Roll back Currentzis?

Ein Unbekannter etabliert sich als Medienstar. Kulturszenen-Alltag. Aber kaum hat sich der größte Rummel gelegt und man freut sich auf Neues vom nicht mehr ganz so neuen Neuling – blasen Miesmacher zum Rollback. Im Fall des Dirigenten Theodor Currentzis lohnt sich ein Blick auf Details.
Der Enthusiasmus über den so erfolgreichen Exzentriker am Pult ist gut verteilt. Auf der Rechten, so bei „Welt“, „Spiegel“ oder „Zeit“, nennen sie ihn begeistert einen „Rebellen“. Den Rausch an musikalischem Leben, den Currentzis erzeugt, wenn er Rameau, Tschaikowski oder Xenakis dirigiert, genießen sie so gern wie jene, denen Rebellen ebenfalls sympathisch, Revolutionäre aber noch lieber sind. Soweit ich feststellen kann, ist die Begeisterung auf der Linken einhellig. Auf der Rechten dagegen regt sich neben Begeisterung auch Protest.
So erschien kürzlich in der FAZ unter der gezielt denunziatorischen Überschrift „Wir Terroristen haben wenigstens Mumm“ ein feuilletonistisches Selbstmordattentat auf Currentzis. Der Autor Jan Brachmann, ein Mensch mit korrekt rasiertem Ziegenbart über sauber gebundenem Schlips, ist ein Vertreter der Wüstenrot-Ästhetik im FAZ-Feuilleton. Vorgeblich ging es um Currentzis’ Neuaufnahme von Mozarts „Don Giovanni“, tatsächlich um Currentzis selbst.
Es missfällt dem FAZ-Mann, wenn Currentzis den Paradiesvogel gibt, wenn er tanzt, statt zu dirigieren und Puscheln auf den Schuhen trägt, statt Lackschuhe zum schwarzen Frack. Brachmann ist das alles zu schrill, zu laut, zu beunruhigend. Aber so sagt man das nicht. Man spielt lieber den einen guten Dirigenten gegen den anderen aus und sagt: Réné Jacobs hat den „neuen“ Mozart ja längst viel besser gemacht, viel sorgfältiger, weniger spektakulär, vor allem uneitler.
Nun hat Currentzis Eitelkeit und Spaß am Exhibitionismus nicht exklusiv gepachtet. Dirigenten wie etwa der FAZ-Liebling Riccardo Muti lieben es auch, sich zu spreizen, sie machen es nur etwas altmodischer. Klappern gehört zum Geschäft. Entscheidend ist nach Helmuth Kohl, was hinten rauskommt. Und da liegt Currentzis nicht nur vorn, da ist er für nicht unwesentliche Teile der in der Tat erneuerungsbedürftigen Klassikszene Vorreiter und Inspirator. Das Sinfonieorchester des SWR zum Beispiel gilt zu recht als anspruchsvollster öffentlich-rechtlicher Klangkörper der BRD. Einem „Schwätzer“ (Brachmann über Currentzis) würde es sich nicht ausliefern. Ende April aber kam die Nachricht: Das Orchester wählte Currentzis zum Chefdirigenten ab 2018.
Die Gründe für so viel aggressive Ignoranz in einem ansonsten ja nicht üblen Feuilleton sind nur zu vermuten. Junge Welt sprach mit Currentzis Ende 2014 an seinem Arbeitsplatz in der Permer Oper, 1000 Kilometer östlich von Moskau, wo er seit 2011 Chef ist und mit seinem Orchester MusicAeterna eine Art Zukunftslab der Klassik betreibt. Es geht ihm um Ehrlichkeit in der klassischen Musik. Die muss nicht nur erhaben sein und groß, betont er, auch hässlich, eruptiv, verstörend. Es geht ihm um Träume, um Glück und Tod, ums Schreien und Wispern, das „Dionysische“, die Glut und Besessenheit in der Kunst, um Bach und Brahms und Chuck Berry eben. Beim Thema „Figaro, Mozart und die Revolution“, stellte sich heraus: Er hat Bakunin und Kropotkin gelesen, kennt Marx und bekundete Sympathie für die spanische Anarcho-Gewerkschaft CNT. FAZ-Leute interessiert so etwas nicht, sie haben keine Ahnung davon. Aber eine Nase für so etwas, die haben sie. Und sie reagieren.
Vor etwa dreißig Jahren ging mit dem Tod des Nazi-Dirigenten Herbert von Karajan eine Klassik-Ära zu Ende. Der dienten noch die musikalischen Tiefenstrukturen zur Optimierung eines maximal imponierenden Oberflächeneindrucks. Dass dagegen heute ein Künstler wie Teodor Currentzis die Maßstäbe setzt und bedeutsame Inhalte mitreißend, erotisch und geistreich in Musik verwandelt, könnte Klassikfreunde, die etwas für Bakunin, Kropotkin, Marx übrig haben, durchaus hoffnungsfroh stimmen. Junge Welt, Januar 2013

Brachmann 2019

Kesting verzweifelt am Don Giovanni (2021)

Brachmann 2017

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