Noch drei Jahre, dann sind es siebzig Jahre her, dass, damals sensationell, die Goldbergvariationen aus der ehrwürdigen Nische von Wissenschaft und Bildungsbürgertum auferstanden und erstaunliche Teile einer etwas größeren Welt eroberten, als es die der klassischen Musik ist. Ein seltsam charmanter Musikkauz, Glenn Gould, hatte mit dem Stück die Charts des kapitalistischen „goldenen Zeitalters“ erobert. Er erregte sogar die Bewunderung des systemischen Grantlers und Schwarzmalers der Republik Österreich, Thomas Bernhard. Der schrieb einen ganzen, etwas dünneren Roman über den kanadischen Pianisten mit den ewig kalten Händen.
Gould nahm mit seinem Bach-Hit damals Teile der Klassik-Zukunft vorweg: Er entrümpelte und erleichterte den klassischen Musikvortrag von der angstgetriebenen Schwergefühligkeit wahlweise von der klanglich-orchestralen Hochrüstung eines bürgerlichen Jahrhunderts. Ohne von der Idee wohl schon eine Ahnung gehabt zu haben, wurde er damit zum Vorfeld-Aktivisten der dann, ungefähr mit der Studentenbewegung 1968, aus der Versenkung auftauchenden, kritisch leidenschaftlichen historisierenden Aufführungspraxis. Gehört von heute aus, könnte das mit einer Skepsis gegenüber allem Nichtrationalen zusammenhängen. Denn Gould fing, möglicherweise unbewusst antizipierend, in seinen Goldberg Variationen den kalten Zauber, den trockenen Esprit des digitalen Maschinenzeitalters ein.
Bach erscheint vielen natürlich nicht nur schwer zu hören. Ganze Generationen von Tastenkünstlern wissen, wie schwer nun gerade dieses Werk auch zu spielen ist. Besonders gilt das für die musikalisch wie historisch unmittelbar Betroffenen, die Cembalisten; das Werk ist für die Grenzen und Möglichkeiten der Klangwelt und Mechanik ihres Instruments komponiert.
Hinter der Mehrzahl der dreißig Variationen steht „a 1 Clav.“ Hinter vielen auch „a 2 Clav.“ – Bach macht damit darauf aufmerksam, dass letztere auf den zwei übereinander liegenden Manualen entsprechender zeitgenössischer Cembali gespielt werden müssen. Die Stellen, an denen die Spieler, wie Bach es vorsieht, auf einem zweimanualigen Cembalo mit jeweils der einen Hand über die andere greifen wie etwa in der 14. Variation, um die polyphonen Strudel der Musik adäquat darzustellen, seien eine „sehr eingerissene Hexerey“, befand Bachs Zweitältester, Carl Philipp Emanuel, ein exzellenter Clavierist (und Komponist).
Selbst in der neuen Aufnahme mit dem eingerissenen Klavier-Hexer Lang Lang hört, wer es genau nimmt, dass der überaus virtuose Chinese den Bass der fünften Variation – eine zweimanualige Hommage an Scarlatti – nicht nur so stark betont, weil ein starker Bass in den Goldberg Variationen generell Sinn macht: es scheint, als wolle er damit zugleich die Deutlichkeit bemänteln, mit der auch er die rasenden Sechszehntelläufe der Oberstimme nicht angemessen präzisgehext hinbekommt.
Von den drei Grundmustern der Variationen – Bravour, Charakter, Stilisierung –, mit denen Bach arbeitet, bedient Lang Lang, wen wundert‘s, den virtuosen Typ am überzeugendsten. Auch in der nächsten, der sechsten Variation, einem der von Bach für alle durch Drei teilbaren Variationen-Nummern vorgesehenen Kanons, spielt Lang Lang seine Stärke sowie den Vorteil seines modernen Instruments aus: er setzt die dem Cembalo unmögliche Dynamik des modernen Konzertflügels ein, er spielt laut und leise, er be-tont. Auf dem Video der Aufnahme sieht man, wie seine Fußspitzen das Pedal, wenn denn, meist nur eben berühren. So kehrt er, wo es die Musik plastisch und interessant macht, per Lautstärke und Tastendruck die Basslinie hervor. Denn nicht die melodische Linie der Arie wird in den Goldberg Variationen durchgehend variiert, sondern fast gänzlich die des Basses. Der Bass begleitet nicht mehr nur wie in den damals alten Zeiten – er geht auf Ohrenhöhe mit den anderen Stimmen, er spielt eine Rolle.
Durch die pointiert unterschiedlichen Tonstärken legt Lang Lang gleich die erste Variation darauf an, der Sache einen munter jazzigen Swing zu geben. Das funktioniert umso besser, als das moderne Klavier ohne Pedal auf einen in allen Lagen immer gleichen, opak die Linie betonenden Klang festgelegt ist. Auch das nutzt der Chinese vorteilhaft, indem er an den entsprechenden Stellen hören lässt, wie zwei Stimmen für einige Takte, einige Male sogar hörbar in Terzen, harmonisch zusammengehen. Er weiß, wie Wirkung geht, wer mag ihm die Nutzung solchen Wissens verdenken. Es ist ohnehin nicht verboten, Bach munter, jazzig oder sonst wie wirkungsvoll zu spielen, wenn der Spieler innerhalb bachschen Denkens und der Relationen seiner Zeit bleibt. Dass der, einem extrem fernen Kulturkreis angehörende Pianist aus Shenyang mit allem, was er mit Bach anstellt, bei Unvertrauten für Bach wirbt, kann als ausgemacht gelten und ihm gutgeschrieben werden. Die Frage, wie er als Chinese auf dem modernen Flügel den bachschen Kontrapunkt phasenweise derart stimmig und anregend zum Leben erweckt, beantwortete sich bei einem Telefonat mit Andreas Staier. Der Kölner Cembalist und Hammerflügelspieler hat sich auf dessen Anfrage dreimal mit Lang Lang getroffen. Staier war angetan. Der fernöstliche Weltstar erwies sich als arbeitsbereit hellhörig. „Unterm Strich ist das natürlich eine Art musikalischer Tourismus“, so Staier über Lang Langs Ausflug in die Welt der Goldberg Variationen – freilich, auch der Ausflug in weltferne Regionen kann erfreuliche Ergebnisse zeitigen. Das Wichtigste, so Staiers Riesenkompliment: „Er ist ein sehr guter Musiker“.
Es gibt in den Goldberg Variationen genügend Anhaltspunkte dafür, wieviel Bach an musikalischen Vergnügungen und prall volkstümlichem Spaß gelegen war – der Höhepunkt dessen in den Goldberg Variationen: das aus zwei wahren Volksliedern gemachte Quodlibet anstelle einer letzten Variation. Darüber, wie soviel Frohsinn in der Familie Bach entstehen konnte, berichtet der frühe Bach-Biograf Forkel: „Sie sangen nehmlich nun Volkslieder, theils von possierlichem, theils auch von schlüpfrigem Inhalt zugleich mit einander aus dem Stegreif so, daß zwar die verschiedenen extemporirten Stimmen eine Art von Harmonie ausmachten, die Texte aber in jeder Stimme andern Inhalts waren. Sie nannten diese Art von extemporirter Zusammenstimmung Quodlibet, und konnten nicht nur selbst recht von ganzem Herzen dabey lachen, sondern erregten auch ein eben so herzliches und unwiderstehliches Lachen bey jedem, der sie hörte.“
Lang Lang endet mit dem Quodlibet, er lässt die übliche Themen-Wiederholung in diesem Fall der Aria als der abschließenden Rundung des Zyklus weg und ist damit zumindest auf Höhe der Forschung. Denn ein Autograph der Goldberg Variationen hat sich bis heute nicht gefunden. Im Erstdruck allerdings, den Bach besaß und den er mit vielen Anstreichungen und handschriftlichen weiteren Kanons versah, findet sich die „da capo Aria“ nicht; Bach war’s keines Wortes Wert. Freilich kommt ohne die Aria am Schluss der symmetrische Aufbau des Werks nicht mehr zustande – zweimal 16 Takte (8+8) innerhalb jeder Variation, 2 mal 15 Variationen, plus vorn und hinten das Thema: macht zusammen 32 Nummern.
Andreas Staier spielt die Aria am Schluss. Es macht wenig Sinn, seine Aufnahme der Goldberg Variationen von 2010 mit den Bemühungen solcher Klaviergrößen wie Andras Schiff, Friedrich Gulda oder eben Glenn Gould zu vergleichen, die das Werk auf einem modernen Konzertflügel alle fraglos hörenswert hinbekommen haben. Allzu anders, ja einer anderen Welt zugehörig, klingt Staiers Instrument, ein zweimanualiges Cembalo aus der Werkstatt des Hamburger Cembalobauers Hieronymus Albrecht Hass (1689-1752).
Es handelt sich, sagt Staier sichtlich stolz, bei den Hass-Cembali um die „größten und an Registern reichsten, die vor dem 20. Jahrhundert überhaupt gebaut wurden“. In ihrer Klangpracht verwandeln diese Wunderwerke der Klavierbaukunst unter Staiers Fingern Bachs Polyphonie aus einer, in der Tendenz trocken rationalen Angelegenheit von Struktur und Logik in ein schillerndes, prickelndes, glitzerndes, ein opulent registerfarbig, durchsichtig fließendes und atmendes Netz feinster, verwirrend reich aufeinander reagierender Tonlinien.
Auf dem modernen Flügel bleiben die einzelnen Stimmen der Variationen bei sich, auch wenn sie miteinander in harmonischen Zusammenhängen stehen. Staier aber auf der Kopie seines alten Cembalo kann sie in Wahrung ihrer Einzelkörperlichkeit auch als Gesamtklangeindruck wirken lassen. Er ist, wie etwa im dreistimmigen Kanon der berühmten 15. Variation, in der Lage, eine Atmosphäre mittelalterlicher Würde herzustellen. In Nr. 16, der Eröffnungs-Variation der zweiten Hälfte, erklingt vielfach punktiert die mit Ausschmückungen und vielen Verzierungen kompakt repräsentative französische Ouvertüre eines Versaille kompatiblen Barockhofstaats.
Die Guten unter den Interpreten auf modernen Flügeln verlegen all ihre Kunst darauf, nicht per Pedal-Dynamik ins Hören und Deuten der Musik Bachs einzugreifen. Derlei ist Andreas Staier schon qua Instrument unmöglich. Substanz und Idee seines Vortrags sehen ohnehin vor, Bach und alle anderen so zu spielen, dass dem lauschenden Ohr – je nach Befinden, Bildung, Welterfahrung – viele Möglichkeiten hörender Auslegung offenstehen.
Die 15. Variation ist ein Wunder an kühler Melancholie. Lang Lang gerät sie wie eines von den raren Charakterstücken Mozarts in Moll fürs Soloklavier (Fantasie c KV 475; Rondo a KV 511): Die Oberstimme, verstärkt in der Eigenart des modernen Flügels, lässt, von einer Unterstimme, gefühlt akkordisch begleitet, eine Art Klagegesang hören. In Staiers Lesart legt die Unterstimme, begünstigt durch die Eigenart des Hass-Cembalo, nicht mehr nur begleitend, ein chromatisch durchtränktes, polyphones Stimmgefüge unter die Melodie. Es entstehen schräge Harmonien, fahles Licht, eine skeptische Innerlichkeit. Für die 19. Variation zieht Staier erneut das Lautenregister. Vielleicht ein klanglich festlich illuminierter, imitatorisch beweglicher Tanz vieler Liebender und Freunde? Eine der vielen Reminiszenzen ans angenehme Leben in Köthen.
Die zweistimmige Variation 13 bringt auf den Gedanken, Bach habe das Werk am Fuß endgültiger Reife komponiert. Eine Art Musik – Carl Maria von Weber hat so etwas über Mozarts „Entführung“ gesagt –, die ein Meister nur einmal im Leben schreiben kann: durchglüht sowohl von frischer Jugendkraft, von Unverdrossenheit des Einfalls, wie gleichermaßen vom wachsenden Kalkül und Ernst des gereiften Spätwerks. Ein Werk gelebter Schwelle.
Über seine Entstehungszeit weiß man bis heute wenig. Es wurde 1741 gedruckt, das war’s. Die lustige Anekdote Forkels, nach der die „Goldberg Variationen“ sich dem gestörten Schlafbedürfnis eines Herrn Grafen von Keyserlingk verdankten, dessen Musiklakei, ein gewisser Johann Gottlieb Goldberg, ein Schüler Bachs, ihm mit diesen Variationen Einschlafmusik geliefert haben soll, stimmt hinten und vorn nicht.
Aber die Nummer 13 legt die Vorstellung nahe: da klinge in Bach vollendet noch die Gefühlslage seiner Köthener Zeit (1717-1723) nach. Andreas Steier auf seiner Hass-Kopie lässt einen unbeschwerten Tag arios Revue passieren. Bach hat in Köthen keine Zeile Kirchenmusik schreiben müssen. In Werken wie den „Brandenburgischen Konzerten“, den zweimal je sechs Solowerken für die Geige und das Cello, möglicherweise auch schon in den Anfängen der Komposition der „Goldberg Variationen“, konnte er sich, auf seine unter Zeitgenossen bald schon recht altmodisch wirkende Art, ganz der Lebensfreude widmen, den Galantherien“ und „Gemüthsergetzungen“, die sich, während der alte Bach langsam vergessen war, in Europa ganz im Rokoko, in der Empfindsamkeit verwirklichten.
Instrumente wie die aus der Hand eines Hieronymus Albrecht Hass beflügeln Überlegungen. Für Menschen des 3. Jahrtausends u. Z. stellt sich mit jeder neuen eigenen Zeit die Frage nach dem Wie des Zugangs zu den immer weiter zurückliegenden Zeiten der Musikentstehung. Die zeitgenössische Komponistin Isabel Mundry stellt im Booklet der Staier-CD zum Siegeszug der alten Instrumente fest: „Bach, Mozart oder Debussy differieren seither nicht mehr nur in ihren kompositorischen Konturen, sondern ebenso in der Klanglichkeit ihrer Instrumente“. Mundry zeigt sich erstaunt darüber, „wie die Interpretationsgeschichte das Verhältnis wechselseitiger Anregung zwischen Klangsprache und Instrumentenklang vorübergehend aus den Augen verlieren konnte“. Ihrem Resümee ist nichts hinzuzufügen: „Die Spanne zwischen der historischen Klangsprache und dem gegenwärtigen Hinhören wird hier zu einer ästhetisch aufgeladenen Erfahrung. Kunstvoll macht Andreas Staiers Spiel erlebbar, wie fein das Netz zwischen Hören und dem Strukturieren, aber auch zwischen Komponieren und Interpretieren gesponnen ist, gerade weil die Differenzen hier gewürdigt bleiben.“ junge Welt, April 2023
J. S. Bach: Goldbergvariationen BWV 988 – Lang Lang (Deutsche Grammophon) – Andreas Staier (Harmonia Mundi France)