Die Akustik der Elbphilharmonie ist an Fachwelt-Stammtischen immer mal wieder Gegenstand von Grummelei. Was man darüber bislang genauer erfahren konnte, sagt allerdings, finde ich, über die Kritiker mehr als über den Saal. Der Klang ist eher „trocken“, stimmt. Damit gehen Orchester und ihre Dirigenten indes höchst unterschiedlich um.
Dass es am vergangenen Samstag beim ersten Erscheinen Kirill Garrijewitsch Petrenkos und des Bayrischen Staatsorchesters in der Elbphilharmonie zwei extrem unterschiedliche Konzerthälften zu erleben gab, kann man dem Saal nicht anlasten. Denn vor und nach der Pause erklangen Werke derselben Periode, instrumental vergleichbar ausgerüstet und musikalisch gedeutet vom selben neuen Helden der Klassikwelt, einem aus den Weiten Sibiriens auf dem Umweg über Weimar, Berlin, München ab 2019 bis ans Chefdirigentenpult der Berliner Philharmoniker vorgedrungenen Ausnahmemusiker.
Nun ist Brahms’ Doppelkonzert ein seltsamer Spätling der barocken Gattung Sinfonia Concertante. Zwei Solisten teilen sich die Aufmerksamkeit mit dem Orchester. Das Werk ist sperrig, überall bis in letzte Winkel der Partitur perfekt zu Ende gedacht und geformt. Der Beginn mit dem kurzen, den ganzen Satz prägenden Motto des Orchesters aus punktierten und triolischen Noten, gefolgt von zwei groß auftrumpfenden Kadenzen der Solisten – ein Coup. Eingefügt in einen gedanklich derart dicht ausgestatteten Orchestersatz, von Petrenkos Riesenorchester (sieben Kontrabässe) obendrein vom Volumen her massiv in die Defensive gedrängt, bleibt den Solisten vielleicht kaum eine andere Wahl als die Flucht in den Maximalismus. Der scheint allerdings ohnehin ein Credo der Geigerin Julia Fischer und des Cellisten Daniel Müller-Schott zu sein. Sie neigen zum Herzeigen, zu Dauer-Fortissimo und Vibratissimo. Jede Note sitzt, der Springbogen springt, der Kopf nickt beim Spielen, der Oberkörper biegt sich an bedeutenden Stellen weit zurück, alles, auch der Dämmer, ist in jedem Moment großartig ausgeleuchtet. Frau Fischer, informiert das Programmheft, gehöre zu den „führenden Geigerinnen unserer Zeit“. Das mag stimmen. Aber wo, möchte man, einen beliebten Scherz Brechts abwandelnd, fragen, führt sie uns hin? Ich habe Musik gesehen, so ähnlich scherzte Mozart, gehört habe ich nichts (und es lag nicht am Saal).
In Tschaikowskys Manfred-Sinfonie nach der Pause darf sich der Klangkörper dann der ungeteilten Obacht des Publikums freuen. Vom gespenstisch oboenfahlen Klang der Fagotte am Beginn an entfaltet sich da ein Hörvergnügen, das der “analytisch” so frucht- wie endlosen Rückführungen jeden Takts auf das Programm dieser Musik, Byrons romantisch-tragisches Manfred-Gedicht, weder für’s „Verständnis“, noch für die Wirkung in irgend einem Belang überhaupt bedarf.
Petrenko dirigiert beseelt und penibel, mitreißend und deutlich; es wirkt, als entstünde die Musik im Moment aus seinen Bewegungen.
Es ist hörbar Berlioz’ innovative Instrumentation, die Tschaikowsky inspiriert hat; der einzige Bereich, in dem Beethoven seinen Nachfolgern wirklich Raum ließ für eigene Erfindungen. Auf der großen Bühne der Elbphilharmonie war denn auch alles versammelt, was es im spätromantischen Orchester so gibt, zwei Harfen, drei Flöten, drei Fagotte, Posaunen, Harmonium, Triangel, Tuba, eine breite Phalanx an Schlagzeug, an die achtzig Streicher (die auf den Punkt pianissimo spielen konnten). In allen Farben und Valeurs wogt und glitzert es da. Leidenschaft und Witz, Zerknirschung und „russische Seele“ schlagen ans Ohr. Eine im Unterschied zu Brahms hoch erotische, ja delikat neurotische Musik. Petrenko hat so etwas, selten genug, so gut im Blut wie etwa auch einen schlanken, impulsiv konturierten Mozart. Er ist neben Teodor Currentzis der zweite zukunftsweisende Orchesterleiter der Gegenwart, den die Klassik der russischen Musikkultur zu verdanken hat.
Allein schon dafür, dass solche Leute sich seit November 2016 in Hamburg die Klinke in die Hand geben, müsste man der Elbphilharmonie eine Kerze anzünden. Junge Welt, April 2018