GEORGE BENJAMIN IN DER ELBPHILHARMONIE 2019.

der Resident

Vielleicht ist der Schreiber dieser Zeilen zu selten vor Ort für Verallgemeinerungen. Eine Bemerkung sei trotzdem erlaubt: Die Elbphilharmonie kann nichts falsch machen. Denn egal, was auf dem Programm steht, der Laden ist ausverkauft; die Akzeptanz dessen, was geboten wird, ist allenfalls daran zu messen, wie viele Gäste die Konzerte vorzeitig verlassen. Aber die Verantwortlichen des Hauses machen offensichtlich nicht nur nichts falsch, sondern vieles richtig.

Sie nutzen die Attraktivität des Orts und die Gunst der Stunde. Soweit ich mich erinnere, haben absolute Eliteklangkörper der neuesten Musik wie das Ensemble Modern Orchester den Weg nach Hamburg früher überhaupt nicht gefunden. Jetzt sind sie dort mehrmals im Jahr zu erleben. Und präsentieren Werke, die man in der Hansestadt einst allenfalls von Tonträgern kannte. Der Residenzkünstler des Hauses am Elbstrom in dieser Saison, der britische Komponist und Dirigent George Benjamin, präsentierte in seinem zweiten Konzert am vergangenen Sonntag fünf Kompositionen, von denen die älteste 1962, die neueste 2002 entstand.

Fünf grundverschiedene Beispiele Neuer Musik in fünf grundverschiedenen Orchesterstärken, Besetzungen, Klangwelten und inneren Mentalitäten. Pierre Boulez’ »Initiale« brachte mit sieben Blechbläsern von Trompeten bis Tuba einen sich polyphon verzwirbelnden, homophon schichtenden, solistisch glänzenden Geschwindablauf elegant verzeitlichter Energie zu Gehör. Von Olivier Messiaen erklang mit »Sept Hakai« ein japanisch inspiriertes Konzert: klanggewaltig harte, stark rhythmisierte Poesie, intoniert mit Streichern, Bläsern, Xylophon, Schlagwerken und einem Klavier, Solist war ein wie immer uneitel punktgenau arbeitender Ueli Wiget.

Aus dem Rahmen fiel in seiner finsteren Originalität Galina Ustwolkskajas »Composition II«, ein »Dies irae« für acht Kontrabässe, Klavier und einen sargähnlichen, unten offenen Holzkasten, auf dem mit zwei Holzhämmern die musikalische Zeit eingestanzt wurde; eine klanglich und vom Ausdruck her höchst interessante Stilisierung zorniger, rächender Erschütterung.

Nach der Pause kam mit Ligetis »Ramification« ein sich von der Klangflächenmusik schon lösender, kammermusikalisch durchgearbeiteter Klassiker der Moderne (mir schien die Akustik des Saals dafür nicht günstig).

Ueli Wiget

Krönung war das eigens fürs Ensemble Modern Orchester komponierte »Palimpsests« von George Benjamin, ein Stück mit allem, was ein Sinfonieorchester wünschen kann: Extreme Kontraste von laut und leise, dick und dünn, von Tutti und filigran konzertanten Stellen. Streckenweise erscheint die Musik romantisch, aber Faktur und Präsentation sind in ihrer Klarheit und Strukturiertheit prall modern. Auch langsam und schnell gehen ineinander über, satte Tonalitätsnähe und schrille harmonische Freiheit, da schichtet sich – der Titel »Palimpsests« legt es nahe – alles Mögliche zu einem grandiosen Stück opulent dynamischer Orchestermusik der Gegenwart.

Was solche Abende in der Elbphilharmonie besonders macht: Man fühlt sich in seiner Begeisterung durchaus nicht mehr allein – die Mühe, solche Programme zu planen und Wirklichkeit werden zu lassen, scheint sich am Ende vielfach zu lohnen. Junge Welt, März 2019

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