F.W.Bernstein.Mariä Schnee

Jetzt muss es mal raus. Seit knapp zwei Monaten, das sind über den Daumen knapp fünfzig Ausgaben der jungen Welt, ist jeden Tag auf Seite 11 oben eine Zeichnung F. W. Bernsteins zu sehen. Für uns Autoren des Feuilletons könnte das bedeuten: Weniger Platz für alle, eigentlich ärgerlich. Wenn es nicht Bernstein wäre!

Jeden Tag freue ich mich auf den – es handelt sich schließlich ausnahmslos um Welterstdrucke – neuen Bernstein. Wahllos herausgegriffen aus meiner Erinnerung: das lässig hingeworfene Porträt einer Kartoffel, köstlich gestrichelt, gekringelt, getroffen, da lacht uns „letzthinnig“ nichts anderes entgegen als das verknollte Humanum selbst. Oder der alte Sack (Bernstein liebte das Spiel mit Bildtiteln), die Plastiktüte mit dem Müll in der Küche, nebensächlicher geht’s nicht, was für eine Zeichnung!

Und nun heute dies. Eine Skizze des Kirchleins Mariä Schnee. Ich hatte das unschätzbare Privileg, jenes kleine Gebäude inmitten der nicht eben unscheinbaren Landschaft nahe des Städtchens Amberg in der Oberpfalz fußläufig zu besuchen. Der große Meister selbst führte mich hin. Nicht der des Zeichenstifts und des gereimten Verses, ihm bin ich als Zeichnerkollege, obwohl ich ihm öfter begegnete, leider persönlich nie nähergekommen (weil ich manchmal, es nimmt mit dem Alter ab, leider relativ bescheuert sein kann), nein, sein Herzensfreund Eckhard Henscheid, der große Meister einer sich selbst erzählenden Sprache. Ich weiß bis heute nicht, wer von den beiden den jeweils anderen mit immer dem gleichen Recht mehr bewunderte und in den Himmel hob.

Die Sprachkunst Eckhard Henscheids ist, insoweit sie nichts abbildet, sondern, was sie auch beschreibt, ganz in der Sprache bleibt, in eine Zeichnung nicht übersetzbar. Wer, wenn nicht Freund Fritz Weigle alias F. W. Bernstein hat das am besten gewusst. Sein Konterfei eines oberpfälzischen Kapellchens bedient sich – ein Moment der Moderne, so, wie Henscheid sich in seinem Roman hier und da gewisser Erinnerungen an Eichendorff, Stifter et al. bedient – der Parodie bürgerlicher Idyllen des 19. Jahrhunderts. Er kritzelt locker vergnügt wie ein Wilhelm Busch auf den Spuren Ludwig Richters, Karl Spitzwegs, Ergebnis: ein kunstvoll verwackelter und radikal humorig reduzierter, auf den souverän gehandhabten Strich geschickter Realismus im Gedanken an ein noch hoffungsvolles Bürgertum, das auch Henscheid in seiner Idylle von fern am Herzen gelegen sein mag.

Unterm Strich an jedem Tag ein Augengroßvergnügen. Zu danken der in ihrer Bescheidenheit unbeirrbaren Größe Bernsteins, der liebenden Großzügigkeit seiner Witwe und dem Brechts Zöllner aus der Legende von der Entstehung des Buches Taoteking nachstrebenden jW-Redakteur. Wir alle, wenn‘s erlaubt ist, danken. Junge Welt, Februar 2020

Print-Texte