International. Ich erinnere es aus der Kindheit. Das Wort hatte einen besonderen Klang im Deutschland Adenauers. Es stand in attraktivem Gegensatz zu seinem Counterpart, dem Nationalen. In den Trümmern des im Faschismus durchgeglühten Nationalismus spielten wir Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg Fangen. Die Nationalen hatten, bevor sie Europa in Schutt und Asche legten, den Rest der Welt zu Olympia antreten lassen. Schon damals diente das Internationale dem Nationalen allein zur Aufwertung. Im Adenauerstaat meinte das weithin leuchtende Attribut »international« etwa vor den Berliner Filmfestspielen oder vorm Autosalon in Frankfurt am Main nichts, nur: Wir sind wieder wer.
Daran musste ich an einem Abend Ende April denken. Ich saß im Dunkel der siebten Reihe des kleinen Saals der Hamburger Elbphilharmonie. Das Konzert lief fünf Minuten, die Musik war sofort da. Orientalische Musik, auf seltsame Weise gemischt mit abendländischen Tönen. Noch abenteuerlicher das zeitliche Gemenge: Archaische Klänge aus geschichtlichen Tiefen zusammen in einer Musik mit Tönen aus der unmittelbaren Gegenwart. Auf der Eintrittskarte in meiner Tasche stand: »Derya Yildirim/ Taner Akyol Trio«. Etwas kleiner darüber: »Internationales Musikfest«. Es war mein erstes Konzert auf dem Festival, das bis Ende Mai so weitermachte. Das Hamburger Musikfest gewinnt nach meinem Eindruck seinem kaum noch beachteten Attribut »international« Inhalte zurück, die uns im empirie-resistenten Neoliberalismus abhanden gekommen zu sein schienen.
Das Taner Akyol Trio spielt. Die Musik gleitet mit sliderhafter Selbstverständlichkeit aus dem Orbit modern künstlerischer Bewegungsfreiheit in die von uralten Regeln bestimmte Welt orientalischer Volksmusik. Mein Abendländerohr hört sofort: Da klingt etwas, das haben wir nicht. Es macht die orientalische Musik für die sie verkörpernden Musiker zum Boden unter ihren Füßen, zur Grundsubstanz ihres Musikerdaseins. Es verlässt sie nie, egal, in welche anderen Welten sie, und sei es noch so tief, musikalisch eintauchen. Die abendländische Musik hat so etwas nicht mehr. In ihr gingen, mit Ausnahme einiger spät entwickelter Randgebiete, die letzten Reste lebendiger, unmittelbarer Volksmusik in den Taifunen der Industrialisierung verloren. Schon davor hatte sich die europäische Volksmusik, bedrängt von der wachsenden Intensität feudaler Ausbeutung, aus lauter Geldnot in wunderbare Kunstmusik verwandelt, sie hatte sich von den Marktplätzen, Wirtshäusern und Gassen in die Kirchen und Paläste gerettet. In der neuen anatolischen Musik ist ihr Ursprung ungebrochen.
Man spürt es. Denn das Bewusstsein ist ganz Ohr, es regt sich in den Muskeln. Die Musik hat einen magischen Rhythmus, der Bass scheint darin aufzugehen, der Rhythmus bildet Strudel, sie spannen sich spiralförmig kreisrund, mitgerissen vom Verlauf endlos verzierter und verschnörkelter Linien. Es klingt für mich, als unterläge der Orient neben dem Bilder- auch einem Melodienverbot. Aber da sind Melodien. Das Ohr hört sich mehr und mehr ein. Sie kommen auf tausenderlei Weise aus der Baglama, einem uralten, äußerlich einer Mandoline mit extrem langem Hals ähnlichen Saiteninstrument. Derya Yildrim und Taner Akyol spielen sie technisch auf dem Niveau höchster Vertrautheit. Sie setzen die Baglama wie eine Gitarre ein und spielen Riffs, Verläufe, Sequenzen. Allein der Soloklang der Baglama taucht den Saal in eine Atmosphäre gespannter Versunkenheit in längst vergangene Zeiten. Im nächsten Moment, die Übergänge scheinen völlig ungekünstelt, rastet die Musik aus: ein wilder Tanz, Jazz, Impressionismus, Hochgeschwindigkeits-Dodekaphonie wechseln sich ab. Ich denke an Thelonius Monk. Bei ihm gab es das auch: Der von allen Konventionen befreite Umgang mit den kulturellen Wurzeln, bei Monk der Blues der schwarzen Sklaven in den USA.
Und der Gesang! Derya Yildirim geht mit dem Vibrato großbogiger um als Taner Akyol. Ganz anders als im bei uns gängigen Kammersängergesinge, ist Vibrato hier gesungenes Leben. Akyol spielt mit einem Klavier (Antonis Anissegos) und dem Schlagwerker seines Trios (Sebastian Flaig) auf Ohrenhöhe. Eine andere Seite des »Internationalen« an diesem Abend des Hamburger Musikfests: Nicht nur der Mann an den Trommeln ist aus Deutschland, auch vier der Musiker, die die alten anatolischen, kurdischen, alevitischen Volkslieder für großes Ensemble und neue Zeiten bearbeitet haben, sind mit Bach, Beethoven und Schönberg aufgewachsen. Brigitta Muntendorf steuerte eine perfekt in den Abend passende Eigenkomposition bei. Die Streicher des Hamburger Ensemble Resonanz, als Residenzorchester sozusagen Gastgeber im kleinen Elbphilharmoniesaal, hatten besondere Spieltechniken fürs orientalische Idiom erarbeitet.
Die Musik ist mir fremd, keine Frage. Ich bin in Europa aufgewachsen. Bezeichnet ein Europäer etwas als fremd, bedeutet das meistens, es ist ihm nicht geheuer, das Fremde verfällt meist ablehnender Ignoranz. Aber jetzt in der kleinen Elbphilharmonie sagt mir die Musik: Es war immer eine Riesendummheit, sich im Geist christlich-abendländischer Mythen vor dem Unbekannten zu fürchten. Fremdsein heißt unwissend sein. Komm ins Offene, Freund! legt aufgeklärt diese Musik nahe. Denn »international«, »global« – das bedeutet in Wirklichkeit, sich um das Fremde zu erweitern, mit ihm sich zu verbünden. Aus dem falschen Umgang mit Fremdheit entstehen Vorurteile, aus Vorurteilen wird oft Hass. Richtig herum heißt international fühlen solidarisch sein.
Die Musik an diesem Abend reißt mich mit, ich finde in ihr etwas bestätigt: Eine Zeit geht zu Ende. Nicht die Zeit der abendländischen Kultur, aber die Epoche ihres Alleinvertretungsanspruchs, ein Synonym für kulturellen Kolonialismus. Einhergehend mit den großen Veränderungen im geopolitisch-ökonomischen Machtgefüge der Welt, erkennt eine wachsende Zahl von Menschen am Beginn des dritten Jahrtausends, dass die Musik des Abendlands eine der grandiosen Kulturleistungen der Menschheit bleiben wird, jedoch Gefährten von gleicher Größe hat, ältere, von anderer Art.
Die Geschichte, sagt Marx an vielzitierter Stelle im 18. Brumaire, ereigne sich immer zweifach, als Tragödie beim ersten, als Farce beim zweiten Mal. Ist es zu früh für die Vermutung, dass es zur Zeit dem Kolonialismus so ergeht, einem Moment der Geschichte? Seit dem 16. Jahrhundert stellte sich ihm nichts in den Weg. Die Überlegenheit der Technologie seiner Waffen garantierte ihm eine weltweit lukrative Hegemonie. Sie basiert auf der Tragödie Asiens, Afrikas und der Indigenen beider Amerika.
Die Oktoberrevolution war der Anfang vom Ende dieser Logik. Der Sieg der Roten Armee über den Faschismus und der Volksbefreiungsarmee über die US-armierte Kuomintang, die kubanische Revolution, Vietnams Triumph über das Imperium, der Aufstieg des sozialistischen China zur Weltmacht waren weitere Stationen. Die einstigen Opfer der kolonialen Tragödien lernen täglich besser, wie man der Übermacht begegnet. Die macht Fehler. Ihr Waffenarsenal ist gigantisch. Aber es sind die falschen Waffen für die Orte, an denen die Entscheidungen fallen. Ihren Soldaten gebricht es an Moral. Die ehemalige Übermacht, das Imperium mit seinem Versuch, den Kolonialismus zu erneuern, gerät ins Hintertreffen und macht sich mit immer fadenscheinigeren Lügen, Drohungen, Erpressungen weltweit so langsam lächerlich. Noch ist die Farce blutig und mörderisch, der Komödiant wider Willen mächtig und gefährlich wie nie zuvor, er bleibt Teil einer Farce, denn seine Zeit ist um. Die Zeiten, singt Bob Dylan, ändern sich. Die Scherze über die Schwäche der sich selbst entzaubernden Übermacht werden konkreter und witziger. Airbus, lautete einer im »Neo Magazin Royale«, habe das erste E-Flugzeug herausgebracht. Mit Oberleitung.
Komisch, auf was einen Musik alles bringt. Mich bringt sie oft auf Geschichte. Musik ist Geschichte, als Klang gewordene Form in der Zeit. Und als Teil der allgemeinen Geschichte. Hinter meinem Umgang damit steckt auch die Erkenntnis der absoluten Unmöglichkeit, gerade diese Musik einleuchtend zu beschreiben. Ich bin dem, was ich höre, ebenso unvertraut ausgeliefert wie der Leser, der jenen Abend vermutlich nicht miterlebt hat. Beiden fehlen die Begriffe. Ich weiß auf meinem Stuhl in der Elbphilharmonie bei diesem Konzert zwar, wie mir ist, voll sauwohl, aber nicht wovon.
Auf dem Nachhauseweg weht mir der böige Nordwest in den Schluchten der Hafencity um die Ohren. Ich trete in die Pedale. Der magische Tanz in mir hört nicht auf, wenn ich daheim bei Frau und Katze bin. Derya Yildirim, das Taner Akyol Trio und das Ensemble Resonanz lösen mit ihrer Kunst die typisch abendländische Frage in Musik auf, wie man das Ganze denn nun einzuordnen hat. Das Leben, flüstert uns freundlich das Fremde ins Ohr, ist nicht nur zum Eingeordnetwerden da. Das Denken, da sind wir über Descartes hinaus, hat seine Entsprechung im Nichtdenken. Es ist schwerer, nicht zu denken; in der Disziplin des Nichtdenkens kennt der fernere Osten sich besser aus als wir.
In der alten Musik hören wir, wenn es gut läuft, das Unbekannte im Bekannten, in der neuen Musik machen wir direkt Bekanntschaft mit dem Unbekannten. Hören wir also einfach nur hin, auf dem Sitz in der siebten Reihe oder auf dem Fahrrad in den Stürmen der langen Geraden Am Kaiserkai. Der eine oder andere Gedanke wird sich ohnehin einfinden.
Über anatolisches Melodiegefühl, atonale Avantgarde und die Namen des berühmtesten orientalischen Instruments. Gespräch mit Taner Akyol
Beim Hören Ihrer Musik war ich als Europäer verwirrt. Was ist das alles? Habe ich auf die eine oder andere Art Volksmusik gehört in Ihrem Konzert in Hamburg?
Ich sehe meine Musik als zeitgenössische Musik. Volksmusik ist etwas anderes, man würde heute so nicht mehr komponieren. Aber weil da orientalische Instrumente und türkischsprachige Lieder vorkommen, denken Menschen, denen das alles fremd ist, es sei orientalische Volksmusik. Natürlich, da sind zweifellos orientalische Wurzeln drin. Aber eher in dem Sinn, wie etwa Bartoks Musik in Volksmusik wurzelt, ohne dass jemand auf die Idee käme, sie als Volksmusik zu bezeichnen. Wenn Derya Yildirim statt anatolischer Verse italienischen Belcanto gesungen hätte in einer bearbeiteten, modernisierten Form, hätte niemand es als Volksmusik gehört. Oder wenn wir statt Saz eine europäische Mandoline gespielt hätten, wären die Leute kaum auf orientalische Musik gekommen.
Heißen die orientalischen Saiteninstrumente, die Derya Yildirim und Sie spielen, »Baglama« oder »Saz«? Oder ist beides dasselbe?
Das Wort Saz kommt aus dem Persischen und bedeutet einfach nur »Instrument«. Baglama ist der Fachbegriff, aber umgangssprachlich sagt man Saz. Es gibt die Laute seit Jahrhunderten von Anatolien bis Afghanistan. Sie ist einfach seit langem das berühmteste der orientalischen Instrumente.
Sie spielen und komponieren zeitgenössische Musik. Aber wenn Melodien auftauchen, klingt es für mich sofort irgendwie orientalisch.
Mein Melodiegefühl ist anatolisch, keine Frage, das kommt auch so rüber. Wenn ich aber, sagen wir, einen Auftrag habe und ich komponiere für westliche Instrumente, egal ob auch die Baglama dabei ist, dann klingt es natürlich anders, denn es ist atonal und Avantgarde. Das Wichtigste ist, beides lebt in mir.
Sie haben ein ganz normales Kompositionsstudium an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin absolviert.
Ich habe Auftragswerke für die Berliner Komische Oper geschrieben. Letztes Jahr habe ich für die Elbphilharmonie ein ganz neues Stück gemacht, in dem auch orientalische Instrumente Verwendung finden. Aber es ist alles vor allem neue Musik, nichts in erster Linie Orientalisches.
Sie legen Wert darauf, dass, was Sie machen, nicht als türkische Musik verstanden wird.
Ich möchte nicht, dass Musik aus Anatolien als türkische Volksmusik bezeichnet wird. In Anatolien leben Armenier, Kurden, Perser, Araber, auch Türken; vom Glauben her leben da Christen, Aleviten, Sunniten. Türkisch und islamisch, das ist auf gar keinen Fall identisch. Darum nennen wir es anatolisch. Einige auf türkisch gesungene Lieder etwa sind eigentlich kurdisch, bei anderen weiß niemand, ob sie vom Ursprung her eher armenisch, kurdisch oder türkisch sind.
Im zweiten Teil des Konzerts haben Sie zusammen mit Derya Yildirim und dem Ensemble Resonanz anatolische Volksmusik gespielt, die von Deutschen, einem Griechen und Türken modern bearbeitet wurde. Im ersten Teil präsentierte Ihr Trio nur Ihre Eigenkompositionen?
Richtig. Aber es sind eben überall auch anatolische Musikskalen drin.
Ich meine sogar Dodekaphonie gehört zu haben.
Natürlich. Alles mögliche, auch viel Jazz. Was es auf jeden Fall nicht ist – ich hasse den Begriff –: es ist keine Synthese aus irgendetwas. Ich bin in der Türkei aufgewachsen, zum Teil auch hier. Ich bin in der Türkei zur Schule gegangen, in Deutschland habe ich auf der Hochschule studiert. Meine Art zu komponieren resultiert aus dem, was ich in all den Jahren gelernt und erlebt habe. Keine Synthese, sondern einfach die Sprache, die mit der Zeit in mir gewachsen ist. Junge Welt, Juni 2019