Lauter spielen.Geschichte des Klaviers.

Der folgende Text ist die für junge Welt überarbeitete und ergänzte Printfassung eines im Oktober auf SWR 2 gesendeten Musikfeatures. Das Ineinander von Text und Musik macht ein Musikfeature aus, die Printausgabe einer Zeitung kann das nicht bieten. Damit Leserinnen und Leser trotzdem das Gelesene akustisch überprüfen können, gibt es in der Onlinefassung des Beitrages auf www.jungewelt.de die Möglichkeit, sich per Link jeweils den Klavierklang anzuhören, von dem im Text die Rede ist. (jW)

Kleine Messingtangenten. Die Klavierbauerin Kerstin Schwarz präludiert, während sie redet, auf einem von ihr kopierten Clavichord vom Ende des 18. Jahrhunderts. Die Tangenten sind am Ende der Taste befestigt, sagt sie, oft nur hineingesteckt; sie werden durch den Druck des Fingers aufs eine Ende der Taste am anderen Ende nach oben befördert, so dass sie gegen die Saite schnellen. Wir sitzen in ihrer Wohnung im sachsen-anhaltischen Zerbst. Kerstin Schwarz hat ihr Handwerk in der DDR gelernt. Sie ist nach dem Anschluss nach einiger Zeit in der alten BRD und dreizehn Berufsjahren in Italien in ihre Heimat zurückgekehrt. Ihr Sohn wollte nicht in Italien, sondern im Geburtsland der Mutter studieren, er wollte, erzählt sie mir, noch so viel als möglich von den Großeltern mitbekommen.

Ein Clavichord ist der Vorläufer aller per Tasten bedienten Saiteninstrumente. Für öffentliche Auftritte war es zu leise. Aber es war klein, es war leicht. Noch Mozart hat es auf Reisen und täglich für die Arbeit benutzt; die »Zauberflöte« wurde mit Hilfe eines Clavichords zu Musik. Der Klaviervirtuose Tobias Koch kennt sich mit den alten Klavieren aus. Die beiden am Ende des 18. Jahrhunderts dominierenden Klaviermechaniken – die auf Bartolomeo Cristofori zurückgehende englische und die Wiener/deutsche Prellmechanik – hoben sich vor allem durch den unterschiedlich starken Fingerdruck beim Anschlag der Tasten voneinander ab. Die leichtere Spielbarkeit der Prellmechanik hatte Folgen für den Klavierstil der Wiener Klassiker.

»Bei diesen alten Klavieren braucht man keine Schulter, keinen Arm, keinen Knöchel, kein gar nichts, es reicht – weil die Mechanik so leichtgängig ist – wirklich diese winzig kleine Berührung der Fingerspitze, der Kontakt der Fingerkuppe mit der Taste«, sagt Koch.

Cristoforis Fortschritte

Von seiner Düsseldorfer Heimat bis zu Kerstin Schwarz in Zerbst benötigt der Zug fünf Stunden. Zur Zeit der alten Klaviere vor mehr als zweihundert Jahren hätte ein nichtadeliger Habenichts wie ich für die Strecke per Postkutsche sicher drei Tage gebraucht, zu Fuß, sagt Google Maps, 87 Stunden – reine Gehzeit. Ich wäre durch Grafschaften, Kurfürsten-, Herzog- und Bistümer gekommen, hätte an acht Grenzen meinen Pass vorzeigen müssen. Ich bin auf der Suche nach der Geschichte in der Musik, ich reise als Autor in Sachen alte Tasteninstrumente. Es gibt sie, seit die Europäer in der Renaissance Appetit auf Entdeckungen bekamen. Unter den dafür notwendigen Werkzeugen optischer, nautischer, finanzökonomischer Natur fanden sich im Lauf der Zeit auch technische Neuerungen, die es ermöglichten, die neuesten musikalischen Schöpfungen der Komponisten immer besser in Klang umzuwandeln. Die Arbeit der zupfenden oder per Klöppel schlagenden Hand im Spiel uralter Saiteninstrumente wie Lyra, Zither, Harfe oder Hackbrett wurde irgendwann im 15. Jahrhundert per Tastatur mechanisiert. Es entstand das Cembalo. (Man höre dazu Domenico Scarlatti gespielt von Pierre Hantai: https://kurzlink.de/Scarlatti-Hantai)

Cembalo

Ein Fortschritt gegenüber dem Klang mittelalterlicher Saiteninstrumente. Den Klavierbauern der Renaissance aber fehlte am neuen Instrument offensichtlich etwas; sie experimentierten. Der am Hof der Medici in Florenz arbeitende Bartolomeo Cristofori erreichte am Ende des 17. Jahrhunderts als erster das Ziel: Ein Cembalo, dessen Saiten über Tasten – lateinisch claves – mechanisch von hölzernen Hämmern angeschlagen werden. Der Sinn der Sache: Das Cembalo wird auf diese Weise in die Lage versetzt, sowohl leise – piano – als auch laut – forte – zu spielen. Heute nennt man das so entstandene Pianoforte »Hammerflügel«. Kerstin Schwarz öffnet die Abdeckung des Cristofori-Originalflügels, den sie vor siebzehn Jahren kopiert und mit dem sie sich einen Namen gemacht hat, und offenbart auch mir den Klang dieses Instruments. (Luca Guglielmi: Bach and the Early Pianoforte: https://kurzlink.de/Guglielmi-Bach)

»Das erste Dokument, das ein Cembalo mit Hämmern beschreibt, datiert auf das Jahr 1700. Es ist aus dem Inventarverzeichnis der Musik­instrumentensammlung von Ferdinando de’ Medici. Die erhaltenen Instrumente stammen – es gibt nur noch drei erhaltene Hammerflügel von Cristofori – alle aus den 1720er Jahren. Cristofori ist 1732 gestorben.«

Auch Andreas Staier, Spezialist für alte Tasteninstrumente, hat schon auf dem Cristofori gespielt, der neben zwei anderen kostbaren Kopien, bei Kerstin Schwarz in Zerbst dort steht, wo bei anderen Leuten das Wohnzimmer ist. »Cristofori war wirklich eine Art Leonardo da Vinci oder Daniel Düsentrieb des Instrumentenbaus. Er hat aus dem Stand heraus, ohne jedes Vorbild, eine perfekt funktionierende Hammerklaviermechanik erfunden, die absolut alles tut.«

Andreas Staier

Und es war kein Zufall, dass das Klavier in den Stadtrepubliken Oberitaliens entstand. Dort war man durch den über Byzanz laufenden Handel mit dem Vorderen Orient und mit Fernasien steinreich, kultiviert und klug geworden. In Padua, Cremona, Florenz entfaltete sich kulturell, politisch, sich seiner selbst bewusst etwas erstmals sehr deutlich, das wir heute das europäische Bürgertum nennen. Das bürgerlich naturwissenschaftliche Weltbild von Großdenkern und Ingenieuren der Renaissance wie Descartes, Kepler oder Galilei lehrte die katholische Theologie das Fürchten. Cristoforis Hammerflügel entstand mit der bürgerlichen Kultur. Das Klavier wurde im weiteren Verlauf der Geschichte zum Musikinstrument des Bürgertums.

Newtons Mechanik

Neben dem Cristofori-Flügel und dem Clavichord steht im Wohnzimmer der Klavierbauerin ein drittes Instrument, die Kopie eines Silbermann-Hammerflügels. Denn Cristoforis Erfindung interessierte das stärker opernbegeisterte Italien eher weniger. In die entstandene Lücke sprang der Orgelbauer und Bach-Freund Gottfried Silbermann. Er sorgte mit den von ihm konstruierten Clavieren für eine zunächst sächsische Fortsetzung der Erfolgsgeschichte des Hammerflügels.

Andreas Staier: »Silbermann hat ja offensichtlich ein Cristofori-Instrument bei sich gehabt und hat es teilweise sehr genau kopiert und teilweise auch wiederum verändert. Man kann sagen, er hat seine eigene Version eines Cristofori-Flügels hergestellt. Dabei muss allerdings erwähnt werden, dass er sich bei all den Dingen, bei denen er vom Ursprungstyp abgewichen ist, Nachteile der Handhabung, also der technischen Beherrschbarkeit eingehandelt hat.«

Bach soll mit dem Diskantklang und der Spielbarkeit der silbermannschen Hammerflügel unzufrieden gewesen sein. Silbermann hat die Mechanik verändert. Beim Stichwort Mechanik schlägt Kerstin Schwarz den Bogen von Newton und Leibniz zum Florentiner Hof und zu Cristofori: »Newton und Leibniz. Natürlich. Die Hammermechanik ist ein hervorragendes Beispiel für die Anwendung der Newtonschen Mechanikgesetze. Das lag in der Luft. Und Ferdinando de’ Medici hat mit Leibniz korrespondiert.«

Bei Leibniz gingen Philosophie und Mathematik zusammen. In Cristofori Newtons Mechanik und die Musik. In Kerstin Schwarz’ Begabung Arbeit und Intuition. An den kahlen Wänden ihrer Werkstatt am Rand eines kleinen Zerbster Parks stehen ausgesuchte Hölzer in jeder Stärke, Maserung und Farbe. Im Innenraum größere und kleine Maschinen, mehrere Werktische. In der Nase der Geruch von Harzen, ein Hauch Maschinenöl. In den Fenstern Blattgrün. Kerstin Schwarz zeigt mir am Beispiel eines plätzchengroßen Holzteils einer Hammermechanik, wie hier meisterhaft präzises und filigranes Handwerk die Voraussetzung ist für die Verwandlung natürlicher Materie in vom Menschengeist erzeugten Klang.

»Eines der Mechanikteile ist die Hammerkapsel, wo der Hammerstiel eingeleimt wird. Der läuft in einer Art Kamm und muss wirklich bis aufs Zehntel, ja Hundertstel genau passen. Das geht mit dem Hobel am besten. Mit dieser Vorrichtung wird der Hobel geführt wird. Brauche ich gar nicht zu fixieren«. (ein kurzer Film über einen der drei erhaltenen originalen Cristofori-Flügel im Met-Museum in New York: https://kurzlink.de/Met-Museum-Piano)

Sollte man sagen, die alten Claviere seien der Natur näher, weil sie rundherum aus Holz sind? Sie sind näher, weil sie sich erkennbar in ihrer jeweiligen Umgebung verändern. Wenig an ihnen garantiert ein Immergleiches. Kerstin Schwarz: »Die Klangmöglichkeiten dieser Instrumente beflügeln die Imagination. Natürlich hat sich das Klavier immer weiter entwickelt. Am Anfang war es hochkomplex. Wenn Cristofori Klaviere gebaut hat, war das nichts Primitives. Oder wenn Stein in Augsburg für Mozart Klaviere gebaut hat – das waren wahnsinnig komplizierte, komplexe, mechanische Vorgänge, natürlich nicht industriell gefertigt, sondern durch und durch Handwerkskunst und Kunsthandwerk zugleich.«

Hammerklavier und Klassik

»Nun muß ich gleich bey die steinischen Piano forte anfangen«, schreibt Wolfgang Mozart am 17. Oktober 1777 aus Augsburg an den Vater. »Ehe ich noch vom stein seiner Arbeit etwas gesehen habe, waren mir die Spättischen Clavier die liebsten (Franz Jakob Späth, Regensburger Klavierbaumeister, Anm. jW); nun muß ich aber den steinischen den vorzug lassen; denn sie dämpfen noch viell besser, als die Regensburger. wenn ich starck anschlage, ich mag den finger liegen lassen, oder aufheben, so ist halt der ton in dem augenblick vorbey, da ich ihn hören ließ. Ich mag an die Claves kommen wie ich will, so wird der ton immer gleich seyn, er wird nicht schebern, er wird nicht stärcker, nicht schwächer gehen, oder gar ausbleiben; mit einem wort, es ist alles gleich. (…) seine instrumente haben besonders das vor anderen eigen, daß sie mit auslösung gemacht sind. da giebt sich der hundertste nicht damit ab. aber ohne auslösung ist es halt nicht möglich daß ein Piano forte nicht schebere oder nachklinge. seine hämmerl, wenn man die Claves anspielt, fallen, in dem augenblick da sie an die saiten hinauf springen, wieder herab, man mag die Claves liegen lassen oder aus lassen. (…) die Machine wo man mit dem knie drückt, ist auch bey ihm besser gemacht, als bey den andern. ich darf es kaum anrühren, so geht es schon; und so bald man das knie nur ein wenig wegthut, so hört man nicht den mindesten nachklang«.

Der sächsische, das Erbe Cristoforis fortsetzende Klavierbau wurde, kaum dass er erblüht war, schon Mitte des 18. Jahrhunderts im Siebenjährigen Krieg zwischen Preußen und Österreich zerstört. Die ihres Handwerks beraubten Klavierbauer zogen dorthin, wo das europäische Bürgertum seinen rasanten Aufstieg erfuhr. In Augsburg, wo die Fugger während der Renaissance europäische Machthaber für deren Kämpfe untereinander finanziert hatten, begeisterte Johann Andreas Stein den jungen Mozart mit seinen Hammerklavieren. Paris, London, Wien waren angesagt. Im beginnenden 19. Jahrhundert hatten Namen wie Anton Walter, Conrad Graf, Nannette Streicher, die Häuser Érard, Pleyel und Broadwood einen besonderen Klang.

Es sollte allerdings fast zweihundert Jahre dauern, bis im Klassikbetrieb der Moderne die Musik der großen Zeit des Hammerflügels auch auf den Instrumenten jener Zeit dargeboten wurde. Selbst die seit den 1990er Jahren mächtig aufkommende historische Aufführungspraxis mied die klassisch-romantische Klaviermusik auf den Instrumenten der Zeit. Als es schließlich genügend gute Klavierbauer und Solisten für die immer besser klingenden Hammerflügel und ihre Kopien gab, wurden Sonaten und Konzerte, zumindest auf Tonträgern, immer öfter auch auf alten Klavieren präsentiert. Aber die Wahl der Instrumente beschränkt sich bis heute noch immer beinahe ausschließlich auf Exemplare des späten 18. Jahrhunderts, vorrangig auf die Wiener Instrumente Anton Walters.

Neben Tobias Koch gehört der Holländer Arthur Schoonderwoerd zu den Kritikern dieser Entwicklung: »Walter ist ein Beethoveninstrument. Die Walter sind ein Instrument von 1800 oder noch später. Und darauf hat man immer Mozart oder Carl Philipp oder ich weiß nicht was gespielt. Aber das geht eigentlich nicht mit diesen Komponisten, es ist eine andere Ästhetik. Eine Ästhetik, die mehr singt. Die früheren Instrumente, zum Beispiel mit Holzhämmern und mit Tangenten, die hatten viel mehr das Sprechende in ihrer Ästhetik. Man kann damit viel besser artikulieren, und die sprechen auch schneller an. Ein Walter ist schon ein bisschen langsam und bei Graf ist das Ansprechen des Tons noch viel langsamer.«

(1770-1827)

»Sie können«, schreibt Ludwig van Beethoven im November 1802 an den Freund, Baron von Zmeskall, »dem Walter meine Sache immerhin in einer starken Dosis geben, indem er’s ohnehin verdient, dann aber drängt sich seit den Tagen, wo man glaubt, ich bin mit Walter gespannt, der ganze Klaviermacher schwarm, und will mich bedienen – und das umsonst, jeder von ihnen will mir ein Klavier machen, wie ich es will, … – sie geben ihm also zu verstehen, daß ich ihm 30 # [ 30 Dukaten, jW] bezahle, wo ich es von allen anderen umsonst haben kann, doch gebe ich nur 30 # mit der Bedingung, daß es von Mahagoni sey und den Zug mit einer Saite will ich auch dabey haben – geht er dieses nicht ein, so geben sie ihm unter den Fuß, daß ich einen unter den anderen aussuche, dem ich dieses angebe und den ich derweil auch zum Haydn führe, um ihn dieses sehen zu machen.«

Instrumente des Bürgers

Arthur Schooderwoerd

Arthur Schoonderwoerd, der freundliche Radikalinski des Klaviers, bringt beim Thema Geschichte der Musik ihre jeweilige Entstehungszeit ins Spiel. Sie dringt in die Musik ein, treibt ihr Wesen in ihr und wirkt zugleich durch ihre Ökonomie auf sie ein. Mit der französischen Revolution hatte sich das Bürgertum erstmals in der politischen Form einer Republik ermächtigt. Für die Musik bedeutete das: Ein Musikmarkt entstand, die Komponisten konkurrierten mit ihren Opern, Sinfonien, Sonaten, ihrer Kammermusik als Warenproduzenten gegeneinander.

Arthur Schoonderwoerd: »Die Klangästhetik des 18. Jahrhunderts bricht mit der französischen Revolution. Fast alle Cembali sind verbrannt worden nach 1789, weil sie ein Symbol des alten Régime waren, und die Hammerklaviere klangen auch so. Darum versucht man nach dieser Revolution eine mehr intime, eine Belcanto-Ästhetik zu finden. Man fängt an, die unbelederten Hämmer zu beledern. Die Cembali verschwinden. Es fängt etwas anderes an. Die Instrumente werden jetzt solche des Bürgertums. Es sind viel intimere ­Instrumente, die auch sanfter klingen und mehr für jedermann gedacht worden sind, als nur für die Elite.« (Dazu anzuhören: Franz Schubert »Valses sentimentales«, Nr. 13, gespielt von Nikolaus Lahusen https://kurzlink.de/Lahusen-Schubert) Junge Welt, Weihnachten 2019

2. Teil – Wunderbare Zeitmaschinen

Fassung als SWR-Musikfeature

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