Rudis Frieden.

Vorn drauf, so ähnlich würden sie, in Dialekt eingefärbt, in Mörfelden wahrscheinlich sagen, vorn drauf steht auf dem blauen Umschlag in weiß – in deutsch, russisch, englisch, französisch, spanisch und chinesisch – das Wort „Frieden“. Geschmückt mit der Friedenstaube des Genossen Pablo.

„Es ist November 2022“, hebt, auf den folgenden Seiten ins Russische und Ukrainische übersetzt, Rudi Hechlers Vorwort an. Wer über den Frieden redet, kann vom Krieg nicht schweigen. Also beginnt dieses Buch mit der Situation, in die uns das Geschehen in der Ukraine gebracht hat. Ein Buch über persönlich erlebte Zeitgeschichte. Und vor allem ein im denkbar schönsten alten Sinn rundum gelungenes Buch zum Lesen, ein Lesebuch. Denn Rudi Hechler hat in ihm eine, im doppelten Wortsinn: erlesene Auswahl an Lyrik, Prosa und Dokumentartexten zusammengetragen, die alle sein Leben begleitet, ausgerichtet und bereichert haben.

Schließlich ein Schauebuch. Prallvoll mit alten und brandneuen Fotos in vergilbtem Schwarzweiß bis hin zu digitalen Handyfarben; Bilder vom alten Mörfelden und seinen Menschen, am Ende Fotos von Demonstrationen gegen die aktuellen Kriege des US-Imperiums. Nicht zu vergessen die Abbildungen von Bildkunstwerken, am Beginn eine Hommage an Otto Dix, den wichtigsten proletarischen Maler gegen den Krieg. Rudi Hechler ist durch und durch ein Kulturmensch; man hat es ihm nicht an der Wiege gesungen.

Als eines von vielen Kindern einer Maurerfamilie aus dem hessischen Maurer- und Bauerndorf Mörfelden bahnte er sich seinen Weg in die Welt der Kunst, seine eigentliche Welt, auf eine für seine Klasse typische Weise: „Am 1. April 1948, einem Donnerstag, begann ich meine Schriftsetzerlehre in der damaligen Firma Bayer & Wurm, später Frankfurter Druckhaus. Ich hatte noch nie telefoniert und war noch nie allein weg aus Mörfelden.“ Da war er vierzehn, eine Generation, die in den Erinnerungen der Väter, der Großväter und Onkel seiner Familie den ersten Weltkrieg noch in den Worten derer nacherlebte, die ihn durchlitten hatten.

Als er fünf war, begann der erste große Krieg seiner eigenen Lebenszeit. Zu den eindringlichsten Stellen des Buchs gehören für den Schreiber dieser Zeilen die Passagen, in denen Rudi Hechler die Wege sachlich sprachschöner Geschichtserzählungen verlässt und unmittelbar aus seinem Leben erzählt. Im Deutschland seiner Kindheit wurde eine ganze Generation zu Fremdenhass erzogen. „Ran an den Feind!“ sangen sie in der damaligen Horst-Wessel-Schule, heute nach Albert Schweizer benannt. Der Refrain „Bomben! Bomben! Bomben auf Engeland“ – da war Rudi neun – dröhnte in Form anglo-amerikanischer Bomben krachend blutig nach Deutschland zurück. „Wir sahen wie der Himmel rot war, als Darmstadt verbrannte“, schreibt Rudi poetisch genau. „Wir hatten morgens in der Schule noch warme Bomben- oder Granatsplitter in der Hose zum Tauschen“. Im Hechler-Haus wohnte eine Mieterin mit drei Kindern, der Mann an der Front. Bei Fliegeralarm rannten Rudi und die anderen, vom Vater geweckt, die Treppe herunter, „rissen die Kinder der Mieterin aus den Betten, nahmen ihre Kleider vom Stuhl und sausten in den Keller.“

Käthe und Rudi Hechler beim Ostermarsch in jungen Jahren

Nichts hat er vergessen. Nicht Hiroshima, nicht die Ostermärsche, nicht den großartigen Kampf der deutschen Kommunisten gegen die Wiederaufrüstung der Hitler- zur NATO-Armee. Die Geflüchteten und die Klimakatastrophe kommen zu Wort und ins Bild, der Vietnamkrieg, der Genozid der Nazis an drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Als Rudi Hechler und die DKP-Genossen in Mörfelden im Rathausarchiv zum Thema Verfolgung jüdischer Bürger im Heimatort recherchierten, „konnte man zwar nachforschen, wieviel Hafer die Pferde Gustav-Adolfs gefressen hatten. Über das Schicksal der Juden in unserer Stadt war nichts zu finden“. Am 25. Oktober 1983 beschloss die Stadtverordnetenversammlung auf Initiative der DKP-Fraktion einstimmig die Errichtung eines Gedenksteins am Platz der ehemaligen Mörfelder Synagoge. Heute werden Menschen, die ähnlich handeln und darüber das Schicksal der Palästinenser nicht vegessen, als Antisemiten diskriminiert.

Meist geht Hechler von seinem Heimatort aus; es wird sichtbar (auch auf den vielen Fotos, auf denen Rudi und seine Frau Käthe zu sehen sind), wieviel er selbst als kommunistischer Kommunalpolitiker für diesen Heimatort geleistet hat. Auch die Feiern sind dabei, die großen Abrüstungsdemonstrationen im Bonner Hofgarten, die breiten Bündnisse, die damals zwischen den heute erfolgreich zerlegten Fraktionen der Friedenskräfte möglich waren.

Luther hielt sich 1521 in Mörfelden auf, Lenin fuhr 1917 durch – der kleine hessische Ort bleibt der Mittelpunkt des Buches, der Frieden bleibt sein roter Faden, seine Quintessenz: das Leben Rudi Hechlers. Wie ein Motto steht über diesem Leben, dem Leben einer biblisch großen „merfeller“ Kommunistenfamilie, der von Rudi angeführte Text Erich Frieds: „Solange der Untergang der Menschheit nicht hundertprozentig feststeht, lohnt es sich, dagegen zu arbeiten.“ junge Welt, late Dezember 2022

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Ein Schumann aus Weimar – Lise Klahn, Stephan Katte, Thomas Stimmel

Eine Weimarer CD. Liese Klahn hatte von 2002 bis 2018 als Festivalleiterin der Klassik-Stiftung Weimar ihren Lebensmittelpunkt an der Ilm; dort lebt und arbeitet auch der Naturhornist und Instrumentenbauer Stephan Katte. Zwei Musiker, deren faktische Prominenz nicht im entferntesten an die beeindruckende Qualität und Ausstrahlung ihrer Arbeit ­heranragt, was wiederum dem gegenwärtigen dessen entspricht, was sich hierzulande mit dem Begriff »Klassik« schmückt.

Klahn ist Inspiratorin und tragende Solistin einer neuen Schumann-CD, Katte einer der drei Solisten. Er sei, so das Booklet, einer »der gefragtesten Naturhornspieler«, eine magere Auskunft. Denn Kattes atmend lebendige Spielweise, seine unverdorbene, unpolierte, zugleich hochvirtuose Musikalität sind einzigartig, die Kraft seiner Lippen meistert noch weiteste Intervallsprünge, höchste Lagen organisch. Einer Einleitung ähnelnd, singt sich das in der Mitte der CD platzierte Adagio für Horn und Klavier op. 70 von 1848 auf das zugehörige Allegro hin aus. Das romantische Subjekt, danach schmeckt das Ganze, will statt Distanz und Übersicht Einfühlung, statt Lösung ist ihr nach Auflösung.

Für die neue CD haben sich Klahn und Katte mit dem Bassisten Thomas Stimmel zusammengetan. Liese Klahn entfesselt im einleitenden »Lust und Sturmnacht« fortissimokrachend einen Klaviersturm aus Dissonanz und einer Sorte Wut, die weit über die da komponierten Biedermeierverse Justinus Kerners hinausgehen. Stimmels Bass erzählt, unangestrengt textverständlich und besonders in der Tiefe stimmschön und zurückhaltend treffsicher timbriert, worum es geht. Liese Klahn begleitet nicht demonstrativ und apodiktisch, sie bietet kostbar Offenes an, gibt dem neugierigen Ohr eine Chance.

Bei den zwei Gesangszyklen handelt es sich zunächst um zwölf Lieder Kerners op. 35. Nach dem zentralen Intermezzo des Horns mit dem Klavier erklingt der auf Joseph von Eichendorffs Gedichte komponierte Liederkreis op. 39, entstanden beide in Schumanns »Liederjahr« 1840 – Musik vor dem Hintergrund der Epoche zwischen dem Wiener Kongress und der 1848er Revolution, im letzten Kapitel dieser CD komponiert von Robert Schumann als archetypischem Vertreter dessen, was abendlandweit als musikalische Romantik gilt.

Lise Klahn und Stephan Katte im Schloss Belvedere in Weimar

Bis hinein in die Umgangssprache der Gegenwart ist das Romantische der dem Alltag abgetrotzte Bezirk des Gefühligen. Er ist schon äußerlich an Kulissen kenntlich wie der des Monds unter Palmen oder einer Liebesnacht in der herzförmigen Wanne eines Fünfsternehotel-Hochzeitszimmers (selbst erlebt, nur leider allein). Kunst- und musikgeschichtlich sind »romantische« Phasen die das Hergebrachte oft innovativ dekonstruierenden Reaktionen der Kunst auf geschichtliche Katastrophen, ein sich durch die Jahrhunderte ziehender Expressionismus.

In den Versen des schwäbischen Dichters und Arztes Kerner fehlt nichts, was der Romantik als Indooraccessoir ihrer Flucht ins mythologisch Metaphysische heilig war. Seine Topoi tauchen nahezu alle auch in Eichendorffs Dichtung auf, nur sprachlich verdichtet, metaphorisch zugespitzt: »Aus der Heimat hinter den Blitzen rot / da kommen die Wolken her« – das könnte auch von Georg Trakl sein.

Schumann/Eichendorff: In der Fremde aus op. 39

Grundiert von den harmonischen Wolken des Klaviers im eröffnenden »In der Fremde«, taucht Eichendorffs Schlüsselwort auf. Es spielt in Kerners Biedermeier kaum eine Rolle. In Eichendorffs Romantik dagegen ist Fremdheit die Chiffre für eine ihres Gottes nicht mehr sichere Welt, das Grundgefühl des progressiven bürgerlichen Künstlers.

Thomas Stimmel

Ohne selbst in ihren ausdrucksstarken Passagen des Sängers Präsenz und Verständlichkeit zu gefährden, ruft Liese Klahn in der registerfarbenreich durchsichtigen Räumlichkeit ihres Wiener Bertsche-Flügels von 1830 die Aura des sich im Naturerlebnis vereinzelnden und isolierenden Subjekts herauf. Thomas Stimmels Bass gibt ihm die menschliche Stimme, Stephan Katte die der instrumentalen Natur. Diese Stimme ist in Schumanns Liedern, seiner Klavier- und Kammermusik in besonderer Weise vom öffentlichen Ton zum intimen geschrumpft und darin wunderlich gewachsen.

Die auf der CD verwendeten Instrumente sind zur selben Zeit wie die Musik und für diese Zeit gebaut, sie stimmen klanglich und historisch auch in ihrer Intimität überein. Einzig der menschliche Körper als Resonanzboden der menschlichen Stimme hat sich organisch und klanglich weniger schnell verändert als die Instrumente, die den Gang der Stimme nachzuahmen suchen. Thomas Stimmel, ein Primus inter primi, verwandelt sich ihnen stimmführend an. junge Welt, Dezember 2022

CDREVIEWS

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Mozart und Haydn.

Mozart und Haydn. Oder umgekehrt. Eine Musikerfreundschaft auf Herzenshöhe, die in ihrer Stimmigkeit ihresgleichen sucht in der Musikgeschichte.

Zwischen ihnen lagen vierundzwanzig Jahre Leben und Schwerstarbeit Haydns. Der junge Mozart hatte bereits als Salzburger Konzertmeister schwer achtgegeben darauf, was der ältere Meister so in die Welt setzte, besonders auf die Sinfonien, die sich, von den zwei Schlössern der haydnschen Dienstherren im weltfernen Panonien aus, schnell verbreiteten. Bei Mozart schlug der Blitz ein, als der verehrte Maestro aus Eisenstadt die sechs Haydn-Streichquartette op. 33 veröffentlichte.

Es öffnete sich dem Jüngeren die Welt des Sonatensatzes – das musikalische Denken in den Bahnen der Logik einer, sich so dynamisch wie monadisch entwickelnden Epochenidee von Form, Bewegung, Zusammenhang, es inkarnierte sich im Schaffen Joseph Haydns. Und Mozart? Im Schwammmodus. Er plagte sich. Länger als mit irgendeiner anderen Arbeit hat er sich Anfang der 1780er Jahre mit den sechs, später so genannten „Haydn-Quartetten“ herumgeschlagen. Nach vollbrachter Tat widmete er sie dem Älteren mit den berühmten Worten: „Al mio caro amico“.

So ehrerbietig und in schülergemäßer Bewunderung er zu Haydn stand, so sicher fühlte er sich seit Fertigstellung dieser Quartette seiner Fähigkeiten und begegnete dem Älteren fortan als ebenbürtiger Freund. Haydn vice versa war ihm in väterlicher Bewunderung dessen zugetan, was ihm, Haydn selbst, in ähnlicher Weise nicht zugebote stand. Haydn dürfte, ausgenommen vielleicht Vater Mozart, der erste Mensch gewesen sein, der Mozarts Genie in seiner Bedeutung voll erkannte; er lebte es in seinem Verhältnis zu Mozart aus.

Sigiswald Kuijken

Auf solche Gedanken kann kommen, wer die CD der Haydn-Quartette mit dem holländischen Kujken Kwartett im Haus hat, eine Aufnahme von 1994. Sigiswald Kuijken, einer aus der ersten Generation des Wichtigwerdens historischer Aufführungspraxis in den 1990er Jahren, hat einen dynamisch substanziellen, einen farbig federnden Mozart im Sinn. Die Linien, wenn kontrapunktisch, verlaufen gut hörbar deutlich getrennt voneinander, die Legato-Passagen atmen vibratominimiert wie natürlich ein und aus.

Mozart, wen überrascht es, bewältigt die Sonatensatz-Idee, indem er sie erweitert. So besonders im A-Dur Quartett KV 464, einer Art endgültigen Schnittpunkts der Größe beider Komponisten. Der junge Beethoven hat sich das Werk eigens abgeschrieben, so viel war da zu lernen. Im eröffnenden Allegro wartet Mozart nicht erst bis zur Durchführung mit der Verarbeitung der Themen. Schon in ihren Überleitungsabschnitten werden beide Themen – das erste per Fugato, das zweite variativ – munter durchgeführt. Bemerkenswert auch, wie schalkhaft viel Zeit und Noten sich Mozart nimmt, mit dem zweiten Thema zu Ende zu kommen und nach immer neuen Finten endlich wieder auf dem Grundton zu landen. Das Menuett an zweiter Stelle verwirrt durch die Gebrochenheit des traditionellen Tanzflusses und die eher fanfarenhafte Positur des Themas. Das Andante ergibt sich in sechs Variationen einer zwischen melancholischer Besinnlichkeit und kontrapunktischem Übermut bewegenden Eleganz; in der schon durch ihre Überlänge hervorgehobenen d-Moll Variation, steigert sich die Musik bis in dramatische Gesten mozartscher Niedergeschlagenheit. Das Finale schließlich wirkt in seiner, von absteigender Chromatik und deren verspielter Antithese geprägten Munterkeit wie eine never ending Durchführung hin zu gutem Wetter.

K. 464 IV. Allegro ma non troppo (Kuijen Kwartett)

Alle in Kuijkens Quartett-Familie (allein der zweite Geiger ist nur musikalisch mit den Kuijkens verwandt) sind Barockmusiker. Aus ihren Händen musiziert, wird deutlich: nicht allein Haydn hat Mozart Anfang der 1780er erleuchtet – auch Bach (und Händel). Nicht viele unter den zahlreichen Aufnahmen von KV 464 im Mozartkatalog können das für sich geltend machen. Die Familie Kuijken verbindet die, auch textkritischen Erkenntnisse historisch-kritischen Musizierens mit einer jugendfrischen Lust an Farben und Bewegungsenergie. Damit waren sie 1994 noch recht allein auf weiter Flur. Sie blieben es nicht. Aber so richtig durchgesetzt haben sie sich erst in einer nichtendenden Reihe von ähnlich unternehmungslustigen Nachfolgern.

Der Link aufs Youtube-Audio https://www.youtube.com/watch?v=2rZHwI5f_Ok

Rote Linien

„Rote Linien“, steht über dem Text. Im Vorspann heißt es: „Wie würde die klassische Musikwelt bei einem Angriff Chinas auf Taiwan reagieren? Ein Zukunftsszenario, das viel über unsere Gegenwart aussagt.“ Im Klassik-Onlinemagazin VAN wurde im Mai 2022 auf diese Weise die Fiktion eines Angriffskriegs Chinas auf die Insel Taiwan entwickelt. Der Angriff Chinas, heißt es fantasievoll, habe „am Donnerstag letzter Woche“ begonnen.

China greift an? Ein Szenario, das sich offensichtlich für die Realität internationaler Politik von 1945 bis heute nicht interessiert. Es geht darin mehr um die nach dem eingebildeten chinesischen Angriff zu erwartenden „Zerwürfnisse in der Klassikwelt“. So wichtig solche Zerwürfnisse für ein Klassikmagazin sind – sie sagen über seine politische Haltung mehr aus, als über „unsere Gegenwart“. Denn die Aufzählung dessen, was alles an westlicher Klassik-Prominenz im Sommer 2022 seine Herbsttourneen durch die Volksrepublik absagt, wer seine Residenzen in den chinesischen Metropolen storniert und überhaupt, wer alles revidiert und cancelt, was bisher an Verständigung und mutuellem Vorteil zwischen dem Westen und der aufstrebenden Volksrepublik entstanden ist, vollzieht, bezogen auf China im Grunde nur nach, was, bezogen auf Russland, im Unisono westlicher Propaganda der Gegenwart  längst sprachgeregelt und festgeschrieben war. Solche Aufzählungen riechen, nebenbei bemerkt, in der Situation, in der sie niedergeschrieben werden, auch unangenehm nach Denunziation („Wer hat noch nicht, wer muss sich noch distanzieren“).

Dem umsichtigen Beobachter fiele es leichter, solchen Gedanken zu folgen, hätten so kompetente und durchweg um Gerechtigkeit bemühte Medien wie VAN sich vergleichbar empört gezeigt auch über weltweite Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtswidrige Übergriffe vor dem 24. Februar 2022. Aber von Kriegs- und Hungerkatastrophen wie derzeit quälend lange im Jemen; von Putschen und Interventionen an so vielen Orten der Welt wie nie zuvor; von illegalen Foltergefängnissen, Drohnenmorden an Tausenden unschuldiger Menschen und schließlich vom Schicksal eines Journalisten wie Julian Assange, der es gewagt hat, die Durchsetzung des internationalen Fausrechts durch USA und NATO unwiderleglich aufzudecken – will offenbar VAN bedauerlicherweise nichts wissen.

Die ausgesprochen aggressive Spezifik amerikanischer Geopolitik ist seriös belegt, sie ist unbestritten, nur eben vom Westen extrem einseitig kommuniziert. Würden Medien wie VAN ihre Aussagen über die „politischen Realitäten in China“, im einzelnen etwa über das „hegemoniale Expansionsstreben und die Menschenrechtsverletzungen unter Präsident Xi Jinping“ oder über „die kulturellen Genozide in Tibet und Xinjiang“ bis an die Ursprungsquelle zurück ebenso seriös  belegen, wäre dem an möglichst umfassender Information auch über Russland und China interessierten Beobachter in der Tat wirklich geholfen.

Niemand bestreitet die Existenz des Schreckenslagers im illegal von den USA annektierten Quantanamo. Was aber wäre in den Westmedien, was wäre in der Welt los, nähmen Russland und China allein diese eklatante Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte zum Anlass, massiv mit Flugzeugträgern und Raketenkreuzern im Golf von Mexiko aufzumarschieren, wie es die USA aus dem einzigen Grund einer versuchten Wiedergewinnung ihrer dramatisch schwindenden Weltvormachtstellung seit Jahren im Südchinesischen Meer tun?  Ein Weltkrieg wäre unvermeidlich, würde China, einem weiteren, gezielt frei erfundenen Szenario folgend, wie die USA es mit Taiwan tun, einen sich von der Bundesrepublik abspaltenden sozialistischen Freistaat Bayern bis an die Zähne bewaffnen und demonstrativ diplomatisch aufwerten, indem sie das Land wie ein vollgültiges Mitglied der UN behandelten, obwohl nach den Regeln der Völkergemeinschaft Bayern so gut ein  Teil der Bundesrepublik ist, wie Taiwan ein Teil Chinas.

Bayern ist nicht Taiwan und China hat Taiwan nicht angegriffen. Aber ohne die Volksrepublik, so nun weitere Tatsachen, müsste Taiwan sich ökonomisch schon sehr nach der Decke strecken, so eng sind die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der abtrünnigen Insel und der Volksrepublik, die Menschen beidseits der Straße von Taiwan reisen frei hin und her, Taiwan gehört zu den Großprofiteuren des riesigen chinesischen Festlandmarkts.

Für Chinageneigte hatte das VAN-Szenario – wenn auch natürlich negativ konnotiert – am Ende dann doch auch noch eine kleine Freude zu bieten. Der Star-Pianist Lang Lang, für VAN in Sachen der auch vom Onlinemagazin halluzinierten Aggressivität Chinas allzu lange stumm, ließ sich in der staatlichen englischsprachigen Zeitung China Daily nach einem Treffen mit Xi Jinping 2015 in New York, wo Lang Lang lebt, mit den Worten zitieren: „Ich hätte nie gedacht, dass die Hand von Präsident Xi so warm und weich ist. Er ist der sanfteste und freundlichste Spitzenpolitiker, den ich je getroffen habe. Wie ein echter Onkel. Ich habe mich ihm sehr nahe gefühlt.“ Na, also. Geht doch. junge Welt, November 2022

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Wunschträumerei

Topmodell der Wertebasiertheit: Annalena Baerbock

Irgendwann, so geht einer meiner Lieblingsträume im späten Herbst 2022, wird den im Westen so vielseitig geschätzten „Experten“ dämmern, dass die von ihnen seit zwei Jahrhunderten so unsichtbar beherrschte wie sicher geglaubte „Weltöffentlichkeit“ sich gerade verwandelt. Jüngstes Symptom: der Beschluss der 25. Plenarsitzung der Generalversammlung der UN zum Thema: Nahost atomwaffenfrei! Hinter diese Forderung stellten sich 84 Prozent der Länder des Planeten.

Den Nutzern der Qualitätsmedien des Westens mag man so etwas aber schon seit langem nicht mehr zumuten. Sie wurden lautstark und unisono wie immer nur über die, am 12. Oktober stattgehabte Abstimmungsniederlage Russlands zum Thema Volksabstimmungen im Donbass unterrichtet, Tenor: Putin international dramatisch isoliert! Die Zahlenverhältnisse dieser Abstimmung muten allerdings entschieden mickrig an im Vergleich zur Nahost-Abstimmung, gar nicht zu reden von der in diesem Jahr nicht mehr zu toppend krachenden Abstimmungsniederlage der USA am 3. November in Sachen Kuba-Blockade (s. jW vom 7. 11. Hermsdorf) – isolierter geht’s nicht. Der mündige Staatsbürger erfährt nichts davon.

Die Wirkung solcher Abstimmungsergebnisse blieb – es handelt sich um eine Wunschträumerei – nicht aus. Irgendwann hatte der Westen begriffen: er musste dieser neuartigen Weltöffentlichkeit, da sie nun mal da war, irgend etwas anbieten an Inhalten dessen, was er propagierte. Irgendwas müsste sich doch finden lassen, um endlich das Welträtsel zu lösen und damit herauszurücken, was, dem Inhalt nach, denn um alles in der Welt hinter der westlichen Losung von einer von „wertebasierten“ Regeln definierten Weltpolitik steckte. So etwas musste man der neuen Weltöffentlichkeit ja aber erst einmal verklickern.

Also wieder die Experten. In meinem Traum treffen sie sich in einem, im Vergleich zu früher bescheidenen kleinen Landhaus im schottischen Hochland. Ausgewiesene Spezialisten von mehr als sieben Thinktanks aus fünf Ländern plus internationale Framing-Fachleute kommen in meinem Traum zu einer informellen NATO-Konferenz zusammen, die als „die Schottische“, auch als „The last Scotch“, in die Geschichte eingehen wird. Ausgangspunkt der Beratungen war die absolute Unmöglichkeit, der gewandelten Weltöffentlichkeit nun ausgerechnet mit der Wahrheit zu kommen. Früher hätte man diese Wahrheit, wäre sie vielleicht einmal für Augenblicke ans Licht geraten, kurzerhand als Verschwörungstheorie kaltgestellt. Aber Kaltgestellte halten sich offenbar erstaunlich lange frisch. Also schwierig für den Westen.

Da meldet sich mitten im endlosen NATO-Brainstorming der Sprecher einer kleinen Politmarketing-Bude aus Ostholstein zu Wort. Wir ziehen das Ganze als Betriebsunfall auf! ruft er erregt. Eine Art Tippfehler oder Versprecher oder was weiß ich. Er strahlt übers ganze Gesicht. Ursprünglich, so sagen wir ihnen, sollte es ganz anders heißen, er triumphiert: die Wahrheit, die wir verkünden, hat dieselben Buchstaben wie das fatale „wertebasiert“ – bis auf einen! Denn wogegen wir damals, unter uns gesprochen, die guten alten Weltregeln des Völkerrechts auszutauschen gedachten, was wir stattdessen in Gültigkeit bringen wollten, das waren im Kern natürlich nicht irgendwelche Werte, das waren Werbung und Markt, Gott hab sie selig.

In meinem Traum beschlossen die Experten schlussendlich, auf die klappradschlaue Erzählung aus Ost-Holstein zu setzten. Und sie posteten der wartenden Welt den Lauf der Dinge ergo via Instagram und Twitter wie folgt: Als Ersatz für das aus irgendwelchen Gründen marode gewordene Völkerrecht habe man dem Rest der Welt alternativ – aufgrund eines Betriebsunfalls in den Servern von Ramstein nun aber leider auch irrtümlich – vorgeschlagen, künftig „wertebasierte“ Wege zu gehen. Ein wie sich im Verlauf aber gezeigt habe gar nicht so unfruchtbarer Lapsus oder Übermittlungsfehler. Denn nachdem die Wendung nun einmal in der Welt war, habe sich zur Verblüffung aller Experten gezeigt, dass das Publikum im Westen den rätselhaften Begriff kritiklos schluckte und sich zu eigen machte – sorry, aber man habe damals eben noch in den Verhältnissen der alten Weltöffentlichkeit gedacht. Das zum selben Zweck ursprünglich vorgesehene „werbebasiert“ habe man daraufhin ersatzlos gestrichen – obschon es gewiss positiver ausstrahlt als das doch eher behäbige „wertebasiert“.

Über den Inhalt des per Zufall entstandenen Begriffs „wertebasiert“ habe man sich dann keine weiteren Gedanken mehr gemacht (was vorher im Grunde ja auch schon der Fall war). So hat es sich zugetragen, so war‘s. Einfach traumhaft. junge Welt, November 2022

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Träumereien

Kubaner verfolgen die Abstimmung zur Blockade

Irgendwann, so geht einer meiner Lieblingsträume im späten Herbst 2022, wird den im Westen ubiquitär geschätzten „Experten“ dämmern, dass sich die von ihnen seit zwei Jahrhunderten so unsichtbar beherrschte wie sicher geglaubte „Weltöffentlichkeit“ gerade verwandelt. Jüngstes Symptom: der Beschluss der 25. Plenarsitzung der Generalversammlung der UN zum Thema: Nahost atomwaffenfrei! 84 Prozent der Länder des Planeten waren dafür.

Den Nutzern der Qualitätsmedien des Westens mag man so etwas indes nicht zumuten. Sie durften nur die am 12. Oktober stattgehabte Abstimmungsniederlage Russlands zum Thema Volksabstimmungen im Donbass bejubeln, Tenor: Putin international dramatisch isoliert! Die Abstimmungsverhältnisse im Vergleich zur Nahost-Abstimmung allerdings mickrig, nicht zu reden von der in diesem Jahr besonders krachenden Abstimmungsniederlage der USA am 3. November in Sachen Kuba-Blockade. Isolierter geht’s nimmer.

Die Wirkung solcher Abstimmungsergebnisse blieb – es handelt sich um eine Wunschträumerei – nicht aus. Irgendwann hatte der Westen begriffen: er musste dieser neuartigen Weltöffentlichkeit, da sie nun mal da war, irgend etwas anbieten an Inhalten dessen, was er propagierte. Irgendwas müsste sich doch finden lassen, um endlich das Welträtsel zu lösen und damit herauszurücken, was, dem Inhalt nach, denn um alles in der Welt hinter der westlichen Losung von einer von „wertebasierten“ Regeln definierten Weltpolitik steckte. So etwas musste man der neuen Weltöffentlichkeit ja aber erst einmal verklickern.

Also wieder die Experten. In meinem Traum treffen sie sich in einem, im Vergleich zu früher bescheidenen kleinen Landhaus im schottischen Hochland. Ausgewiesene Spezialisten von mehr als sieben Thinktanks aus fünf Ländern plus internationale Framing-Fachleute kommen in meinem Traum zu einer informellen NATO-Konferenz zusammen, die als „die Schottische“, auch als „The last Scotch“, in die Geschichte eingehen wird. Ausgangspunkt der Beratungen war die absolute Unmöglichkeit, der gewandelten Weltöffentlichkeit nun ausgerechnet mit der Wahrheit zu kommen. Früher hätte man diese Wahrheit, wäre sie vielleicht einmal für Augenblicke ans Licht geraten, kurzerhand als Verschwörungstheorie kaltgestellt. Aber Kaltgestellte halten sich offenbar erstaunlich lange frisch. Also schwierig für den Westen.

Da meldet sich mitten im endlosen NATO-Brainstorming der Sprecher einer kleinen Politmarketing-Bude aus Ostholstein zu Wort. Wir ziehen das Ganze als Betriebsunfall auf! ruft er erregt. Eine Art Tippfehler oder Versprecher oder was weiß ich. Er strahlt übers ganze Gesicht. Ursprünglich, so sagen wir ihnen, sollte es ganz anders heißen, er triumphiert: die Wahrheit, die wir verkünden, hat dieselben Buchstaben wie das fatale „wertebasiert“ – bis auf einen! Denn wogegen wir damals, unter uns gesprochen, die guten alten Weltregeln des Völkerrechts auszutauschen gedachten, was wir stattdessen in Gültigkeit bringen wollten, das waren im Kern natürlich nicht irgendwelche Werte, das waren Werbung und Markt, Gott hab sie selig.

In meinem Traum beschlossen die Experten schlussendlich, auf die klappradschlaue Erzählung aus Ost-Holstein zu setzten. Sie posteten der wartenden Welt den Lauf der Dinge ergo via Instagram und Twitter wie folgt: Als Ersatz für das aus irgendwelchen Gründen marode gewordene Völkerrecht habe man dem Rest der Welt alternativ – aufgrund eines Betriebsunfalls in den Servern von Ramstein nun aber leider auch irrtümlich – vorgeschlagen, künftig „wertebasierte“ Wege zu gehen. Ein wie sich im Verlauf aber gezeigt habe gar nicht so unfruchtbarer Lapsus oder Übermittlungsfehler. Denn nachdem die Wendung nun einmal in der Welt war, habe sich zur Verblüffung aller Experten gezeigt, dass das Publikum im Westen den rätselhaften Begriff kritiklos schluckte und sich zu eigen machte – sorry, aber man habe damals eben noch in den Verhältnissen der alten Weltöffentlichkeit gedacht. Das zum selben Zweck ursprünglich vorgesehene „werbebasiert“ habe man daraufhin ersatzlos gestrichen – obschon es gewiss positiver ausstrahlt als das doch eher behäbige „wertebasiert“.

Über den Inhalt des per Zufall entstandenen Begriffs „wertebasiert“ habe man sich dann keine weiteren Gedanken mehr gemacht (was vorher im Grunde ja auch schon der Fall war). So hat es sich zugetragen, so war‘s. Einfach traumhaft. junge Welt, November 2022

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Putin Waldai 2022.

Wem angesichts des dröhnenden täglichen Nachrichten-Einerlei nicht längst fundamentale Zweifel an der “Freiheit” westlicher Medien gekommen sind, lese die Wikipedia-Seite zu Thomas Röper: Das durchweg so harmlos neutral daherkommende Internetlexikon tritt im Fall des in St. Peterburg lebenden deutschen Journalisten unverstellt als NATO-Pranger auf. Röper macht kein Hehl aus seiner Sympathie für Wladimir Putin, er ist dessen Herold. In einer Medienwelt aber, in der die unverzerrte Wiedergabe von Putins Äußerungen offenbar generell nicht vorkommen darf, kommen die Vor-Ort-Informationen und Übersetzungen wichtiger Texte Putins in Röpers Anti-Spiegel dem Bedürfnis nach kritisch-umfassender Information entgegen, zuletzt Putins alljährliche Rede vor dem Moskauer Waldai-Klub.

Für jedes Feuilleton erfreulich, zitierte Putin bei seiner Tour d’Horizon durch die globale Systemauseinandersetzung Fjodor Dostojewskis Roman »Die Besessenen« (in Deutschland vor allem bekannt als »Die Dämonen«, jW). Pjotr Werchowenskij, eine der Zentralfiguren des Romans, entwirft die den russischen Präsidenten offenbar ans gegenwärtige Wesen westlicher Politik erinnernde Vision eines »grenzenlosen Despotismus«. Verrat, Spitzeltum und Spionage, sagt Werchowenski, würden überall gebraucht, weitere Talente habe die ihm vorschwebende Gesellschaft nicht nötig: »Cicero wird die Zunge herausgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen, Shakespeare wird gesteinigt.« So machte man das in der Vorstellung eines elitären russischen Aufrührers des späten 19. Jahhunderts, wenn es einen Staat zu regieren galt.

Heute geht es von Washington bis Berlin gesitteter zu: Cicero hat im Westen – vor Gericht wie im Parlament – gegen politisch wohlsortierte Richter und Staatsanwälte sowie gegen materiell bestens abgesicherte und zuverlässig formatierte Parlamentarier keine Chance ; Kopernikus werden die Mittel gestrichen, er bekommt keine Professur nirgends, man schweigt ihn tot. Und Shakespeare? Wird einfach neu inszeniert.

Die gewaltigen Propagandabatterien des Westens haben sich bedarfsgerecht auf »autoritäre Regime« und ihre »Machthaber« und »Diktatoren« eingeschossen. Was aber gibt es denn Autoritäreres als die mit knapp 800 Stützpunkten weltweit jeden Widersacher bedrohende und erpressende westliche Führungsmacht? Mit Machthabern und Diktatoren geht der Westen je nach Interessenlage ohnehin sehr gewählt um. Was ihn allerdings in den Augen der wegen wachsender ökonomischer Eigenständigkeit für westliche Einflussnahme nicht mehr so recht erreichbaren südlichen und fernöstlichen Teile der Weltbevölkerung nicht glaubwürdiger macht.

Vieles von dem, was im Russland Putins innenpolitisch vorgeht, kann man offensichtlich nicht gutheißen. Den Kritikern fehlt indes weithin die Kenntnis der Umstände. Der Umgang mit Homosexualität oder mit Kreativen wie dem Regisseur Kirill Serebrennikow ist unter allen Umständen verwerflich. Dennoch hat Putin recht mit dem Hinweis, »dass echte Demokratie in einer multipolaren Welt zuallererst die Möglichkeit eines jeden Volkes (…) voraussetzt, seinen eigenen Weg, sein eigenes soziales und politisches System zu wählen«. In der Monopolisierung der Demokratie durch den Westen, so Putin, liege die kolonialistische Festlegung des Begriffs auf die speziell bürgerliche Art von Demokratie. Die nämlich im wesentlichen in nicht mehr als einem alle vier Jahre wiederholten Wahlvorgang von größter Manipulierbarkeit und kleinster Auswahlmöglichkeit besteht (57 verschiedene Partteien, die alle dasselbe Interesse vertreten). In den vier Jahrhunderten, seit es diese Sorte Demokratie gibt, hat sie den riesigen arbeitenden Bevölkerungsmehrheiten nicht ein einziges Mal eine »Volksherrschaft« im Sinn eines im Interesse dieser Mehrheiten organisierten und ihnen voll zugute kommenden Staatswesens gebracht. Demokratische Alternativen wie die Volksrepublik China sind in diesem Punkt schon jetzt erheblich weiter.

Putin spricht im Namen einer zur Zeit erfreulich wachsenden Zahl von Ländern, die sich nach Jahrhunderten kolonialer Unterdrückung der Einzigartigkeit ihrer Kultur und Geschichte bewusst werden. »Traditionelle Werte«, sagt Putin, »können daher niemandem aufgezwungen werden – sie sind einfach zu respektieren.« Die »Menschheit« wird in solchen Überlegungen von einer Manövriermasse zur eigenverantwortlichen »Schicksalsgemeinschaft« (Xi Jinping). »Dieser Ansatz«, bekräftigt Wladimir Putin in seiner Waldai-Rede, »wird von der Mehrheit der Menschheit geteilt und akzeptiert. Das ist logisch, denn die traditionellen Gesellschaften des Ostens Lateinamerikas, Afrikas und Eurasiens bilden die Grundlage der Weltzivilisation.« junge Welt, November 2022

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Mahler 4.Roth.Les Siècle

Gustav Mahler hat es gewusst. Schon in den langen Perioden, in denen er, zu Lebzeiten und danach, dem Unverständnis nicht aussterbender Banausen und Philister ausgeliefert war – seine Zeit würde kommen. Ob er auch geahnt hat, wie sich seine Musik in der Zeit, da sie sich – erst mit Beginn der 1960er Jahre – schließlich weltweit durchzusetzen begann, mit dem Zeitgefühl immer wieder neuer Generationen Musizierender immer neu aktualisiert? Deren Erfahrungsschatz, analog zum immer größer werdenden Abstand zur Zeit der Werkentstehung, wächst und wächst.

Aktuelles Resultat: Die Neuaufnahme von Mahlers 4. Sinfonie mit dem französischen Dirigenten Xavier Roth, er arbeitet in diesem Fall mit seinem, auf den Instrumenten der Entstehungszeit der Werke musizierenden Ensemble Les Siècle.

Nicht, dass schon allein die Wahl alter Instrumente die Entstehung von etwas aufregend Neuem garantierte. Es ist die Idee des Dirigenten vom Stück, die den Unterschied macht. Und trägt sie, wie in diesem Fall, in dem der Klang der mehr als hundert Jahre alten Fagotte, Oboen, Klarinetten, Trompeten von Les Siècle die Idee des Dirigenten trägt, wäre von einem Glücksfall zu reden.

Mit Einsetzen der „spitzigen Vorschlagsquinten und gedudelten Motive der Flöten und Klarinetten“ (Hans-Heinrich Eggebrecht) zu Beginn des ersten Satzes fällt der ungewohnt scharfe, charakteristisch farbige, die Faktur des Satzes grell ausleuchtende Ton der Instrumente von Les Siècle ins Ohr. Er schafft eine beim Publikum eher unbeliebte, weil weithin unverstandene Distanz zum Gehörten. Sie liegt im Zentrum der Absichten dieses Komponisten, sie macht ihn modern.

Mahler gilt Fachwelt wie Publikum als „unpolitischer“ Künstler. Aber was soll das schon heißen? Er wurde 1860 im böhmischen Iglau in eine wohlhabende bürgerliche Familie hineingeboren. Ein prügelnder Vater, später die für einen, trotz seiner Erfolge Provinzler Gebliebenen schockierende Erfahrung des modernen Großstadtmollochs Wien, schließlich die auf den ersten Weltkrieg zulaufende, schier unaufhaltsam erscheinende Zuspitzung imperialistischer Weltaufteilung – über die normalen Katastrophen der bürgerlichen Familie hinaus durchlebte Gustav Mahler eine entscheidende, besonders spannungs- und endzeitstimmungsgeladene Phase europäischer Weltgeschichte. Statt wertend in Worten, hat sich Mahler dem Geschehen ausführlich im Denken und in der Sprache der Musik gewidmet. In ihr fand er Zuflucht und eine sehr persönliche Form des Kommentars zur Sorte Welt, die ihm seine Klasse da zumutete. Es ist nicht mehr die Idee, wie Theodor Wiesengrund Adorno schreibt, die per Musik illustriert, orchestriert, demonstriert wird. Als Mahlers Musik ist es die Idee selbst, die sich hören lässt.

Hans-Heinrich Eggebrecht zitiert in seinem Buch über „Gustav Mahlers Musik“ einen Brief des 19jährigen. Schon früh beginnt der, sich selbst aufzuspalten. Er kommt mit der bürgerlichen Wirklichkeit nicht klar. Hie die äußere Welt, die „Zivilisation“, laut, brutal und voll Lügenhaftigkeit, voll „moderner Heuchelei“. Dort das, was er ihr entgegensetzt: Eggebrecht nennt es „das Andere“, weil Mahler es nicht auf den Begriff bringen mag. Wer seine langsamen Sätze kennt, weiß: sie sind wunderschön, aber auch in ihnen geht die bürgerliche Dichotomie von Paradies und Welt, von Freude-Oden-Traum und Börsenkriegswirklichkeit nicht auf. Nach Beethovens optimistisch-apotheotischen Lösungsversuchen am Beginn des Jahrhunderts lösen sich an seinem spätromantischen Ende – darin gleichen sie Opiaten – in Mahlers Adagios die Visionen des besten Teils der Bürgerklasse in die Geschichtslosigkeit geradezu außerirdischer Glücksgefühle auf. Aber nichts gegen das Glück! Es ist wie mit Hegels Idealismus: es kömmt drauf an, was im Fall von Mahlers Adagios das Ohr – in ihm erst vollendet sich das musikalische Kunstwerk – draus macht.

Schon an der Frage, wie mit Mahlers Darstellung der Außenwelt umzugehen wäre, haben sich die Geister geschieden. Unbestritten: Mahler verwendet dafür das musikalisch Gegebene, Abgetane und Abgestandene; er entnimmt es nicht der Hochkultur, er bedient sich bei Pop und Schlagern seiner Zeit. Das ist lange als seine Art Neo-Klassizismus verstanden und musiziert worden, am Anfang verstand man ihn einszueins als „romantisch“

Aber Mahler, wie er in einem Brief schreibt, distanziert sich vom rastlosen Kulturbetrieb seiner Epoche als von der „ewigen Jetztzeit“. Sie ähnelt in ihrer Geschichtsfeindlichkeit und Abgeschmacktheit der Gegenwart. Wie zu Mahlers Lebenszeit (1860-1911) scheint 2022 diese Gegenwart zauberbergmäßig auf die Katastrophe zuzutaumeln – mit dem nicht unwichtigen Unterschied, dass der sich beschleunigende Abstieg der westlichen Weltführungsmacht das globale Kräfteverhältnis derzeit dramatisch verändert. Mahler richtet das Abgeschmackte sinfonisch so her, dass in ihm die strukturelle Verlogenheit historischer Endzeiten hörbar wird.

Daraus haben Eggebrecht, vor ihm Adorno, abgeleitet, die Realwelt-Darstellung bei Mahler müsse als sarkastisch karikierender, bitterer Spott auf die Kapital-Welt gespie(ge)lt und gehört werden; Dirigenten wie Michael Gielen haben das seit den 1980er Jahren beispielhaft vorgemacht.

I. bedächtig, nicht eilen

Xavier Roth geht andere Wege. Ich höre bei ihm im ersten Satz, um den es in der Vierten hinsichtlich der Distanz beispielhaft geht, eher den mozartschen Ansatz des humoristischen Spätwerks „Ein musikalischer Spaß“ KV 522. Ganz im Sinn des musikalischen Kehraus in der Coda von Mahlers Eröffnungs-Allegro musizieren Les Siècle Mahler, wie der seinen ersten Entwurf überschrieb: als „Humoreske“. Da hat ein Freigeist einen banalen Betrieb zum Besten, er stellt ihn mit größter Raffinesse bloß. Aber Mozart machte sich einen gutmütigen Spaß über seine minderbegabten Kollegen, als die er sich in KV 522 kunstvoll verkleidet. Ohne an den ätzenden Stellen das Ätzende, Mahlers Angeekeltsein, zu unterschlagen, bläst Roth, wie der Wiener Klassiker, aus der Asche des Eventkulturmülls schon der Mahler-Zeit die Glut echten Musikantentums, das aktualisiert diese Musik.

Und das „Andere“? Auch noch die linksbürgerliche Mahler-Exegese verlegt das Territorium des Anderen ins Jenseits uneinlösbarer Ewigkeit. Aber was hindert alle, die statt der Ewigkeit mehr die Geschichte interessiert daran, Gustav Mahlers magische zweite Sätze als Vorgriff zu hören auf eine Zeit, in der sich – so es der Menschheit gelingt, die Blutsauger vom Hals zu kriegen – ein Wohlsein ausbreitet im Gefühl einer Welt, die sich die haltbaren Voraussetzungen geschaffen hat für ein Leben ohne Angst. junge Welt, Oktober 2022

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Weltlage.

 “China schwächelt“, liest man erstaunt. Das hat sich Friederike Böge aus Pinneberg so gedacht. Sie ist Korrespondentin in Fernost. Ein Profi. Exzellent ausgebildet. Aber sie hat’s nun wirklich nicht leicht. Sie sitzt für die FAZ in Beijing. Und jetzt ist dort Parteitag. Die Welt schaut auf diese Stadt, die Menschheit spitzt die Ohren. Was hat der erste Mann des jahrtausendealten, seit 1949 sozialistischen Staatsgebildes im fernen Osten – es wurde im 19. Jahrhundert vom Westen in den Opiumkriegen vorläufig erledigt und steigt gerade wieder zu historischer Größe auf –, was hat Xi Jinping zur Weltlage zu sagen?

China schwächelt. Unter der Überschrift hatte Böge das Vorfeld des Parteitags bestellt. Sie hat offenbar ein Problem. Die Zahl der Menschen, die noch glauben, was Böge aus Beijing zu berichten weiß (und zu berichten hat), hält sich vorläufig im Deutschsprachigen zwar konstant auf beruhigendem Niveau. Aber die fleißige Fernost-Korrespondentin hat nach Feierabend möglicherweise einen etwas weiteren und freieren Blick auf die Welt, als sie ihn für ihre Leserschaft für richtig hält. Da könnte ihr aufgefallen sein, dass derzeit, auf die Menschheit hochgerechnet, die Zahl derjenigen statistisch relevant abnimmt, die noch für bare Münze halten, was da an Nachrichten und Geschichten, weltweit unisono und bögemäßig blubbernd und bollernd und ballernd aus dem Info-Pipelinenetz des freiheitlichen Westen quillt.

Machen wir’s kurz. Niemand wird leugnen, dass der Trikont – die drei so lange aus der Weltgeschichte verdrängten Kontinente Afrika, Südamerika und Asien – sich neu sortiert. Er tut das auf atemberaubend widersprüchliche Weise, aber es tut sich was. Der Westen stemmt sich konzentriert wie nie zuvor mit kriegerischen Interventionen dagegen, deren 469 waren es laut wissenschaftlichem Dienst des US-Kongresses seit 1978 (siehe Nachdenkseiten). Die letzte findet gerade in der Ukraine statt. Die nächste wird schon in Taiwan vorbereitet.

Unter den vielen Zitaten aus Xi Jinpings Parteitagsrede hat sie bedauerlicherweise das interessanteste weggelassen, jenes, in dem Xi von „globalen Veränderungen“ spricht, „wie sie in einem Jahrhundert nicht gesehen worden sind.“ Starker Tobak. Wenigstens nach der Arbeit könnte sich da doch möglicherweise die Frage stellen: Was meint er denn damit? Und hat es möglicherweise mit globalen Vorgängen zu tun, welche die so lange schon bestehende Weltordnung im Moment gerade so sehr verändern, dass dieselbe sich unter vielleicht apokalyptoiden Umständen am Ende in ihrer gewohnten kolonialistischen Gestalt nicht mehr wiederfindet?

Seit Untergang des Realsozialismus ordnet sich die Welt neu. Die USA drängen mit ihren annähernd 800 Militärstützpunktern in aller Welt auf alleinige Weltherrschaft. China und Russland haben sich dagegen für eine unilaterale Ordnung entschieden. Wie werden sich am Ende Indien, Pakistan, Brasilien, Arabien, der Senegal, der Kongo und andere entscheiden? Am Ende werden sich zwei große Lager gegenüberstehen. Von denen freilich das kleinere zurzeit immer noch etwas kleiner wird. Und sich aber treu bleibt. Nachdem die koloniale Ordnung für immer dahin ist, setzt es auf koloniales, blutiges Chaos, mag es kosten, was es wolle, es ist den Preis wert. Hauptsache billige Rohstoffe. Alles oder nichts. Das Problem dieser Losung des Westens: in dem „nichts“ steckt das Schicksal der Menschheit, unser aller Leben.

Dagegen stellt das Lager des Trikont – es repräsentiert, so zögerlich wie schwer durchschaubar zusammenwachsend, im Moment um die Dreiviertel der Weltbevölkerung – die Forderung nach einer veränderten, nämlich einer unilateralen Weltordnung. Nach den Regeln einer entsprechend den veränderten Kräfteverhältnissen neu gestalteten UNO werden sich in ihr die Völker vielleicht endlich darauf besinnen, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Es wird endlich das schöne Wort „fair“ nicht mehr den albernen Wortspielen des Marketing vorbehalten sein und niemand mehr wird hämisch und bösartig über China herfallen oder über sonst wen, der nicht spurt.

Soweit ist es vermutlich noch lange nicht. Aber es ist erkennbar soweit, das die Völker in einer, so weit wie vielleicht noch nie zugespitzten Lage des Planeten, beginnen, sich der Schlussfrage aus Brechts Solidaritätslied zu besinnen, die da, plötzlich wieder aktuell und frisch, immer noch lautet: Wessen Morgen ist das Morgen / wessen Welt ist die Welt? junge Welt, Oktober 2022

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Little Richard on Muhammad Alis Party.

»Little Richard ist mein Lieblingssänger. Er kam auf die Party zu meinem 50. Geburtstag, um meinen Lieblingssong zu spielen: ›Good Golly, Miss Molly‹. Ich sagte ihm: ›Du bist der King – Du BIST der King.‹«

Muhammad Ali

Sternstunden bewegter Bilder mit Ton auf einem Vierfarbbildschirm finden seit langem in nennenswertem Umfang nicht mehr in den Programmen öffentlich-rechtlicher oder privater Sender statt. Man kann sie auf Plattformen oder in Foren erleben, in diesem Fall auf Youtube.

Am Abend des 17. Januar 1992 begegnen sich in Los Angeles zwei Männer, die man mit Fug und Recht wirkliche Helden ihrer Zeit nennen kann. Denn ihr Heldentum verdankt sich nicht den kommerziell billigen Mythen der Werbewelt – sie haben beide, jeder auf seinem Gebiet, Historisches geleistet.

Am Klavier und Gesangsmikro auf der Bühne: Little Richard. Links von ihm, auch noch im Rampenlicht, im Parkett gleich an der Bühnenrampe, im edlen Smoking und gezeichnet von der Krankheit, das 50jährige Geburtstagskind des Abends: Muhammad Ali – der Champ aller Champs im selben Video mit dem Erfinder und Gott des Rock ’n’ Roll. Little Richard in blauen Glitterärmeln, die Glutaugen schwarz geschminkt wie immer, die gefärbten Haare für seine Verhältnisse schon ein bisschen zottelig, aber die Finger beim Singen – früher machte er das im Stehen – hämmern auf die Tasten wie eh und je. Dazwischen immer wieder eingeblendet der sichtlich einverstandene Champ. Richard Wayne Penniman spielt für ihn, er schaut mit dem dritten Auge immer zu ihm hin, kein Zweifel, ihre Verehrung beruht auf Gegenseitigkeit.

Cassius Clay vs. Sonny Liston (m.u.)

Beide sind knapp Generationsgenossen. Muhammad Ali kämpfte sich zu den Klängen von auch Little Richards Musik an die Weltspitze. Ohne diese Musik, so scheint es, hätte er nicht so tanzen können beim Boxen. Little Richard, auf dem gleichen Weg nach oben, verfolgte zur selben Zeit fasziniert die dito die Welt ihres Fachs stürzenden und erneuernden Leistungen des elegantesten, intelligentesten, ichstärksten und vorbildlichsten Schwergewichtsweltmeisters aller Zeiten.

Good Golly Miss Molly

Um ein bekanntes Bonmot des Milliardärs Warren Buffett zu variieren, sind die beiden in dem »Rassenkrieg«, den die US-amerikanische Elite seit Staatsgründung gegen die aus Afrika ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten verschleppten Menschen und ihre Nachfahren führt und mit jeder Polizeikugel noch immer gewinnt, – auch Brüder. Man spürt es, man sieht es ihnen an: Sie sind »Rassenbrüder«.

»Rasse« nicht in der Nazilogik des Schlachthofs. »Rasse« (im Sinne von »race«) als soziokulturelle Atemluft diesseits auch der Klasse. Der Champ kennt das musikalische Idiom von Kindesbeinen an, das sich bei Little Richard entfaltet, es ist auch Muhammad Alis Welt. Der andere, der große Little Richard, ist nicht weniger stolz darauf, dass sich die Großartigkeit »dunkelhäutiger« Menschen auch im internationalen Boxsport so edel verkörpern kann.

Der Champ ist eine Legende nicht nur seiner Kämpfe wegen, allem voran die drei gegen seinen Freund Joe Frazier und der Rumble in the Jungle 1974 gegen George Foreman. Die Wirkung seiner alles und alle überragenden Sportlerpersönlichkeit – 1999 wurde er vom IOC zum Sportler des Jahrhunderts ernannt – geht auf seine Entscheidung im Jahr 1967 zurück, bis zu fünf Jahre Gefängnis auf sich zu nehmen, die man ihm androhte, als ihm die Verweigerung des Wehrdienstes zu Vietnamkriegszeiten (»Kein Vietcong hat mich je ›Nigger‹ genannt«) wichtiger war als der Weltmeistertitel.

Little Richard hat sich dergleichen nicht getraut. Aber die Kraft seiner Musik – sein Klassiker »Tutti frutti« hat noch uns heranwachsenden Achtundsechzigern in der fernen US-Kolonie zwischen Rhein und Elbe die Welt jenseits der Hausratsversicherung eröffnet –, kam aus den Erfahrungen seiner »Rasse«. Wer diese Musik hört, weiß, dass Buffett, genau wie dieser andere Typ mit dem japanischen Namen mit seinem bescheuerten »Ende der Geschichte«, locker ins Klo gegriffen hat.

Was sollen die Vertreter einer allein militärisch noch nicht extrem ausgelaugten Weltmachtclique am Ende auch ausrichten gegen die Lebenslust von »Good Golly, Miss Molly«. In den Kommentaren auf Youtube heißt es: »This dude was light years ahead of his time, and he remains timeless.« (Dieser Typ war seiner Zeit um Lichtjahre voraus, er bleibt zeitlos.) Wer könnte so etwas je von Warren Buffett behaupten?

Am Ende: Little Richard steht irgendwann gegen Schluss der Nummer auf – das Orchester ohne den hämmernden Puls seines Klaviers: Wassersuppe –, er verbeugt sich. Er geht auf den wie alle anderen stehend applaudierenden Champ zu, leider entfernt sich die Kamera in der Totale nach oben. Sie umarmen einander. Wieder nah, flüstern sie sich wechselseitig Freundlichkeiten ins Ohr, Little Richard legt dem Champ dabei fast zärtlich den Arm um. »Good Golly, Miss Molly«. Der Song (geschrieben von John Marascalco und Robert Blackwell) ist in der Liste der 500 besten Songs aller Zeiten im Rolling Stone an 94. Stelle gelistet. Brother, I know what you mean. junge Welt, Oktober 2022

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Chromatisches Wetter

Für Vera.

Es regnet seit gestern. Auch das noch. Er war so tröstlich an vielen Tagen, dieser im Licht einer tieferwandernden Sonne schimmernde und blassglühende, dieser oft so schön in die Sternennacht hinüberdämmernde Herbst.

Das Wort „kämpfen“ hat bei den Kommunisten ein schrecklich heroisches Rückgrat. Unerreichbar die Helden des antifaschistischen Kampfes in ihrer Standhaftigkeit, ihrem selbstlosen Mut, in ihrer Leidensfähigkeit. In Brechts in so vielen Traueranzeigen verstorbener Vorbilder zitierten Zeilen über jene, die in der Spitze „ein Leben lang“ kämpfen, weshalb sie die Stärksten sind und unentbehrlich, taucht immerhin das Leben auf.

Es verläuft nicht heroisch, es ist es an keinem Punkt. In einem bestimmten Entscheidungsmoment auf Leben und Tod, so wäre es vorstellbar, setzt sich in dieser oder jenem spontan – und natürlich aufgrund bestimmter psychosozialer politischer Prägungen und Einsichten – so etwas wie eine Notwendigkeit durch. Auch das Wort Opfer wäre der nachmaligen Heldin, dem späteren Helden nie in den Sinn gekommen. Es könnte mehr ein nanosekundenschnelles Abwägen sein: In meinem Wagnis rechnet sich mein Einzelleben gegen die vielen Leben der Genossinnen und Kameraden auf, die durch mich, die ich und der ich es nicht mehr erlebe, gerettet werden. Aber selbst das hat, wie alles, eine Dialektik. Was der Held, die Heldin vollbringt, ist auch eine Art Freitod. Die Selbstlosigkeit lässt das Selbst im Stich. Das ist das Beklagenswerte am Heroismus.

An Tagen wie diesem, unter so grau verhangenen Himmeln, solche Nachrichten im Ohr, solche Lügen und Hasspredigten, sind wir keine „Kämpfer“. Wir sind inmitten aller vom Lügengewebe fest Umstrickten und Vergifteten, mit ihnen auch Opfer. Wir sind allein. Das weltrevolutionäre Zentrum hat sich verschoben, es liegt fern im Süden, im fernen Osten, die starken Genossinnen und Genossen an unserer Seite sind weit weg.

Unsere Sache steht so gut wie nie. Sie ist zugleich, zusammen mit der Erde, auf der wir leben, so gefährdet wie nie zuvor. Unsere Stärke in unserem Land könnte in der Biegsamkeit liegen, von der Brecht in der chinesischen Legende den Weisen im Bild des Wassers, das den Stein höhlt, sagen lässt, das Weiche besiege das Harte. In der Kunst des Hinnehmens dessen, was wir – vorläufig und weit entfernt von fernöstlichen Legenden – nicht ändern können und in der Weisheit, uns darauf einzulassen und damit zu leben, bis sich die Zukunft wieder öffnet.

Auch mit dem Gedanken der Möglichkeit, dass die Zukunft sich nicht wieder öffnet, haben wir zu leben. Kämpfende, da sie über die gigantischen Gefahren, die Menschheit und Erde derzeit drohen, gut unterrichtet sind, erfüllt die Angst um ihr Leben vielleicht noch stärker als andere. Für was wir am Ende schließlich vorab kämpfen, ist ein „Leben, ohne Angst zu haben“.

Auch für solche Herbsttage gilt das. Ihnen spielt kein großes Orchester auf mit viel Blech und Pomp. In ihnen erklingt eine arme kleine Triangel. Hören wir ihr erst einmal einfach nur zu. Auch sie begleitet uns. Gemach, sie wird ihren Platz im großen Ensemble schon wieder finden. junge Welt, September 2022

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Currentzis’ Ukraine-Spagat

Das musste so kommen. Dem griechischen Dirigenten Teodor Currentzis wird seine Lebensentscheidung so langsam zum Problem. Er hat in Russland studiert, hat seine Musikerkarriere dort aufgebaut und mit der Gründung des russischen Ensembles und Chors MusicAeterna den Schwerpunkt seiner Arbeit sehr erfolgreich zuletzt nach St. Petersburg verlegt – um zugleich als inzwischen hochgefragter internationaler Star auch im Ausland tätig zu sein.

Denn „Ausland“, das ist in der Klassik immer noch schwergewichtig der Westen, innerhalb seiner Deutschland eine der feinsten Adressen. Darum war es konsequent vom Griechen mit dem russischen Pass, sich mit dem SWR Symphonieorchester einen deutschen Klangkörper (einen der besten) als Auslandsstützpunkt zu wählen.

Aber dann kam der 24. Februar 2022. Ein Sturm brach los. Der Westen fiel über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Russen her, selbstgerecht und doppelzüngig, als hätte es die dreistellige Millionenzahl an Opfern US-amerikanischer und europäischer Kollonialkriege seit 1945 nie gegeben. Dagegen sehen die doppelten Standards westlicher Ethik gesellschaftsweite Empörung über den russischen Krieg vor, verbunden mit dem täglichen Ruf nach immer mehr Waffen. Wer den Gesslerhut der Geißelung des völkerrechtswidrigen, grausamen etc. russischen Angriffskrieges nicht grüßt, fliegt raus aus der Wertegemeinschaft westlicher Gesellschaften.

Solch meinungsfreiheitlich-demokratisch verordneter Gesinnungsschnüffelei fielen einige russische Musikerkollegen von Currentzis zum Opfer. Sie waren allzu verstrickt in Putins Machtgefüge. Das Gros der anderen, durch hochdotierte Chefdirigentenposten oder Solisten-Stargagen im Westen bestens abgesichert, grüßte den Hut.

Currentzis aber schwieg und schweigt. Das Online-Klassikmagazins VAN führt in einem gründlich recherchierten Beitrag zum Thema Currentzis‘ Beziehungen zur halbstaatlichen VTB-Bank oder zum Gazprom-Konzern an. Aber Currentzis‘ Ensemble MusicAeterna ist basisdemokratisch und staatsfrei organisiert, allein vom Kartenverkauf kann es nicht existieren; es braucht und nutzt sympathisierende Unterstützer aus Wirtschaft und Politik. Mehr ist es nicht. „Ein Skandal“ also, resümiert VAN ironisch, „dass man ihn in Dortmund, Salzburg oder Hamburg weiter auftreten lässt!“ Das Magazin führt indes auch Kommentare des flamboyanten Dirigenten an, die putinkritisch sind. So sagte er etwa 2018, »alles (in Russland sei) korrupt, wir kennen das seit mehr als 1000 Jahren. « Und 2017 kritisierte er mit deutlichem Seitenblick auf Valerij Gergjev die in der Tat zu verurteilende Verhaftung des Regisseurs Kirill Serebrennikov: „Bekannte Männer veruntreuen offen riesige Geldsummen und bleiben frei, leiten nach wie vor Staatstheater und genießen große Privilegien. Gleichzeitig landen Menschen, die echte Arbeit leisten, Menschen, die in der modernen Kunst etwas Neues schaffen, das in der ganzen Welt anerkannt wird, im Gefängnis.“ Er unterschrieb die Petition zur Befreiung Serebrennikovs. All das lange vor dem Februar 2022.

Die letzte Meldung in der Angelegenheit stimmt nun allerdings wirklich traurig. Wenn selbst ein so integrer und besonnener Mann wie Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner Philharmonie, dem transatlantischen Druck nach langem Zögern nachgibt und das nächste Kölner Currentzis-Konzert im Januar 2023 mit Verweis auf den russischen Krieg absagt, muss der Druck der NATO-Sittenrichter wirklich extrem wirksam sein.

„Teodor Currentzis und die Mitglieder des SWR Symphonieorchesters stehen mit aller Deutlichkeit hinter dem gemeinsamen Appell für Frieden und Versöhnung“, zitiert VAN die Erklärung des Dirigenten und seines fabelhaften deutschen Orchesters zum Krieg. „Zaghaft“ nennt VAN solche Worte. Sie klingen aber nur „zaghaft“, weil die NATO lange vor dem Ukraine-Krieg Begriffe wie „Frieden“ oder „Versöhnung“ oder auch nur “Diplomatie” aus ihrem Denken und Wortschatz gestrichen hat. Sie wären die Lösung. Putin, innenpolitisch fraglos anfechtbar, hat außenpolitisch bis zum 24. Februar 2022 überzeugend versucht, ihnen alle Türen zu öffnen. junge Welt, Oktober 2022

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