Bella Ciao.Mittwochs in der Einkaufszone.

Es gibt so Tage. Mittwoch. Alles ganz normal. Regenwetter, windig und kalt, ein trüber Tag auch in der Seele. Die unter größeren Bahnhöfen angesagte Shopping Mall ist überlaufen wie immer. Die Leute kommen von den Zügen, strömen zu den Zügen, sie eilen von A nach B. Reklame baggert von allen Seiten. Auf der Treppe nach oben prickelt es plötzlich wieder im Gesicht. Ich höre Musik. Ein fernes Akkordeon. Oben angekommen, blicke ich in die breite Öffnung der Fußgängerzone. Auch hier, von Bussen unterbrochen, strömt es hin und her. Niemand bleibt stehen bei dem Mann mit dem Akkordeon.

Aber was spielt er! Ich kenne das Lied, ich habe es Ewigkeiten nicht gehört. Er spielt es schnell, schwungvoll, nicht wie ein Lied der Trauer, mehr wie einen Tanz. Ich nähere mich. Er sieht orientalisch aus, auf seinem Kopf eine schwarze Pudelmütze, Bart und Haare von feinem Weiß durchwirkten Schwarz, eine warme Jacke. Er lacht. Dieses Lied an solch einem Tag unter solchen Menschen! Ich zücke das Portemonnaie, ich fingere einen Euro heraus und werfe ihn im Bogen zu den anderen Münzen in die Akkordeontasche, ich schaue ihn an und rufe begeistert und für die geschäftige Menge ringsum wohl ein wenig zu laut: Bella ciao! Er lacht. Ich gehe weiter. Ich höre hinter mir, mit immer neuen Verzierungen und Überleitungen, immer wieder einmündend in denselben, das Herz erwärmenden Refrain: Bella Ciao!

In »Bella Ciao« betrauern die Antifaschisten ihre Heldinnen und Helden, sie beschwören in ihnen zugleich den Kampf per la libertá – wie die italienischen Partisanen sangen – , für die Freiheit von Ausbeutung und Unterdrückung; in diesem Kampf wirkt das Ethos der Märtyrer auf die Lebenden zurück. Es nimmt mich mit. Ich putze mir die Nase. Verschämt entferne ich mich ein Stück. Es ist alles viel zu rührselig. Er spielt das Lied immer fort. Und miteins geht mitten in dieser angsterfüllten Welt wertebasierten Raubs in mir ein anderer Himmel auf. Es ist mir egal, was die Leute denken. Warum soll ein fast alter Mann in irgendeiner Einkaufszone aus irgendeinem persönlichen Grund nicht in der Menge stehenbleiben und herzerschütternd weinen im Versuch, so auszusehen, als putze er sich die Nase? Der traurige Abschied dieses Lieds eines todgeweihten Freiheitskämpfers geht in mir auf in der Vorstellung einer riesigen, „Bella ciao“ singenden Menschenmenge. Ein Meer schwarzer Haare, Hüte von Kokabauern, von Reisbauern, Palästinensertücher, Tarnfarben der Frauen der YPJ, irgendwo das Schwarz der Madres de Plaza de Mayo. Fröhlich untergefasst mitten unter ihnen singt in mir das Lied, getrieben vom zärtlichen Optimismus des – woher auch immer das Instrument kommt – auf jeden Fall blockfreien Akkordeons.

Wenige Meter entfernt stochert sich ein in Lumpen gekleideter, abgemagerter Mann meines Alters vor einer Wand mit in der Sonne vergilbten, schon lang nicht mehr gültigen Veranstaltungspostern auf Krücken vorbei. Auf einem der halb abgerissenen Plakate das in der Blässe immer noch krass bunte Selbstporträt Frida Kahlos. Ich drehe mich um. Eine junge Frau kommt mir entgegen, die rechte Hand über ihren runden schönen Babybauch gelegt. Hätte ich etwas in dieser Art irgendwo als Skript abgeliefert – jeder hergelaufene Medienmensch hätte mich vollzurecht raugeschmissen.

Der Wirklichkeit aber muss man so eine Story abnehmen, sie ist mir schließlich letzten Mittwoch zugestoßen. Und meine Weigerung, mich der allgemeinen Niedergeschlagenheit anzuschließen, ist nicht aus der Luft gegriffen. Wollte man etwa eine Weltraumstation bereisen und auf die kleine Einkaufszonenwelt neben dem Bahnhof dort unten hinabschauen; wollte man zugleich die Regionen auf dem vor uns in der unverstellten Sonne liegenden Erdball einfärben nach der Lebenseinstellung der Menschen, die in ihnen leben; und würde man die Regionen der Menschen mit der Lebenseinstellung in der kleinen Einkaufszone grau einfärben, die restlichen Erdteile, deren Bewohner aufgrund sehr verschiedener Lebensumstände eine grundverschiedene Weltsicht haben, dagegen blau – strahlte ein blauer Planet zu unserem Raumstationspanzerfenster herein. Das Grau, es fände sich überwiegend in der nördlichen Hälfte, füllte kein Drittel der blauen Weltenkugel, es schmölze ohnehin ganz langsam ab.

So wie der Westen tickt, kann selbstverständlich niemand ausschließen, dass auch das Unausdenkliche geschieht, dass alles anders kommt. Aber die wahrhaft internationale Gemeinschaft (der Friedfertigen) war ökonomisch und diplomatisch nie stärker als heute. So seltsam es zurzeit vielleicht klingt: es ist der Krieg als Ultima Ratio des kapitalistischen Systems, der im Frühjahr 2023 mit dem Rücken zur Wand steht. Der Versuch, ihn zum Teufel zu jagen, lohnt bis zum letzten Atemzug. Sorry für so viel Pathos. Bella ciao.   junge Welt, April 2023

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