Staier (Interview) 2017

Andreas Staier, 1955 geboren in Göttingen, studierte Klavier und Cembalo in Hannover und Amsterdam, war in den 1980er Jahren Cembalist in Reinhard Goebels damals bahnbrechender Kapelle Musica Antiqua Köln und ist  seit 1986 eine der unbestrittenen Autoritäten und Kapazitäten der Interpretation auf alten Tasteninstrumenten wie  Cembalo und Hammerflügel.

Alte Instrumente haben Konjunktur, Herr Staier, denn historisch informiertes Musizieren dominiert das Repertoire von Gesualdo bis Gershwin. Warum sind die alten Tasteninstrumente Schlusslichter dieser Entwicklung?

Das Klavier hat sich wie kein anderes Instrument in den letzten dreihundert Jahren technisch verändert und hat viel merkbarer und drastischer als die anderen Instrumente auf die soziologischen Veränderungen des Musiklebens reagiert. Es ist mitten im Barock entstanden, also noch zu Zeiten des Absolutismus und hat dann – indem es etwa lauter werden musste, weil die Säle aus Kommerzgründen größer wurden – auf die Entwicklung des bürgerlichen Musiklebens reagiert. Am frühesten natürlich in London, weil die Gesellschaft dort entwickelter war als auf dem Kontinent. Deswegen sind auch in den späteren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die Londoner Flügel in gewisser Weise am modernsten.

Das Klavier ist allerdings eine italienische Erfindung.

Der florentinische Klavierbauer Bartolomeo Cristofori, der es um 1700 konstruierte, war eine Art Leonardo da Vinci und Daniel Düsentrieb des Klavierbaus. Hätte er nicht in Italien gelebt, wo man sich weniger für Tasteninstrumente als für den Gesang interessiert, hätte es sich gegenüber dem Cembalo bestimmt schneller durchgesetzt. Aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts kann man die Entwicklung des Klavierbaus nur noch mit der Entwicklung des Computers heute vergleichen: Ein zehn Jahre alter Rechner ist heute Alteisen oder Altplastik. So ähnlich war es mit den Klavieren um 1800. Wenn man heute auf einem Walter-Flügel von 1805, wie das viele Pianisten machen, Mozart spielt, dann benutzt man, selbst für den späten Mozart, das falsche Instrument.

Das Problem einer zu geringen Lautstärke der alten Tasteninstrumente und die sich daraus ergebende Frage der Balance zwischen solistischem Klavier und Begleitinstrumenten kannte schon Bach. Das zeigt Ihre neue Aufnahme der Cembalokonzerte, in der sie von elf Streichern und zwei Bläsern (des Freiburger Barockorchesters) begleitet werden.

Eine im Vergleich zur Konvention winzige Besetzung. Aber die Cembalokonzerte sind ja – zumindest im heutigen Verständnis – auch keine Orchestermusik; sie sind eine Art größerer Kammermusik. Im Hintergrund steht das Modell des Vivaldischen Konzertsatzes. Aber Bach hat in diesen Konzerten einfach alles sehr eng mit Kontrapunkten in den Streichern verzahnt, das Cembalo spielt selten ganz allein. Eine solche Polyphonie leidet einfach, wenn Sie sie mit einem riesigen Apparat spielen.

Zu Ihren Alleinstellungsmerkmalen gehört ein ausgeprägter Eigensinn sowohl, was die Instrumente angeht, auf denen Sie spielen, als auch das Repertoire, das Sie spielen. So etwas ist selten heute.

Der Anpassungsdruck ist so groß geworden, dass es für junge Musiker viel schwieriger ist, eine Karriere zu starten, als zu meiner Zeit. Einige greifen da zu außermusikalischen Dingen, zu so sexy Stories im Hintergrund als Markenzeichen, in der Hoffnung, dass es damit vielleicht einmal klappt. Als ich anfing Konzerte zu spielen, gab es viel mehr Konzertveranstaltungen auch in der Provinz, wo man mal was ausprobieren konnte. Auch da hat ein Konzentrationsprozess stattgefunden. Das Publikum fährt lieber in die Großstadt, anstatt auch mal bei sich in der Kleinstadt ins Konzert zu gehen. Der wachsende Starkult drängt. Auch kann man sich im Internet alles Mögliche downloaden. Das führt zu einer Ausdünnung der Chancen für junge Leute, die noch keine Karriere gemacht haben. Unter meinen Schülern gibt es viele wirklich Begabte, die einfach nichts zu tun kriegen, die meines Erachtens aber viel besser spielen als einige der bekannten Namen (die ich Ihnen jetzt natürlich nicht nennen werde).

Eine aktuelle, vom Klassikmagazin Concerti in Auftrag gegebene Studie erweckt mit einer Untersuchung der heutigen Publikumsstruktur den Eindruck, es stünde um die Klassik viel besser, als es den Anschein hat. Darf man da zweifeln?

Klassische Musik ist heute fraglos randständiger, als vor zehn oder zwanzig Jahren. Sie bleibt ein kultureller Schatz. Wollte man den am Leben erhalten, müsste man bei den Kindern anfangen. Was aber wird beispielsweise bei der Pisa-Studie gemessen? Nur jene Fächer, von denen man meint, sie bringen Leute in gute Jobs und heben das Bruttosozialprodukt. Nichts dagegen. Aber die persönlichkeitsbildende Funktion der Kunst gerät dabei aus dem Blick. Die ist nicht quantifizierbar, macht aber Menschen menschlicher. Jeder hat so seine Antennen. Wenn die nun aber überhaupt nicht mehr gekitzelt werden, verkümmern sie. Es finden immer wieder Leute aus allen sozialen Schichten zur Musik. Aber nicht jeder ist so wach und hat das Glück, in so einem Moment, wo er oder sie gerade besonders aufnahmefähig ist, so ein Musikerlebnis serviert zu bekommen. Solche Studien liefern ganz interessante Zahlen. Aus ihnen folgt aber nicht, was zu tun ist. Man muss bei den Kindern anfangen, muss in der Breite Möglichkeiten öffnen.

Steht sich die Klassik nicht oft selbst im Weg mit ihrem Reinheitsgebot, ihrem Argwohn gegen die Popularität (für Theodor W. Adorno etwa waren schon Tschaikowsky und Verdi kaum mehr als bessere Schlagerkomponisten)? Von Luigi Boccherini zum Beispiel kennt alle Welt einzig – und das wahrscheinlich auch nur dank des Films „Ladykillers“ – sein berühmtes Menuett.

Und Boccherini hat viel mehr geschrieben, ein wunderbares Beispiel. Er ist leicht verständlich, im besten Sinn unterhaltsam – und zugleich wirklich große Musik. Aber so etwas kann man schwer verallgemeinern. Warum nur ist Bach so populär? Für mich ist er einer der am schwersten verständlichen Komponisten. Die Brandenburgischen Konzerte etwa, sie gehören zu seinen Hits, sind eigentlich total komplex und kompliziert. Und wenn wir jetzt an die „Kunst der Fuge“ denken: Warum um alles in der Welt ist ein Komponist, der den Hörern so dröge Brocken zumutet, derart beliebt?

Bachs „Goldberg Variationen“ sind ein Stück für Hardcore-Kenner. Die Art, wie der Pianist Glenn Gould das Werk trotzdem zum weltweiten longtime Klassik-Seller gemacht hat, ist darüber hinaus fast noch seltsamer?

Aber sehr durchdacht; wie man zum Ergebnis steht, ist vielleicht zweitrangig. Wie gut er spielen konnte, hört man eigentlich am besten bei Repertoire, für das er gar nicht so bekannt war, zum Beispiel bei den „Eroica Variationen“. Er hat ja immer betont, dass er Beethoven doof findet. Aber dann hat er das mal gespielt, mehr oder weniger vom Blatt. Und da merken Sie, dass er, egal, wie versponnen er dann in späteren Jahren wurde, einer der großen Pianisten des Jahrhunderts war. Das hören Sie auch in den Goldberg Variationen. Auch ich finde seine Aufnahme ziemlich verstiegen, und ich stimme mit seinen künstlerischen Entscheidungen nur selten überein.

Es war eine Art frühes Regietheater in der klassischen Musik.

Aber was er macht, ist nie einfach schlecht. Es ist auf eine bestimmte, hermetische Weise wie eine Pflanze, die ohne Sauerstoff gewachsen ist. Und auch das ist in den „Goldberg Variationen“ angelegt. Ich weiß nicht, wer gesagt hat, jedes Werk enthält mehr, als irgendeine Interpretation je wird darstellen können. Das gilt nicht nur für die Spitzenwerke der Musik, es gilt auch für mittelmäßige, einfache Stücke. Man kann sich entscheiden, etwas heute mal so zu spielen und morgen anders. Man bekommt sowieso nie den Reichtum selbst eines einfachen Stückes in eine einzige Interpretation hinein. Und dann erst die Goldberg Variationen! Selbst an Stellen, über die ich mich geradezu ärgere, spüre ich bei Gould, dass da jemand über jede Note nachgedacht, ja jede Note empfunden hat. Wobei Gould zu Ergebnissen kommt, die ich teilweise abstrus finde. Aber nie uninteressant.

Sie haben die Goldberg Variationen vor Kurzem auf einem Cembalo eingespielt. Kann man das Stück auf einem modernen Flügel überhaupt adäquat darstellen?

Wenn ich ein Bachwerk aussuchen müsste, das ich für klavieruntauglich halte – obwohl es sicherlich auch sehr schöne Aufnahmen gibt -, dann sind es die Goldberg Variationen.

Wegen der eher beschränkten klanglichen Möglichkeiten des modernen Klaviers?

Vor allem wegen der Abwesenheit eines zweiten Manuals. Alle diese gekreuzten Passagen, wo die Hände ineinander gehen, das kriegt man auf dem modernen Flügel zwar irgendwie hin. Aber man kann die Stimmen ja nicht abtönen, man kann nur die eine lauter, die andere leiser spielen. Bach treibt ein so geistreiches Spiel mit dem, was oben und unten ist, was rechts und links (rechts sind die hohen Töne, links die tiefen, jW) und damit, wie weit man überhaupt über Kreuz spielen kann – dass, wenn man nur ein Manual hat, eine ganz wesentliche Ebene der Struktur und der spielerischen und sozusagen humoristischen Momente verloren geht. Man könnte übrigens ohne weiteres ein modernes Klavier mit zwei Manualen bauen.

Mit den Noten haben sie als Interpret Anhaltspunkte für Tonhöhen und Tonlängen. Bindungsbögen und Punkte oder Keile über den Notenköpfen sagen Ihnen, ob mehrere Töne in einem Zug oder mit kurzen Unterbrechungen gespielt werden sollen. Es gibt Pausenzeichen. Mit der Zeit schrieben die Komponisten auch noch immer genauere Anweisungen zur Dynamik in die Noten. Alles andere bleibt Ihnen als Interpret überlassen. Wie gehen Sie mit dieser Freiheit, die ja auch eine große Ungewissheit ist, um?

Es gibt einen unbeschränkten Reichtum an Möglichkeiten, die wahrscheinlich, auch wenn man bestimmte Varianten ausschließen kann, irgendwo sinnvoll sind.   Um ein Beispiel zu geben: Sie lernen jetzt auf der Schule Englisch, und das funktioniert unter anderem so, dass es in der dritten Person Singular ein S hintendran gibt. Ob wir das schön finden, ist dem Englischen egal, es ist einfach so. Wenn Sie jetzt für sich persönlich beschließen, ich spreche Englisch, aber ich verzichte auf das End-S in der dritten Singular, dann wird Sie ein Engländer wohl noch verstehen…

Aber es ist falsch.

Genau wie in der Musik, die ja auch eine Sprache ist. In ihr gibt es in einer bestimmten Epoche neben einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten eine unendliche Anzahl von Unmöglichkeiten. Nachvollziehen kann man das am besten an der harmonischen Entwicklung. Die Stimmführungsregeln, die bei Palestrina im 16. Jahrhundert ganz genau kodifiziert sind – auf welcher Zählzeit etwa wird eine Dissonanz vorbereitet, wie wird sie aufgelöst und was passiert rhythmisch vorher und nachher? – diese uralten Stimmführungsregeln sind in gewisser Weise gültig bis mindestens zu Arnold Schönberg am Beginn des 20. Jahrhunderts.

Sie wurden allerdings im Lauf der Zeit erweitert, gelockert, ergänzt?

Von Domenico Scarlatti zum Beispiel. Er wurde im selben Jahr geboren wie Bach. Nahm sich aber Freiheiten, die sich Bach nie genommen hätte. So gibt es bei Scarlatti ein wonnevolles Spiel mit Quintparallelen, wir kennen so etwas aus der folkloristischen Musik. Aber es verstößt gegen die Regeln. Das heißt nicht, dass Scarlatti nicht genau gewusst hätte, was er tat. Er hat nur eben bewusst die Regeln verletzt. Trotzdem gibt es, auch in der Interpretation von Musik, Dinge, die man nicht machen darf. Der Laie denkt über die historische Aufführungspraxis: Sie kocht streng nach Rezept und also ist dies und das strikt verboten. „Ach, wie armselig“, sagen dazu die Musiker, „dann klingt es ja alles gleich“. Es soll aber nicht gleich klingen. Frei ausdrücken kann sich in einer Sprache allerdings nur, wer sie möglichst fehlerfrei beherrscht. Erst wenn man sich an die Regeln hält, geht die Tür auf.

Gibt es übers Musikalische hinaus noch andere Gründe, bestimmte Dinge interpretatorisch nicht tun zu dürfen? Nehmen wir das Beispiel Beethoven. Er las Kant, begrüßte die Französische Revolution, verehrte den revolutionären Napoleon, seine Musik ist in weiten Teilen alles andere als affirmativ. Genügt, um ihm gerecht zu werden, die gründliche Versenkung in die Noten oder muss man sich dafür auch ums geschichtliche Umfeld kümmern?

Das ist auf jeden Fall nicht verkehrt.

Nun hat aber beispielsweise der Dirigent Herbert von Karajan die „Eroica“ mit ihren vielen Zitaten aus Musiken der Französischen Revolution zum Soundtrack von CDU-Staatsakten gemacht.

Sie hat sicher irgendwo auch etwas Staatstragendes. Aber nicht nur. Es ist vor der „Eroica“ nie eine Sinfonie komponiert worden, die so bewusst eine breite Öffentlichkeit im Blick hatte als Zielpublikum im Sinne von „Hoffentlich wird das Stück möglichst bekannt“. Da wird mit tausend Stimmen das große Genre Öffentlichkeit beschworen, die Massen, das Kollektiv. Die kollektiven Mittel, mit denen das geschieht, sind ohne die Französische Revolution undenkbar.

Darum könnte man sich fragen, welche Art von Staat die „Eroica“ tragen sollte?

Es ist trotzdem unendlich schwierig, das, was man bei Beethoven so deutlich hört – die „Eroica“ ist ein gutes Beispiel – auf die einzelne Note festzumachen, indem man etwa sagt: Dieses B bedeutet jetzt Revolution. Musik entzieht sich dem Wort, obgleich manche Komponisten gleichzeitig auch in der Instrumentalmusik so nah am Wort sind. Aber wie man das übereinander bringt, bleibt ein Rätsel. Man könnte nie sagen, jetzt lies mal ein Buch über die Französische Revolution und dann spielst Du besser Beethoven. Aber es könnte passieren, dass bestimmte Sensoren dadurch geschärft werden und man indirekt dann doch besser Beethoven spielt. Könnte sein. Muss aber nicht.

Ein pazifistisch fühlender Musiker wird das abschließende Dona nobis pacem der Missa solemnis von Beethoven anders spielen als ein kriegerisch gesonnener.

Klar. Aber es ist ja nicht nur die Französische Revolution bei ihm. Beethoven ist auch ein Zertrümmerer von Konventionen. Der Akt des mutwilligen Zertrümmerns steckt schon in seinen Jugendwerken. In gewissem Sinn bleiben die eigentlich lange Zeit konventioneller als Haydn und Mozart. Aber diesen ungeduldigen rhythmischen Impetus, den es nur bei Beethoven gibt, den hat er schon als Säugling, da bin ich mir sicher. Wie der gegen seine Wiege gehämmert haben muss! Das ist Temperamentssache, das musste er sich nicht erarbeiten, er hätte gar nicht anders gekonnt. Was Beethoven an Rhythmen hinzu erfindet, die es eigentlich vor ihm noch gar nicht gab, mit einer Widerborstigkeit, mit Synkopen und einer Vorliebe für Übergänge, die übers Knie gebrochen sind und sich eben nicht allmählich entwickeln und rund sind, sondern wo irgendwo noch die Fasern aus der Holzlatte herausstehen, dass man sie sich in die Finger jagt. Vielleicht ist es das, was ihn so anfällig gemacht hat für die Französische Revolution. Das Gegen-den- Strich-Bürsten war eine seiner wunderbarsten Eigenschaften. Ein Werk wie die Diabelli-Variationen…

Die Sie vor kurzem auf Ihrem Hammerflügel aufgenommen haben.

…finde ich umwerfend. Wie er da dieses arme Thema sarkastisch quält bis nichts mehr übrig ist außer nur noch Tonwiederholungen. Aber ich habe ganz vergessen: Für welche Zeitung ist das hier jetzt eigentlich noch?

Für die Junge Welt, eine laut Verfassungsschutz ausgemacht linksradikale Publikation.

In Ordnung, machen wir das.

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