Wunderbare Zeitmaschinen

Gußeiserne Klavierrahmen bei Steinway in Hamburg

Der folgende Text ist die für junge Welt überarbeitete und ergänzte Printfassung eines im Oktober 2019 auf SWR 2 gesendeten Musikfeatures. Das Ineinander von Text und Musik macht ein Musikfeature aus, die Printausgabe einer Zeitung kann das nicht bieten. Damit Leserinnen und Leser trotzdem das Gelesene akustisch überprüfen können, gibt es in der Onlinefassung des Beitrages auf www.jungewelt.de die Möglichkeit, sich per Link jeweils den Klavierklang anzuhören, von dem im Text die Rede ist. (jW)

Mit dem Entstehen eines Musikmarkts übernimmt das Bürgertum vom Adel auch auf diesem Gebiet die Hegemonie. Die Musik wechselt aus Schlössern und Stadtpalais in Wohnzimmer und Salons und in die von Privatunternehmern und Musikvereinen betriebenen Konzertsäle, die aus Kommerzgründen immer größer werden. Die Barockinstrumente füllen die Räume nicht mehr, sie werden, wie die Musik insgesamt, umgebaut. Andreas Staier möchte bezweifeln, dass sich daraus folgern lasse, jeder Musiker, der etwa Beethoven musikalisch gerecht werden wolle, müsse sich auch intensiv mit der Soziologie der Beethoven-Zeit befasst haben.

»Es ist unendlich schwierig, das, was man bei Beethoven so deutlich hört – die »Eroica« ist ein gutes Beispiel –, an der einzelnen Note festzumachen, indem man sagt, dieses B bedeutet jetzt ›Revolution‹. Das ist die große Herausforderung: Musik entzieht sich dem Wort, und manche Komponisten sind so nah am Wort – auch in der ­Instrumentalmusik. Man könnte also nie sagen, jetzt lies mal ein Buch über die Französische Revolution, und anschließend spielst du besser Beethoven. Aber es könnte passieren, dass bestimmte Antennen dadurch geschärft werden und man dann vielleicht indirekt doch besser Beethoven spielt. (Beethoven: »Klavierkonzert Nr. 5, gespielt von Arthur Schoonderwoerd, https://kurzlink.de/Schoonderwoerd-Beeth)

Parameteränderungen

Wenn Arthur Schoonderwoerd auf einem Johann-Fritz-Flügel von 1807 das 5. Klavierkonzert von Beethoven spielte, bliebe sein Instrument gegen ein normal besetztes Sinfonieorchester dynamisch auf der Strecke. Darum bestehen die Streicher seines »Ensemble Cristofori« bei wie üblich chorisch besetzten Bläsern aus einem bassverstärkten Streichquartett. Wem das allzu ausgefallen erscheint, der erinnere sich der erstaunlich minimalen Abmessungen des Uraufführungssaals der »Eroica« im Wiener Palais Lobkowitz. Wenn da auch noch ein paar Zuhörer Platz haben sollen, passt ein größeres Orchester kaum hinein. Nichts spricht dagegen, es so zu machen. Die Klangrealität der alten Instrumente führt bei Klavierkonzerten zu unkonventionellen Besetzungen des Orchesters.

Tobias Koch beschreibt die Konsequenzen der Instrumentenwahl auch fürs Solorepertoire: »Das historische Instrument hilft mir natürlich, Lösungen zu finden. Auf einem modernen Instrument ist das ganz anders, weil man da immer diese Passepartout-Situation hat – alles ist möglich, alles in einem gewissen Rahmen angepasst. Viele stellen sich die Frage nicht, ob das Stück langsam oder schnell gespielt wird oder in welchem Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit man mit Musik umgeht, weil die Resonanz eines Steinway-Flügels um ein Vielfaches größer ist als das Resonanzverhalten eines Flügels der Beethoven- oder der Mozart-Zeit. Und natürlich ändert sich dadurch ein erstrangiger Parameter wie Tempo.«

»Nun eine große Bitte an Streicher«, so Beethoven an Nannette Streicher, Tochter Johann Andreas Steins, Frau und Geschäftspartnerin Johann Andreas Streichers, mit dem zusammen sie das Wiener Klavierbauunternehmen Streicher betrieb. »Bitten sie ihn in meinem Namen, daß er die Gefälligkeit hat, mir eines ihrer Piano mehr nach meinem geschwächten Gehör zu richten, so stark als es nur immer möglich ist, brauch ichs, denn ich hatte schon lange den Vorsatz, mir eins zu kaufen, allein in dem Augenblick fällt es mir sehr schwer, vielleicht ist es mir jedoch etwas später eher möglich, nur bis dahin wünschte ich eines von ihnen geliehen zu haben, ich will es durchaus nicht umsonst, ich bin bereit, ihnen das, was man ihnen für eins gibt, auf 6 Monate in Konvenz-Münze voraus zu bezahlen. Vielleicht wissen sie nicht, daß ich, obschon ich nicht immer ein Piano von ihnen gehabt, ich die ihrigen doch immer besonders vorgezogen seit 1809 – Streicher allein wäre im Stande mir ein solches Piano für mich zu schicken, wie ichs bedarf«.

Adieu, cher Rodolphe…

1809 – das Jahr, da die Franzosen nach einer aberwitzigen Kriegserklärung Österreichs Wien zum zweiten Mal besetzen. Der Beethoven-Schüler Erzherzog Rudolph muss die Stadt verlassen, es kommt zur Klaviersonate »Les Adieux«. Auch die Gegenwart, jeder Augenblick ist Geschichte. Die Interpreten während einer Aufführung sind Teil der Geschichte, die zugleich, im Doppelsinn, in ihnen aufgehoben ist. Tobias Koch: »Natürlich sind wir, wenn wir an solchen Instrumenten sitzen, mit der Geschichtlichkeit konfrontiert und mit ihr auch verbunden, aber das enthebt uns nicht unserer Aufgabe, dass wir uns mit unserer eigenen Gegenwart auseinandersetzen und darüber dann einen Zugang zur Vergangenheit finden. Und insofern sind das natürlich wunderbare Zeitmaschinen, diese alten Klaviere. Für mich sind sie zeitlos.«

»Zehn Jahr war ich ungefähr alt, als ich durch Krumpholz zum Beethoven geführt wurde«, berichtet Carl Czerny, ewiger Musterschüler Beethovens und später mit seinen Etüden selbst der Schrecken aller Klavierschüler. »Wie freute und fürchtete ich mich des Tages, wo ich den bewunderten Meister sehen sollte! Noch heute schwebt mir jener Augenblick lebhaft im Gedächtniß. An einem wintertage wanderte mein Vater, Krumpholz und ich aus der Leopoldstadt wo wir stets noch wohnten in die Stadt, in den sogenannten tiefen Graben, eine Straße, stiegen turmhoch bis in den 5ten oder 6ten Stock, wo uns ein ziemlich unsauber aussehender Bediente[r] beym Beethoven meldete und dann einließ. Ein sehr wüst aussehendes Zimmer, überall Papiere und Kleidungsstücke verstreut, einige Koffer, kahle Wände, kaum ein stuhl, ausgenommen der wackelnde beym Walterschen Fortepiano, damals die besten (…). Beethoven selber war in eine Jacke von langhaarigem dunkelgrauen Zeuge und gleichen Beinkleidern gekleidet, so daß er mich gleich an die Abbildung des Campe’schen Robinson Crusoe erinnerte, die ich damals eben las. Das pechschwarze Haar sträubte sich zottig à la Titus geschnitten um seinen Kopf. Der seit einigen Tagen nicht rasierte Bart schwärzte den untern Theil seines gesichts noch dunkler. Auch bemerkte ich sogleich mit dem bey Kindern gewöhnlichen Schnellblick, daß er in beyden Ohren Baumwolle hatte, welche in eine Gelbe Flüssigkeit getaucht schien.« (Beethoven »Für Elise«, gespielt von Tobias Koch, https://kurzlink.de/Koch-Beethoven)

Altes Wissen

Tobias Koch: »Es ist ganz klar, dass bestimmte Instrumente aus bestimmten Epochen eines Komponistenlebens dann einfach den Stücken, die komponiert worden sind, angemessener sind, das merke ich sofort. Das ist kein Fetischismus. Ich versuche natürlich, die ideale Situation irgendwie herzustellen. Die ideale Situation fängt aber für mich auch damit an, dass ich ganz praktisch, wenn ich ein Konzert auf einem historischen Instrument gebe, nicht einfach hinfahre, den Deckel aufklappe und losspiele. Ich komme zwei Tage vorher, mindestens, setze mich da hin, noch morgens, mittags, abends, und versuche, das Instrument kennenzulernen.«

Das Bürgertum entwickelt sich im 21. Jahrhundert nur noch technologisch. Ethisch und kulturell ist es am Ende. Im Umgang mit klassischer Musik etwa verharrt es im kulturreligiösen Ahnenkult. Aber ähnlich den alten Mitteln der Volksmedizin, den vielerlei Rezepten uralter Hausküchen, Gärtnereien, Handwerkshöfe und Bauhütten gibt es auch in der Reproduktion und im Genuss von Musik in Vergessenheit gebrachtes Wissen davon, was dem Menschen tatsächlich frommt. Tobias Koch hat bei seinen Auftritten oft den Eindruck, die alten Klaviere brächten dieses Wissen wieder hervor. Was sie nahelegen, ist nicht Altertümelei, nicht Nostalgie, erst recht keine Rückwärtsgewandtheit, sondern, unter selektiver Nutzung aktuellster Technologien, Neubesinnung.

»Es ist immer ein bisschen kurios, wenn man mit einem alten Klavier ankommt. Die Leute stehen drum herum und gucken wie bei der Fütterung der Raubtiere im zoologischen Garten, wenn der Klavierbauer oder Klavierstimmer in der Pause noch mal eben etwas repariert. Aber das gehört zu diesem wunderbaren Spektakel dazu und ist ein gruppendynamisches Erlebnis bei einem Konzert. Wenn irgend etwas mal nicht funktioniert, habe ich überhaupt keine Scheu davor, noch mal von vorne anzufangen und zu sagen: Aus diesem und jenem Grunde wird das jetzt noch mal wiederholt. Sie werden Zeuge des einzigartigen Versuches sein, es ein zweites Mal zu machen in der Hoffnung, dass es dann genial wird – oder auch nicht.«

So ein altes Klavier ist anfälliger als die schwarzen Bühnenriesen von heute; auf Witterung und Erschütterungen reagiert es empfindlich. In seinem hölzernen Bauch birgt es Apparaturen, die Beethovens und Schuberts Zeitgenossen zu schätzen wussten, mehrere Pedale zur Veränderung des Klangs, das Una-Corda-Pedal etwa: Durch Verschiebung der Mechanik erreicht dabei der angeschlagene Hammer von den drei Saiten eines Tons nur noch eine, der Klang wird leise, fahl und wundersam. Mit besonderen »Zügen« ließ sich ein dem Klavier sonst fremdes Spektakel veranstalten.

Conrad Graf Pianoforte

»Bei der ›Wut über den verlorenen Groschen‹ war’s so, dass eben dieser Wiener Hammerflügel von Conrad Graf sehr viele Pedale hat und im Sinne des heutigen Synthesizers externe Soundquellen bietet, zum Beispiel Trommeln, Cinellen, Janitscharenmusik, verständlich aus Sicht der damaligen Zeit. Die Türken standen vor Wien und haben Janitscharenmusik gespielt. Da habe ich mir gedacht, das wäre für dieses Stück ideal, und warum soll man das nicht mal übertreiben und einfach Spaß haben am Krach am Zirkushaften, am Jahrmarkttreiben.« (Beethoven »Die Wut über den verlorenen Groschen«, gespielt von Tobias Koch bei Spotify)

Tobias Koch geht nicht nur ästhetisch eigene Wege. Als Sammler alter Klaviere erweist er sich auch als ethischer Individualist. Das Eigentum etwa, als des Bürgers Allerheiligstes, bedeutet ihm wenig. Er gebraucht, er muss nicht besitzen. »Ich habe immer den Eindruck, dass die Instrumente mir nicht gehören, sondern dass ich im Moment nur gut auf sie aufpasse und sie so gut behandle oder von Instrumentenbauern so gut behandeln lasse, wie es geht, um sie dann später weiterzugeben. Besitzansprüche einem Instrument gegenüber sind mir völlig fremd. Ich muss immer schmunzeln, wenn mir ein berühmter Freund sagt, das ist meine Stradivari – dann denke ich, du hast sie gekauft, aber sie wird dich überleben.«

»Bis Ende Oktober versprachen sie mir ein Piano«, schreibt Ludwig van Beethoven an den Wiener Klavierbauer Johann Andreas Streicher. Mit dem ihm von der Pariser Klaviermanufaktur Érard übersandten Instrument kam er nicht zurecht. »Und nun ist schon halber November und ich habe noch keins. – Es ist mein Wahlspruch entweder auf einem guten Instrument zu spielen oder gar nicht – was das französische, welches wirklich jetzt unbrauchbar ist, so trage ich noch Bedenken, es, als ein eigentliches Andenken, wie mich hier noch niemand eines solchen gewürdigt hat, zu verkaufen – Leben sie wohl wenn sie ein Piano schicken und übel, wenn nicht – Ihr Freund Beethowen.«

Neuer Werkstoff

Seit Cristofori hat sich die Mechanik des Hammerflügels nicht wesentlich verändert. Anders die Geschichte des Holzes. Seine Jahrtausende alte Rolle als Hauptenergiequelle (abgelöst durch die Steinkohle) und wichtigster Baustoff der Menschheit endet mit der industriellen Revolution in einer Epoche, in der die Konzerthallen größer werden und die Orchester lauter. Die Klaviere müssen mithalten. Die Zugspannung auf den Saiten, mit ihr der Druck auf den Klangkörper, geht auf die zwanzig Tonnen zu. Aber ohne das Holz, das die Schwingungen der Saiten in Klang verwandelt, geht im Klavierbau nichts. Eine Lösung bahnt sich an, als das Holz als universeller Werkstoff im 19. Jahrhundert vom Eisen abgelöst wird. Eine Klavierbauerfamilie im kleinen Seesen am Harz baut in dieser Zeit gut nachgefragte Instrumente. Sie will expandieren, will bedarfsgerecht überallhin verkaufen. Die politische Wirklichkeit steht ihr im Weg.

»Das Deutschland jener Zeit war unterteilt in viele Länder, und mit jedem Grenzübertritt wurden die Instrumente auch immer teurer. Und wenn man sie dann von Seesen etwa nach München verkaufen wollte, schoss der Preis des Instruments in die Höhe. Die Expansionsabsichten dieser Familie Steinweg ließ die Landesherrschaft nicht zu und begrenzte ihr Schaffen auf eine kleine Werkstatt. Die Familie entschied, nach Amerika auszuwandern. Das war zu einer Zeit, um 1850, als es bereits eine Auswanderungswelle gab.«

Gespielt auf einem Bösendorfer Flügel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts erinnert Schumanns 1845 entstandenes Klavierkonzert vielleicht deutlicher als üblich an die Stimmung der großen Auswanderung aus Europa in die USA, sie fiel nicht zufällig in die Zeit der gescheiterten Revolution von 1848/49. (Schumann Klavierkonzert A-Moll, gespielt von Alexander Melnikow https://kurzlink.de/Melnikow-Schumann)

Auch Hartwig Kalb von Steinway/Hamburg kommt in der Erzählung der Geschichte seiner Firma darauf zu sprechen, speziell auf die Lage im territorial zerstückelten Noch-nicht-Deutschland. Die Seesener Familie Steinweg gehörte zu den frühen Migranten des alten Kontinents. Sie sah in den Vereinigten Staaten, wo sie ihren Namen amerikanisierte, Möglichkeiten, die großartigen Klaviere zu bauen, von denen sie träumte; auch mit dem Klavierverkauf sollte es endlich vorangehen. »Mit der Auswanderung nach New York und dem Bau der Instrumente ab ungefähr 1853 hat man seitens Steinway dann ziemlich bald mit Gussplatten experimentiert und diese Metallplatten in die Instrumente integriert.«

Damit war das Problem der Spannung und des Drucks auf den Holzkorpus gelöst. Das Eisen hielt Einzug auch in den Klavierbau – zu Lasten des Holzes, zugunsten von Lautstärke und Klangmacht. Das moderne Klavier entstand. Es hat sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum wesentlich verändert.

Schwarze Bühnenriesen

»Ein Flügel von 1920 und ein Flügel von heute, die sind so gut wie baugleich. Bis auf Materialunterschiede, die es möglicherweise noch geben kann, aber die Grundkonstruktion, das Fundamentale in den Instrumenten ist komplett gleich. Das heißt also, ein Flügel, den wir Franz Liszt 1883 zur Verfügung gestellt haben, der wird auch heute noch genauso gebaut.« (Franz Liszt »Mephisto« Walzer Nr. 1, gespielt von Leif Ove Andsnes https://kurzlink.de/Andsnes-Liszt)

Größen wie Liszt, Gershwin, Glenn Gould, Horowitz oder Brendel spielten auf dem legendären D-Flügel von Steinway. Charly Chaplin besaß einen B-Flügel, er komponierte mit Hilfe eines Notenkundigen viele seiner Filmmusiken selbst. Mit dem A-Flügel im Living room sind weltweit musikbeflissene Besserverdiener die Basis der Steinway-Kundschaft. Die Firma repräsentiert bis heute einen von den Exzessen der Finanzindustrie noch weitgehend unberührten Teil des Bürgertums. Sie fühlt sich den besseren Traditionen ihrer Klasse verpflichtet, denkt marktwirtschaftlich sozial und erreicht ihre Ziele mit friedlichen Mitteln. So steht Steinway für eine rar gewordene Symbiose aus Kunstsinn, Erfindergeist und goldenem Handwerk. Steinways Flügel verdienen die Zukunft, an der die Firma – und das nicht nur im Westen – zielbewusst arbeitet.

Steinway Lyngdorf flagship showroom in Shangai

Hartmut Kalb: »Wir sind seit 15 Jahren sehr aktiv im chinesischen Markt. Wir haben eine eigene Niederlassung gegründet in Shanghai, ein Lager, ein Warehouse mit Klaviertechnikern, die dann die aus Hamburg gelieferten Instrumente für den Markt in China vorbereiten. Wir haben also ein großes Business aufgebaut. Acht Techniker arbeiten dort. Aus Hamburg immer ein – nennen wir’s – Cheftechniker, damit die Hamburger Qualität gewährleistet wird. Ein Hamburger Techniker ist immer parallel zu den chinesischen Technikern dabei, um dort Weiterbildung zu betreiben, das Niveau anzuheben, oder zu halten. Denn nach fünfzehn Jahren haben wir da ein Riesenniveau.«

Nichts gegen den modernen Konzertflügel. Charles Ives’ grandiose Sonate »Concord, Massachusetts« etwa ist Musik wie gemacht für so einen D-Flügel von Steinway. (Charles Ives »Concorde«, gespielt von Alexej Ljubimow https://kurzlink.de/Ljubimov-Ives) Der Klavierbau geht mit der Zeit. Er stößt im 21. Jahrhundert auf einem neuen Typus von Bürgertum. In der Volksrepublik China gibt es derzeit 80 Millionen Klavierspieler, immerhin sieben Prozent der Bevölkerung. Ob sie alle aus der neuen Bürgerklasse Chinas kommen, ist noch ungeklärt. Wenig bekannt auch: Dass es im einstigen Riesenagrarland China ein nennenswertes Bürgertum erst mit der im chinesischen Sozialismus entstandenen Großindustrie gibt. Das Interesse an europäischer Klassik ist groß. Bislang hat das Land zwölf Konservatorien; die mehr als tausend Universitäten verfügen Musikfakultäten, die wie Konservatorien funktionieren und entsprechend ausgerüstet sind. Von asiatischen Hammerflügelstars im wie auch immer zu bewertenden Format eines Lang Lang ist gleichwohl noch nichts zu hören. Im Abendland erfreut sich derweil der Glaubenskrieg der Anhänger moderner Konzertflügel gegen die Anhänger alter Klaviere mehr und mehr eines auf beiden Seiten wachsenden Sinns für die Wirklichkeit.

Tobias Koch: »Grundsätzlich finde ich: Wenn man es mit einem guten Instrument zu tun hat, ist es egal, ob es von Bösendorfer, Yamaha, Steinway, Conrad Graf, Érard, Pleyel, Cristofori, Stein oder von wem auch immer stammt. Wenn es ein gutes Instrument ist, wenn der Klavierbauer gute Arbeit gemacht hat, dann ist alles möglich, es gibt keine Grenzen. Die Frage, die mich als Musiker beschäftigt und aus historischer Sicht sehr interessiert: Welcher Schlüssel passt denn auf welches Schloss? Ist es unbedingt sinnvoll, dass man mit einem einzigen Schlüssel die komplette Musikgeschichte aufschließt?

Auf Flügeln des Klangs durch die Musik. Von Düsseldorf nach Zerbst, von Bach und Mozart bis Liszt und Ives. So viele Jahre, so viele Instrumente. Tobias Koch sagt: Zeitmaschinen. Die Geschichte der Zeit, die in jeder Musik west, will Klang werden auch in der Materie, aus der ihr Geist entsteht. Mozart ahnte nichts vom Eiffelturm. Liszt nichts mehr von der eigentümlichen Langsamkeit des Barock. Lassen wir es dabei. Bevorzugen wir nichts. Geben wir uns einfach nur hin. Dem, was war. Und dem, was ist. (Beethoven »Waldstein«, gespielt von Alexej Ljubimow https://kurzlink.de/Ljubimov-Beethoven) Junge Welt, Jahresende 2019

Feature-Fassung auf SWR 2

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