Fünf Monate vor seinem Tod schrieb Mozart seiner Frau einen seltsamen Brief. Von einer „gewissen Leere“ liest man da, „die mir halt wehe tut, ein gewisses Sehnen, welches nie befriedigt wird, folglich nie aufhört“. Auf die Frage, die Redakteur Jan Brachmann in der FAZ vom 21. Mai sich und seiner Mitwelt am Ende langer Spekulationen zu diesem Brief stellt, muss man allerdings erst mal kommen: Ob es sich dabei vielleicht um „das Symptom einer privaten Krise handelt?“
Es geht nicht um Brachmann, mehr um die Art Sparkassendirektorbildung, die sich da in den deutschen Qualitätsfeuilletons breit macht. Wer zum Exempel in diesen Kreisen Mozart erwähnt, muss pfeilschnell erkennen lassen, dass ihm die Wiener Klassik vertraut ist. Brachmann geht weiter. Er charakterisiert die Wiener Klassik. Nach Brachmann ist sie „ausgewogene Proportionsästhetik“. Wow. Drei Bestandteile. „Ausgewogen“ ist in der freiheitlich westlichen Demokratie allemal ein Renner. Zum Zweiten hat ein Kunstwerk von Rang, wenn es überhaupt etwas hat, „Proportionen“. Und mit „Ästhetik“ liegt man drittens nie daneben. Was also ward hier speziell über die Wiener Klassik gesagt?
Besagter Mozartbrief ist Gegenstand und Ausgangspunkt einer Frage, die man sich vom 24. Mai bis zum 23. Juni beim Mozartfest in Würzburg stellt: Ob denn wohl Mozart „als Romantiker zu begreifen sei“ (ob er einer war, kommt vielleicht nächstes Jahr dran). Wenn Brachmann das Fest-Programm beklaubt, erfährt man Interessantes. 1783 etwa „muss Mozart eine erregende harmonische Entdeckung gemacht haben: die der chromatischen Terzverwandtschaft nämlich. Sie besagt…“ und so weiter. Mozarts Erfindung erweist sich nach Brachmann als „grundstürzend für die Harmonik seiner Zeit“, sie wächst und wächst in Brachmanns Herz. Dann geht die Entdeckerfreude zunächst sehr schön mit ihm durch, um am Ende leider die Vor-Einsicht mit dem Sinn-Erlebnis wandernder Überraschungen zu transzendieren oder umgekehrt. „Es sind aber harmonische Pointen, die dem romantischen Landschaftsempfinden des Englischen Parks entsprechen, der mit Sichtachsen Verbindungen zwischen Weitentferntem herstellt – und zwar so, dass der Wandernde es nicht vorhersagen kann. Die Überraschung eines Sinn-Erlebens ist seiner Vor-Einsicht entzogen, transzendiert dessen Rationalität“.
Er hat’s mit der Ratio. Sie bedient sich der Empirie. Die mögen die Marktradikalen schon aus im Moment vor allem klimatologischen Gründen nicht (die modernen Helden der Empirie heißen mit Vornamen Greta, Rezo, Julian, Edward, Chelsey). Die Empirie muss überwunden werden. Brachmann regelt das für die Musik. So wird in der FAZ die grundstürzende Harmonik Mozarts zu einem von der Ratio nicht mehr wahrnehmbaren „Subjekt, das auf der rhetorischen Ebene der Figuren und Gesten nicht mehr zu fassen ist, ihr gewissermaßen vorausliegt, deren Begrenzung nicht angehört“.
Entgrenzung, Unendlichkeit – Lieblingsbegriffe wertewestlicher Lebensphilosophie. Die Endlichkeit ist ihnen zu empirisch. Brachmann entgrenzt sprachlich unfazbar elegant. Seine Stichwortgeber sind Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder: „Sie hörten Mozart durch und durch romantisch: als Ahnung des Unendlichen, als Resonanzraum ihrer Sehnsucht, einer Welt von sprachlich fassbaren Endlichkeiten zu entkommen.“
Zugegeben, er kann mit Programmtexten umgehen. So bekommt er am Ende, es geht immer noch um Mozart und die Romantik, mit Hilfe wieder eines Fremdtextes halbwegs die Kurve. Es leuchtet für Sekunden etwas wie Dialektik auf. Mit einer kleinen Einschränkung: „Die sinnliche Erfahrung von der Dringlichkeit solchen Nachdenkens ist dabei wichtiger als die klare Antwort am Ende“. Sinnlichkeit essen Ratio auf. Dann wird es dialektoid: „Gustav H. H. Falke hat in seinem dichten, klaren Buch ‚Mozart oder Über das Schöne’ vor anderthalb Jahrzehnten schon herausgearbeitet, wie ein klassisches, auf Maß und Balance zielendes Schönheitsideal und ein romantisches, das sich auf die Authentizität des Erlebens beruft und dabei das Scheitern im Maßhalten eingestehen kann, gleichzeitig existieren“.
Wenn er die Intendantin des Würzburger Mozartfests, Evelyn Meining, dafür lobt, dass sie ihr „Programm ganz aus der Konzentration auf dessen“ – Mozarts – „Werk gewinnt und vor der Auseinandersetzung damit nicht ins freie Assoziieren davonlaufen muss“, ist Brachmann dann wieder ganz bei sich als beim frei vor der Evidenz davon laufenden Feuilletonisten. Assoziieren war schon immer seine Stärke. Das Zusammendenken dynamischer Widersprüche weniger. Hauptsache keine klare Antwort am Ende. Junge Welt, Juni 2019
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