergen, sind die Schlimmsten«. Was Jeremy Corbyn anginge: Er sei kein Revolutionär und kein Marxist – aber ein Mensch, der ohne Wenn und Aber konsequent gegen den Krieg einstehe. Das allein sei unschätzbar viel.

Unerfreulich und von Jackie Walker im nachhinein als Symptom der gegenwärtigen Schwäche der Linken gedeutet: dass jemand sich das Saalmikrofon reichen ließ, um statt einer Frage versuchsweise das an diesem Nachmittag nicht gefragte Thema Covid in den Mittelpunkt zu rücken. Was ist eigentlich an »Disziplin« so übel, möchte man da in die Richtung fragen, wo einmal die Linke war.

In Antwort auf Susann Witt-Stahls letzte Frage, was wir in der BRD aus dem vorläufigen Scheitern Jeremy Corbyns und seiner Ideen lernen könnten und was uns zu tun bleibe in der Situation, in der wir selbst sind, erinnerte Walker daran, dass wir am Ende keine andere Wahl hätten, als bei der Wahrheit zu bleiben. Der Zeitpunkt, da sie wieder verfängt, könnte nicht gar so fern sein. Bei der Wahrheit bleiben, wenn ich Jackie Walkers weiches Englisch richtig verstanden habe, mit Geduld und leise, wenn’s geht – das war ein gutes Schlusswort am Ende eines Nachmittags voller wichtiger Eindrücke. junge Welt, Januar 2023

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Hurzlmeier 70.

Wilhelm Busch

Fassen wir uns kurz. Es dreht sich bei Rudi Hurzlmeier – er wird am 13. November siebzig, wir gratulieren heftig – um einen Künstler, der ohne Bayern, viel mehr aber noch ohne Komik undenkbar wäre. Um Missverständnisse zu vermeiden: Komik und Humor sind zweierlei. Hurzlmeier hat in seinen besseren und besten Arbeiten mit Humor seltener etwas am Hut. Humor spitzt nicht zu, er urteilt und verurteilt nicht, er ist halt mehr humorig, wie etwa Wilhelm Busch es war, nichts gegen ihn, er hat die Form des Comic mitgeschaffen, er war ein außergewöhnlich guter Zeichner und Reimer. Die Komik aber brachte Kinder wie Ironie und Satire zur Welt. Beiden und mit ihnen dem Komischen eignet die Tendenz, Position zu beziehen und gesellschaftlich einzugreifen mittels Kunst.

Annibale Carracci

Das aber ist bei Hurzlmeier so eine Sache. Er ist ein Großmeister komischer Kunst, keine Frage. Von im gebräuchlichen Sinn „politisch“ aber kann bei ihm nicht die Rede sein, muss ja auch nicht.  Schon die im späten 16. Jahrhundert bedeutenden florentiner Malergebrüder Caraccci hatten ihren Spaß daran, das hohlgewordene Schönheitsideal der Renaissance in prallen Karikaturen mit der witzigen Wahrheit des Hässlichen zu konfrontieren, auch das ein Eingreifen. Aber politisch? Noch nicht.

Die Essenz von Komik und Komischem ist die Kritik. Das Bestehende – es hat die starke Tendenz, sich für alternativlos zu halten – wird im Komischen mittels diverser Tricks infrage gestellt und damit zur Disposition. Insoweit Hurzlmeier alles mögliche auf den Kopf stellt und alles Unmögliche ermöglicht, aus einem Wal einen Tropenvogel werden lässt, aus einem Schornstein ein Klosett, aus einem Schimpansen einen Goethe oder umgekehrt, lehrt er das, was eins als Realität zu kennen meint, das Fürchten vor den enthüllenden Interventionen des Komischen.

Kunst in ihrer neuzeitlichen Ausprägung – die ersten veröffentlichten europäischen Bildsatiren waren antiklerikal – ist entstanden aus der Kritik am gesellschaftlichen Zustand (deren Fehlen macht die Kunst 2022 im Abendland weithin so öde). In den frühen Zivilgesellschaften kam sie von unten. Lange vor den Heiligenbildern oder den herrschaftlichen Epen und Ritterdichtungen des frühen Mittelalters wurde in der großen, arbeitenden Bevölkerungsmehrheit Europas aufmüpfig gedichtet, gesungen und eben auch gebildert. Geburtsorte und Nahrungsgrund der Kunst – denn sie hat den Widerspruch in der DNA – waren darum weder die Gotteshäuser, noch gar die Orte ihrer Aufbewahrung oder Aufführung, die feudal privaten Konzertsäle und Museen der adeligen Paläste. Es war die Öffentlichkeit der Straßen, Plätze, Märkte und Wirtshäuser.

Oben in der Gesellschaft war das Komische darum immer eher unbeliebt. Dort verpasste man ihm das Stigma des plebejisch Unterklassigen und Minderwertigen. Es wurde – im Kontrast zum elitär würdigen E für den rituellen Ernst der Hochkultur – mit dem Buchstaben U abgestempelt, Unterhaltung, Schnickschnack, bestenfalls Hofnarr. Seit den 1960er Jahren hat es bis in unsere Tage gedauert, bis es die Comics, Cartoons, die komische Kunst Hurzlmeiers und seiner nicht mehr adenauernden Spaßgesellen in Gegenwart und Vergangenheit aus der wenig kunstprominenten Öffentlichkeit der paar Satiremagazine und Zeitungs-Humorseiten endlich ins Museum geschafft haben.

Hurzlmeier fing, nach Abbruch diverser Laufbahnen, Schule inklusive, in den 1970er Jahren mit dem Zeichnen an. Typisch für ihn, dass seine Karriere nebenbei eine trauerrandige Bestätigung darstellt für die ganze Überflüssigkeit von Kunstakademien der überkommenen Sorte. Hurzlmeier war, selfmade, früh druckreif. Seine Arbeiten fanden oder finden sich in Pardon, Eulenspiegel, Kowalski, Titanic etc. Er illustrierte Texte bedeutender komischer Autoren wie Harry Rowohlt, Robert Gernhard, Wiglaf Droste, Peter Hacks, Fritz Eckenga, Thomas Gsella uva. Aber erst 2004, mit zweiundfünfzig, ereilte ihn der zunächst 3. Preis des Deutschen Karikaturenpreises. Ihm folgten zweimal Gold in 2010 und 2014. Der Ritterschlag 2016 eine Ausstellung in Hannover im Wilhelm Busch Museum, dem Ausstellungs-Olymp für große Zeichner. Hurzlmeiers bis heute letzte große Ausstellung schließlich markiert mit ihrem Ort zugleich einen gewissen Quantensprung deutscher Kunstgeschichte.  Sie fand im ersten, allein der komischen Kunst gewidmeten Haus in Deutschland statt, im Caricatura Museum Frankfurt; es verdankt sich einem unaufhaltsam rührigen, echten Karikaturenversteher wie Achim Frenz aus Kassel, der kenntnisprall auch alles kuratiert, was in seinem Museum gezeigt wird.

Lange wurde das Komische als das auch ästhetisch Untere sorgsam rausgehalten aus allem, was als Kunst galt, es war geduldet. Aber lediglich als Moment und Element des Allerheiligsten. So etwa, wenn Picasso als alter Mann in den einzigartigen 347 Gravuren die erotische Fülle seiner Jugend und die Schönheit der Frauen – sich selbst als sie malenden Affen – feiert oder wenn Breughel, schon recht nah an komischer Kunst, in seinen sinnensatten Wimmelbildern das tanzende, prassende, vögelnde Volk der äußerlich so sittsamen Oberschicht gegenüberstellt. Rudi Hurzlmeier darf sich das Verdienst zurechnen, den Spieß und den Spaß endgültig umgedreht zu haben. Das Komische in seinen Bildern ist nicht mehr nur Würze und Beifutter von etwas hierarchisch Höherem – es wird in seinen Arbeiten zum Ausgangspunkt und Eigentlichen.

Es fällt an dieser Stelle eine weitere hemmende, im Zusammenhang mit Hurzlmeier bemerkenswerte Hierarchie der bildenden Kunst auf: die zwischen Zeichnerei und Malerei. Als Darstellung des räumlich, volumenhaft oder sonstwie Dinglichen mittels der Linie führt die per Feder und Tinte oder per Stift gefertigte Zeichnung, gestrichelt auf Papier oder geritzt in Metall, als eine Art „Vorstufe“ zum mit Pinsel und Farbe gemalten Tafelbild ein Schattendasein in den Museen und Herzen vieler Kunstliebender (das gleiche gilt natürlich in der ohne Abbilder operierenden Bildnerei für den Auftritt der puren Linie als Inhalt und Begriff für sich). Abbild oder Bild – die Königsdisziplin bleibt in den Augen der Mehrheit ohne Zweifel das Gemälde.

Fraglich also, ob Rudi Hurzlmeier die Aufmerksamkeit und den Erfolg erreicht hätte, auf die er diesen Sonntag vollzufrieden zurückblicken darf, wäre er Mit- und Nachwelt – in Anführung: nur als der ingeniöse Zeichner überliefert, der er ist. Die nicht wegzudenkende Rolle der Zeichnung auch in Hurzlmeiers Malerei einmal außeracht, geht man sicher nicht fehl in der Annahme, dass das an diesem Wochenende zu ehrende Geburtstagskind ohne seinen Entschluss in den 1990er Jahren, sich auch mit allein komisch inspirierter Malerei einen Namen zu machen, kaum so prominent (und wohlhabend) geworden wäre, wie es heute ist.

Ein Blick auf einen seiner vielen Klassiker, nicht zufällig eine Zeichnung, allein die Idee: die uralte Witzbild-Konstellation von der Hausfrau im Blümchenkittel, die ihren spätabendlichen Gatten mit dem schlagbereiten Nudelholz hinter der sich öffnenden Haustür empfängt – Hurzlmeier hängt sie, die Idee, um philosophische Welten höher, indem er statt des Gatten Gevatter Tod mit Kapuze, Knochenschädel und Sense in der Tür erscheinen lässt. Das Komische schlägt gnadenvoll zu. Es tut immer das Unerwartete und kritisiert mithin das Erwartbare. Es verzeichnet, überzeichnet und verzerrt das Erwartbare zur Deutlichkeit all dessen, was seine Oberfläche nicht hergibt. Und wie das gemacht ist! Mühelos, ja wie achtlos und scheinbar nebenheriger als eine – im Kern schon alles enthaltende – ­Skizze wirft er die Linien auf den Schöllershammer-Karton. Akademisch stimmt da nichts. Und ist zugleich in einem höheren als dem tektonischen, perspektivischen, dem anatomischen und allem sonstigen Sinn überaus richtig hingekrakelt und weggekringelt; sogar die mit transparentem Weiß unmerklich eingefügten Marginalkorrekturen fügen sich stimmig ein ins ästhetische Gefüge. Die zusätzlich zur Decken- und Bodenlinie den Raum aufreißenden beiden Lichtlinien der geöffneten Tür – zweimal ein Hauch von Strich. Die beiden Bogenlinien der Türoberseite wiederholen sich in der Sense und in der Kapuze des Sensenmannes. Das in der Perspektive sehr schmale Türblatt trennt die grellweiße Aura des Todes links vom Leben rechts, dem Hurzelmeier in der Schnelle noch den farbig-warmen Schatten mitgibt, den die Tür auf die Frau des Hauses wirft. Links am Bildrand hält eine in ihrer extremen Verkürzung dito hinreißende Garderobe das Bildganze zusammen. An diesem Blatt ist, wird sein und war immer jeder Millimeter Kunst. Anlässlich ihrer, das unterscheidet sie vom mehrheitlich akomischen Rest, darf eins, ja soll eins im Museum als über eben große Kunst berstend lachen.

Besonders laut natürlich über eine von Hurzlmeiers Spezialstrecken, die Tiersatire. In einer kahlen Voralpenlandschaft voller sauber abgenagter Baumstümpfe steht eine Bibermutter mit ihren Kleinen neben einem Erdhaufen und keift auf diesen zu: „Du bist kein Biberl net! Sieh’s endlich ein und schleich dich!“– „Freilich bin ich ein Biberl!“, antwortet restlos verzweifelt oben auf dem Erdhaufen ein kleines Vögelchen. Er hat viele seiner gezeichneten Ideen später als Gemälde wiederholt. Nicht immer zu ihrem Vorteil und oft unter Inkaufnahme einer Minderung des Komischen, hin zu mehr humorigen, tendenziell harmloseren Wirkungen. So, beispielhaft, die folgende Zeichnung: Allein, eine Kuh von hinten zu zeichnen, ist rein tieranatomisch für jeden Zeichner eine Herausforderung. Darauf aber, wie Hurzlmeiers Kuh in der Art eines Hundemännchens das eine Hinterbein hebt und aus vollem Euter mit einer der Zitzen an einen Baum milchelt, wäre sicher gern auch Ernst Kahl gekommen. Die beiden Großmeister der Menschenphilosophie in Tiergestalten haben sich unabhängig voneinander und vielleicht inspiriert von Michael Sowa, dem dritten im Bunde der Monarchen im Bund gemalter komischer Kunst, eines besonders schönen Tages und jeder auf seine ganz besondere Art auf die Akrylmalerei verlegt.

Und da treibt Hurzlmeiers hochschulfrei ausgeschüttetes und von ihm auf ureigene Art veredeltes Talent nun noch einmal auf Leinwand gepinselte, bis ins Grellbunte und Flüchtige driftende Blüten. In einer, für seine Verhältnisse vielleicht eine Idee zu simplen Verhonepipelung der Mona Lisa, zitiert Hurzlmeier – dessen Stil und Maltechnik souverän paraphrasierend und karikierend – Leonardo. In anderen Werken nimmt er lässig kurz den Delacroix samt Impressionismus oder Vincent van Gogh mit auf die Schippe oder bedient sich in der meisterhaft aufgerissenen Ansicht einer barock- bis neudeutschen Stadt aus Sicht eines, beim Kacken zeitunglesend und gemütlich auf dem Schornstein eines Hauses im Vordergrund sitzenden Schornsteinfegers, der hurzlmeierisierten Malweise des 19. Jahrhunderts; gelegentlich schaut ihm auf anderen Bildern glückhaft der großartige, nur als humoriger Genremaler be- und verkannte, Landschafter Carl Spitzweg (1808-1885) über die Schulter, auch er ein Urahn komischer Malerei.

Carl Spitzweg

Hurzlmeier erweist sich malend als Polystilist. Er bedient sich – spielend, spielerisch, gelegentlich schon mit fast taschenspielerisch anpassungsfähig leichter Hand – je nach Thema, der Technik und Ästhetik einiger Jahrhunderte und kommt, gegriffen wieder wahllos aus einer, beizeiten so langsam besorgniserregenden Fülle von Hurzlmeier-Beispielen, bei der Formulierung einer Art malerischer Allegorie der Erotik zu erstaunlichen Ergebnissen: im Schoß eines in einer Mischung aus Egon Schiele und Michelangelo wie in dessen jüngstem Gericht, nur eben über einem Bett, in der Luft schwebenden riesigen Mannes – dramatisch fleischfarben, mit offen wehendem grünen Hemd hinreißend gemalt (besonders die Füße!) – sitzt, seinen sattroten Schweif enteregiert und buschig aus dem Mannesdistrikt streckend, ein süßes kleines Eichhörnchen.

Egal, was Meister Hurzlmeier thematisiert: der ganze malerische Aufwand dient immer einzig der komischen Wirkung (und der Mordsgaudi des Künstlers beim Malen). Als Surplus sorgt er für poetische bis kunstvoll banale, in der neueren Produktion allerdings vielleicht öfter auch schon postbillige Stimmungen. So allerdings überhaupt nicht in jenem, in nachtgrauen und dunkleren Tönen gehaltenen Friedhofsblatt. Der Blick, es ist Nacht, eine Mondsichel und ein Paar Sternlein sorgen für Aura, fällt zuerst unweigerlich auf einen im Zentrum liegenden, helleren Grabstein. Er ist rechteckig groß, auf der gerundeten Oberseite das Kreuz, die Inschrift: „Hier ruht / Oberregierungsrat / Dr. Schnepf“. Erst dann fällt der Blick auf den exakt auf der Grabplatte über dem Verblichenen unter einer aufgefalteten Zeitung schlafenden Obdachlosen mit ungepflegtem Bart und zottelig lang nicht geschnittenen Haaren, die leeren Flaschen neben ihm, die Aldi-Tüte zu seinen, aus der Zeitung unten herausschauenden Schuhen verheißen nichts Gutes. Am Ende doch noch ein „politischer“ Hurzlmeier? Die Arbeit funktioniert wie ein ganz normaler Bilderwitz, sie mutet wie einer an. Sie hat auch nichts vordergründig Anklagendes. Und doch. Nicht nur die komparative Bildunterschrift „Bezahlbarerer Wohnraum“ bringt die Gedanken aufs Sozialkritische. Hurzlmeier scheint nichts dagegen zu haben. Er ist kein dummer Künstler.

Das Feuilleton klebt seinen Arbeiten gern und billig Vokabeln wie das Absurde, das Groteske oder den Surrealismus an. So hoch, scheint’s, pokert dieser mit den schönsten Anlagen Gesegnete aber gar nicht. Hurzlmeier ist gottseidank kein Dali, auch nirgends ein Max Ernst oder Renè Magritte; die hatten alle wenig bis nichts am Hut mit so etwas wie dem Komischen; Rudi Hurzlmeier seinerseits hat es faustdick in den Genen.

Auch in seiner Malerei ist es die Linie, die das Bild und die Kunst macht. Was immer dahinter steckt: Es ging in diesem Großmeister komischer Kunst verschwenderisch mit seinen, den Möglichkeiten dessen um, was dahintersteckt. Am Ende steckt freilich auch milder vielfarbiger Humor in seinen Gemälden. Aber das Komische, im bitterlustigen Kern Kritische, setzt sich in seinen besten Blättern immer wieder auch direkt durch. Ein Aquarell soweit ich aus der Reproduktion erkennen kann (auch das, technisch besonders schwer, kann er) – einfacher Bildaufbau: auf einer grün und zentral ins Bild ragenden Bergkuppe oben, umgeben von Baum und Büschchen, steht, ein Weg schlängelt sich von unten auf es hin, ein schlichtes weißes Gotteshäuschen mit Zwiebelturm vor einer bläulich an den Horizont getuschten Alpenkulisse und einem wölkchenbetupften Himmel darüber. Mit Stift überm Bild: „Kirche von hinten“. Erst jetzt sieht man das dunkle runde Fensterlöchlein oben in der sonst leeren weißen kirchlichen Hinterseite. Darunter die Zeile: „Jetzt erst recht eintreten!“ Man muss nicht gleich Surrealist sein oder sonst was – Humanist tut’s auch. Es trifft’s.

Politisch oder nicht – was er zeichnet und malt, ist durchweg ins Philosophische langend komisch, es tut vor allem um den Bauch herum extrem wohl und reicht üppig hin, sich einzureihen und ihm an seinem Ehrentag von Herzen zu danken für so schier unendlich viel Vergnügen! junge Welt, Oktober 2022

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