Über allem, was auf einmal fehlt.COVID-19.

Es ist früh. Hinter den Wolken steht die Sonne noch tief, die Fenster gegenüber dunkel in hellen Wänden. Ein menschenleerer Morgen in Hamburg. Gestern war Sonnabend und die Innenstadt fast leer. Der Nachmittag ohne BVB und die anderen; vor Tagen die Champions League ohne Zuschauer. Sogar die Trauerfeier für einen alten Freund in der nächsten Woche: verlegt auf »voraussichtlich Juni«. Auf der weitläufig warenstarrenden Etage des Bekleidungsgeschäfts, wo ich einkaufen war, ein einziger Verkäufer. Selbst in der Hafencity, wo sonst schon früh am Morgen Touristen wimmeln: wenige.

Sonst immer rappelvoll: St. Pauli Landungsbrücken

Pandemie. Das klingt fast wie weite Welt. Aber wie beim Wort Globalisierung schwingt da in der Gegenwart etwas von Weltkrieg mit, von Bedrohung. Ganz nah.

Das Wort Lebensgefahr kannte ich bisher nur von Warnschildern vor Hochspannungsmasten oder militärischen Sperrgebieten. Ich bin Teil einer Generation, die im Leben keinen einzigen auf einen Menschen abgegebenen Schuss hören musste. Jetzt aber, soll man allem glauben, was da an verwirrenden Nachrichten durch die Welt schwirrt, lauert der Tod auf jedem Handlauf in jedem Treppenhaus, in jedem U-Bahnwagen, an den Rändern jedes Bierglases in der Kneipe um die Ecke. Eigentlich überall. Denn wir wissen so gut wie nichts über das, was uns da allgegenwärtig und universell nach dem Leben trachtet. Wir wissen nur, es kann uns, zumindest die Älteren, in der nächsten Woche umbringen.

Aber natürlich gibt es welche, die versuchen, auch aus dieser Katastrophe Honig zu saugen. Frau Weidel von den Edelnazis etwa, stümperhaft. Und die FAZentdeckt plötzlich eine Aversion gegen die gelbe Hetzpresse. Das Bedürfnis nach differenziert ausgewogener Berichterstattung, heißt es da, wachse Corona-halber täglich, linker wie rechter Populismus hätten keine Chance mehr. Dabei wird hoffentlich Corona-halber gerade die von der FAZ differenziert ausgewogen befeuerte NATO-Kriegsvorbereitung gegen Russland abgesagt.

Die Volksrepublik China hat sich in erfreulich kurzer Zeit vom Coronavirus befreit und bedankt sich vor aller Welt – nur nicht in der FAZ – bei den ihr in ihrer Not hilfreichen Ländern mit großzügiger medizinischer Hilfe. Und seltsam, da entdeckt aus dem Stand eine Szene die Solidarität, die seit spätestens den Sozialverbrechen eines Gerhard Schröder die deutsche Gesellschaft entsolidarisiert und massiv mit Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Konsum-Totalitarismus spaltet.

Bei aller Tragik hat die Sache vielleicht auch ihr Gutes. Denn über allem, was auf einmal fehlt, geht den Leuten womöglich endlich auf, wie sehr der Mensch den Menschen braucht zum Leben, zum Arbeiten, für die Kultur, zum Lieben. Wie unersetzlich uns bei allem Bedürfnis nach erfülltem Fürsichsein die Gesellschaft ist und wie überaus nötig sie die kritisch-kreative Arbeit an ihr und in ihr hat. Wie großartig wäre darum, würden die Südkurven dieser Welt und mit ihnen alle, die zu ihrem Vergnügen oder zur Arbeit sonstwohin strömen, endlich begreifen: Ohne die Gesellschaft gäbe es, Ballbesitz hin oder her, nicht nur keinen Fußball, ohne sie liefe reineweg nichts auf der Welt. Da liegt es näher zu denken: Wenn sie doch erst unsere wäre! Junge Welt, März 2020

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