Saisonstart 2022/23. Ensemble Resonanz.

Prohaska und Minasi

Saisonauftakt. Das Ensemble Resonanz holt Luft, ohne Maske. Dass es inzwischen zur Normalität gehört, wenn das Residenzorchester des kleinen Saals der Elbphilharmonie auch im großen Saal auftritt, verweist auf die immer noch wachsende Bedeutung dieses Elite-Kammerensembles der Hansestadt.

Auch der Anspruch wächst. Unter dem Motto »höre, was Du hier nicht siehst« hat sich die Gruppe in der Spielzeit 2022/23 vorgenommen, die der Musik aufgrund ihrer einzigartigen Möglichkeiten der Codierung von Bedeutungen und Gehalten spezifische Uneindeutigkeit zu erkunden.

Dabei bleibt sich das Ensemble treu. Es vermeidet Schritt für Schritt programmatisch die Wege eines konventionellen Klassikbetriebs, dessen Spuren – bei extremer äußerer Glätte und Exzellenzakrobatik – so ausgetreten sind, dass es meist schon eine arge Langeweile ist, so einem Klassikkonzert beizuwohnen.

Am Mittwochabend war ein Klangkörper zu erleben, der die Bühne zwanglos im freilich immer noch obligaten Schwarz nicht zunächst ohne einen Dirigenten betrat, der dann, nach einer erwartungsvoll gespannten Pause üblicherweise unter Applaus nachfolgt.  Riccardo Minasi kam an der Spitze seiner Musiker relativ entspannt herausgeschlendert, hielt nichts vom Bad im Beifallsgeprassel und legte nach kurzer Verbeugung los.

Allegro-Beginn „Haffner Sinfonie“ KV 385. Man hört ihr an: ganz knapp noch nicht der „große“ Mozart (1756-1791). Aber schon der Schöpfer des Idomeneo und der Entführung; ein 26jähriger, den die Arbeit mit dem    Mannheimer, späteren Münchner Hoforchester über Samartini und den frühen Haydn schon weit hinaus getragen hat zu einer innovativen Behandlung der Struktur und Dynamik des Orchesterklangs. In die vier Sinfoniesätze Mozarts in wohlüberlegtem Wechsel eingeflochten, mit ihnen zusammen in den Ablauf der Dramaturgie eines neuartigen Konzertabends gebracht: die sechs Sätze der Lyrischen Suite Alban Bergs (1885-1935), dazwischen mit vier Arien noch ein Querschnitt durchs Opernschaffen Mozarts.

So hat man schon zur Beethovenzeit Programme gebaut. Wäre zu hoffen, dass bemerkenswerte Teile des Hamburger Publikums sich, wie die Leute damals, aufs produktive Glatteis aufmerksamen Hinhörens und offener Fragen einließen: Was an Mozarts Musik ist anders als an der Alban Bergs? Hört eins dieselben Gefühle und wenn ja, welche? Oder die ganz einfache Frage, die sich auftut, wenn die gewohnten Abläufe weg sind: Was um Himmels willen kommt jetzt?

Manch eines wird sich gewundert haben an diesem Abend. Wie verblüffend, im Wortsinn stimmig etwa Bergs Andante amoroso (man hatte die Reihenfolge kurzfristig vertauscht) geradezu überging ins Andante der Haffner Sinfonie. Wie Bergs Presto delirando – schon der Titel legt es nahe – die berühmte Arie der sich vor lauter Liebestreue in einen moralischen Leuchtfelsen verwandelnden Fiordiligi aus Cosi fan tutte vorab rein nervlich schon geradezu antriggert. Anna Prohaska als Diva des Abends war eine stimmlich duftend gartentaugliche (bei der Musik!) Figaro-Susanna, eine in moralischen Koloraturen trefflich rasende Fiordiligi, eine – vorbereitet von Bergs herzzerreißendem Largo desolato – mit der dunkelfröhlichen Bassklarinettenbegleitung warm und spielerisch harmonierende Vitelia aus La Clemenza di Tito. Allein die Traurigkeit der Konstanze aus der Entführung wollte nicht einleuchten. Das gebrochene Verhältnis der Oberklassenmitglieder zu ihren Gefühlen glaubhaft darzustellen, ist sängerisch nicht leicht, selbst Mozart hatte komponierend Probleme damit; noch Pamina in der Zauberflöte findet das Leben in sich am Ende nur im Hinblick auf ihren Freitod, respektive im Duett mit Papageno, dem Helden der Unterklasse.

Beim Hören solcher Programmierungen ergeben sich Fragen: Wie etwa handeln Mozart und Berg über gut ein Jahrhundert hinweg so etwas wie „Intimität“ ab. Die Intimität der von Susanna in ihrer „Gartenarie“ listig versteckten Liebesbotschaft an den im Gartendunkel gewussten Titelhelden dieser Mozartoper löst sich melodisch unfassbar glückselig in den Charakteren beider Liebenden auf.

Alban Berg

Auch Bergs Musik ist intim. Aber gebrochen in ihrem Verhältnis zur Form und zum Gehalt. Seine Klage, sein Schmerz, sein Liebestoben – der biografische Anlass der Arbeit war eine, infolge schon vorhandener Lebenspartner uneinlösbare Liaison – sprechen sich auch in seiner Musik aus. Auch das imaginäre Eintauchen ins Liebeserlebnis mit der Unerreichbaren wird Berg, etwa im Adagio appassionato zu von Leidenschaft durchpulstem Klang. Das rätselhafte Allegro misterioso mit dem chromatischen Gewisper der sordinierten Streicher, mit ihrem Pizzikatofeinstgewebe – kontrapunktische Schreibweise, beim mittleren Mozart noch zurückgehalten, wird von Alban Berg in dauernd vielfach geteilten Streichern, oft auf engstem Raum unfassbar detailliert ins Extrem einer raffinierten Polyphonie getrieben.

Übers „Undefinierbare“, den unverzichtbaren Rest jeder großen und besonders der musikalischen Kunst, war ansonsten im wie immer vorzüglichen Programmheft des Ensembles leider nichts weiter zu erfahren. Schade. Aber dafür gab’s ja beim Hören diesbezüglich viel zu sinnieren. junge Welt, September 2022

PRINTTEXTE

Steins Vis-à-vis.Mozart und Bach.

für Andreas Staier

Foto: imago/United Archives international

„Apropos wegen seinem Mädel“ – so beginnt einer von Mozarts vielen Briefen. Er wurde in Augsburg geschrieben, an den daheim in Salzburg verbliebenen Vater, er hatte von seinem fürsterzbischöflichen Dienstherrn keinen Urlaub bekommen. Die Mutter begleitete den 21jährigen Sohn auf die große Akquise-Reise nach Westen. Sie starb, der Tiefpunkt einer auch sonst komplett erfolglosen Tour, in Paris. Die dort komponierte a-Moll Sonate könnte eins als Reflex auf diesen, für den jungen Mann völlig unerwarteten Todesfall hören.

Das „Mädel“ war die Tochter des in Augsburg ansässigen Klavier- und Orgelbauers Johann Andreas Stein; sie ging später als Gattin des Klavierbauers Andreas Streicher nach Wien und spielte als Nanette Streicher noch im Leben Beethovens eine rühmliche Rolle.

Anna Maria Stein

Anna Maria Stein war, als Wolfgang Amadé ihr in Augsburg begegnete, achteinhalb Jahre alt und hatte sich in der Stadt an den Klavieren ihres Vaters als eine Art Wunderkind bereits einen Namen gemacht. Mozart berichtet nach Hause: „Wer sie spielen sieht und hört und nicht lachen muß, der muß von Stein wie ihr Vater sein“, Mozarts Briefe sind amüsant, er lässt keine Witzelei, keine Pointe aus. Er sagt zugleich etwas. In der Art, wie er das Spiel der kleinen Virtuosin beschreibt, liegt Mozarts präzises und zugleich untrügliches Urteil darüber, wie man nach seiner Meinung Klavier spielen müsse. So soll man beispielsweise in der Mitte sitzen und sich nicht dauernd „den Discant hinauf“, also nach rechts neigen, wo die Töne beim Klavier nach oben gehen, „um Grimasssen zu machen“, die Augen zu verdrehen und zu „schmutzen“ (unsauber zu spielen). Sie hält die Arme zu hoch, womit nicht die Finger, sondern der Arm die Musik macht, jeder Klaviervirtuose kann sich hier Rat fürs Leben holen. „Sie kann werden“, räumt Mozart ein, „sie hat Genie; aber auf diese Art wird sie nichts, sie wird niemalen viel Geschwindigkeit bekommen, weil sie sich völlig befleißt“ – vermutlich wegen des zu hohen Arms – „die Hand schwer zu machen“. Und dann eine Zentralaussage zu seiner Musik und wie sie zu spielen wäre: „Sie wird das Nothwendigste und Härteste und die Hauptsache in der Musique niemalen bekommen, nämlich das Tempo, weil sie sich von Jugend auf völlig beflissen hat, nicht auf den Takt zu spielen“.

Zwei Stunden, berichtet der Sohn nach Salzburg, habe er mit Stein allein über diesen Punkt geredet und den viel älteren Meister am Ende „aber schon ziemlich bekehrt.“ Es folgt das berühmte Diktum, dass er selbst „immer accurat im Takt bleibe“ und allergrößte Verwunderung dadurch hervorzurufen wisse, dass bei ihm, da seine Hände unabhängig voneinander agierten, selbst in einer der unmerklichen Tempodehnungen der Rechten die linke Basshand „nichts darum weiß“ und also höchst genau im Tempo bliebe: „Das Tempo rubato in einem Adagio (…) können sie gar nicht begreifen; bei ihnen giebt die linke Hand nach“.

In einem eine Woche zuvor abgefassten Brief (17. Oktober 1777) gibt er eine dito berühmte, detaillierte Beschreibung der steinschen Hammerflügel, ihres Klangs, der Funktionsweise ihrer Mechanik. Stein als der in seiner Zeit für eine Weile Innovativste seiner Zunft verlieh der – nach Erfindung des Hammerflügels durch den Florentiner Bartolomeo Cristofori vom Beginn des 18. Jahrhunderts an – explosiven Entwicklung des europäischen Klavierbaus wichtige Impulse. Man sieht den kleinen Maestro förmlich durch Augsburg wandeln, genial eitel und durchgehend freudig darauf erpicht, andere mit seiner Musik und seiner Kunst auf den schmalen Tasten aus Ebenholz oder Elfenbein in ein Erstaunen zu versetzen, das regelmäßig in Begeisterung endet.

Eine besondere CD hat all das recht gezielt heraufgerufen. Sie erschien bereits 2007, also Ewigkeiten weit weg von einer Gegenwart, in welcher, auch für die klassische Musik, Zeit, bei Strafe ihres Untergangs, immer Geld sein muss.

Zwei Außergewöhnliche unter den Tastenkünstlern des Landes, Andreas Staier und Christine Schornsheim, haben die CD unter größten Mühen zur Welt gebracht. Nach meiner Erinnerung blieb der Produktion in der Branche die verdiente Resonanz versagt, bei gleichzeitigen Höchstkosten für allerlei Spezialisten einer in vielen Punkten ausgefallenen Unternehmung. Auch mir war das Ganze zu seiner Zeit allzu speziell.

Aber was haben wir damals – nicht! – gehört, was ist uns entgangen. Da setzen sich zwei Ausnahmekönner zum Musizieren an ein von Stein gebautes, besonderes Instrument. Sie sitzen gegenüber, französisch: vis a vis, so auch der Name dieses Instruments. Sie arbeiten beide mit und in dem großen Klangorbit des einen, vermutlich bergfichtenhölzernen Klavierkorpus. Dessen Organismus besteht aus einem instrumental-mechanischen Zweierlei: die eine der beiden Ausführenden sitzt an einem Cembalo, der andere andere an einem Hammerflügel, eine historische Konstellation. Denn beide Tasteninstrumente repräsentieren die Extreme des aktuellen Stands einer Klaviertechnologie, die sich im Zug der industriellen Revolution gerade anschickte, eine rasante Entwicklung zu nehmen. Ein 1777 frisch der Vergangenheit anheimgefallenes Cembalo, im selben Gesamtklang mit einem modernen Hammerklavier, einem Pianoforte. Auf ihm konnte im Unterschied zu Orgel und Kielflügel ein Leise und ein Laut erzeugt werden – Cristofori nannte seine Epochenerfindung “Gravecembalo col piano e forte –; damit stand dem Klavier Dynamik zur Verfügung. Nebenbei war Mozart – er brauchte Repertoire für seine Auftritte mit der Schwester, vierhändig und an zwei Klavieren -, wie es scheint, der Erste, der solche, von zwei Tasteninstrumenten aufzuführende Kompositionen für die europäische Musikzukunft kunstrangig und salonfähig gemacht hat.

Die Vis-á-vis-CD thematisiert einen für ein modernes Mozartverständnis zentralen Punkt: Mozarts Verhältnis zu Bach. Der war 1756 gerade einmal sechs Jahre unter der Erde, als Mozart zur Welt kam. Aber was hatte sich, beginnend schon während des letzten Lebensabschnitts des am Ende vergessenen Bach mit Namen wie Galuppi und Samartini, Gluck, Piccini, Carl Philipp Emanuel Bach, Pergolesi et al. nicht alles getan in der mitteleuropäischen Musik.

Der heranwaschsende, in den 1760er und 1770er Jahren durch den Kontinent reisende Knabe Mozart erwies sich als spielend in der Lage, die Fülle dessen in sich aufzunehmen, was in Italien und Frankreich, in den deutschsprachigen Ländern und bis hin zur britischen Insel überall entstanden war und in der Luft lag an Neuem, er verwandelte es sich an. Dass er es in seinen späten Werken, vorab den Opern, bis in die Gegenwart verlängerte – und auch, dass Mozarts Musik so lange Zeit gespielt wurde, als sei er ein Romantiker –, lässt ihn im breiten Publikum von Bach so weit weg erscheinen.

Aber er hatte 1777 das Kindheitserlebnis Cembalo so wenig vergessen wie das Orgelspiel in der Salzburger Hofkirche. Seine Kindheit muss musikalisch noch überall mindestens von Bachfetzen durchwest gewesen sein. Anfang der 1780er Jahre dann der Durchbruch. Der Wiener k.u.k. Hofarchivar Van Swieten war von 1770 – Beethovens Geburtsjahr – bis 1777 österreichischer Geschäftsträger am Berliner Preußenhof gewesen. Er war dort, ohne von diesem je auch nur gehört zu haben, auf die frischen Spuren des „alten Bach“ gestoßen. „Van Swieten“, bemerkt Alfred Einstein in seiner, 1945 beendeten Mozart-Monographie, „war geweckt“. Er besuchte Carl Philipp Emanuel in Hamburg, sprach mit ihm lange über den Vater; er kaufte autographe Noten und Druckfassungen der Werke Sebastian Bachs und brachte sie mit nach Wien, Kunst der Fuge, Wohltemperiertes Klavier, Orgeltrios, vielleicht einige Präludien und Fugen für Orgel. „ich gehe alle Sonntage um 12 Uhr zum Baron van suiten“ schreibt Wolfgang Amadé nach Haus, „– und da wird nichts gespiellt als Händl und Bach“. Vorwiegend und ausgiebig Händel, in Streichquartett-Fassungen für das hauseigene Vierer-Ensemble. Mozart spielt, als er sich einreiht, den Hammerflügel dazu. Er darf, in Abschriften oder gedruckt, die Partituren, aus denen er spielt, nach Hause mitnehmen – die Partituren auch Bachs! Ein Kreis schließt sich. Wolfgang Amadé, der angeblich so leichtlebige, naive Götterliebling, ist zutiefst verstört. Er arbeitet diese ernste Schaffenskrise gründlich auf. Kaum sind in einer anderen Lebensepoche Mozarts so viele Werke, hier meist Fugen, Fragment geblieben, wie am Beginn des letzten Wiener Jahrzehnts. Es heben sich in diesen letzten zehn Jahren das Erlebnis der Streichquartette Haydns ab op. 20 (bei Mozart am ausführlichsten mit dem vom jungen Beethoven zum weiterdenkenden Eigengebrauch abgeschriebenen A-Dur Quartett KV 464) mit dem Bach-Erlebnis in einer für Mozart neuen Anschauung von Polyphonie auf, grandiose Fugen wie jene im Fragment der c-Moll Messe und im Finale der „Jupitersinfonie“, alles tief durchdrungen vom grundstürzenden Ein- und Untertauchen in Sebastian Bachs Genie.

Der sorgfältig verfasste Booklettext (Michael Latcham, Andreas Friesenhagen) weist darauf hin: Mozart hat „Präludien“ komponiert – vier davon sind auf der CD zu hören –, die barocke Form der Improvisation, des Stehgreifspiels in einer aufgeschriebenen Version, etwas bei ihm ganz Besonderes. Es wird – angeregt von Bach Vater und ältestem Sohn – in Mozarts Händen zu etwas, das er in der c-Moll Fantasie KV 475 und im Eröffnungssatz der dazugehörenden Sonate KV 457 zur Vollendung bringt; die „Fantasie“ wird ab Chopin und Schumann endgültig zum eigenständigen Genre der klassischen Musik (die „Wanderer-Fantasie“ Schuberts ist zunächst mehr eine himmlisch verkappte Sonate in einer, über weite Strecken fantasieartigen Bewegungsform).

Gut möglich, dass die beiden auf der CD erklingenden Präludien in C und in F um 1777 herum entstanden sind, dem Jahr der Augsburger Begegnung Mozarts mit dem Klavierbauer Stein, dem Zeitraum auch des Baus des auf dieser Aufnahme verwendeten Vis-á-vis-Flügels aus Augsburg; heute steht er, stets spielbereit, im Museo Castelvecchio in Verona. Zu Steins großem Erstaunen äußerte der junge Komponist den Wunsch, auch – „denn die Orgel (ist) meine Passion“ – auf dem einen oder dem anderen der in zwei Augsburger Stadtkirchen vorhandenen Pfeifeninstrumente Steins zu spielen. Ein solch großer Clavierist“, erhitzte sich der Orgel- und Klavierbauer, „will auf einem Instrumente spielen, wo keine Douceur, kein Expression, kein Piano, noch Forte statt findet!“ Sieht Mozart anders. „Die Orgel“, schreibt er an den Vater, habe er dem Klavierbauer geantwortet, „ist doch in meinen Augen und Ohren die Königin aller Instrumenten.“ Wie ernstgemeint das ist, werden alle verstanden haben, die ihn im Oktober 1777 an der Orgel der Augsburger Barfüßer Kirche präludieren hörten. Die den Präludien bachgemäß folgenden Fugen – zumindest die eine aus KV 394 – hat die Nachwelt, so Wolfgang Amade‘, seiner Frau Konstanze zu danken. Sie habe ihn ewig genervt, als er, vom siebten Himmel herab, den Tag lang Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier spielte, so sehr „ward sie ganz verliebt darain“ (sie war schließlich eine begabte Berufssängerin): Subito solle auch er so eine tolle Fuge schreiben!  

Die Musikwissenschaft mäkelt an der Fuge herum. Mozart habe in Präludium und Fuge KV 394, so Werner Oehlmann, „in freier, doch abhängiger Weise die Form (erneuert), die Bach im ‚Wohltemperierten Klavier‘ gepflegt hatte“. Gut, in den beiden ersten Takten der langsamen Einleitung ist der Themendualismus für Mozarts spätere Verhältnisse wirklich etwas schwach; die Fugen-Themen, wie Alfred Einstein anmerkt, sind für einen wie Mozart nicht mozartisch genug im Vergleich zu allen genuin bachischen Themen bei Bach. Aber allein die unablässig in Sechzehntel-Triolen abwärts rasenden Skalen im schnellen Teil, denen sich starr auf einem Ton ausgehaltene Achteloktaven entgegenstemmen, sind in Händen von Schornsheim/Staier klanglich, strukturell und dramaturgisch ein Erlebnis. Fern jeder Routine, jeden Zirkusverdachts, geht da die Post ab in einer Weise, die beim alten Bach wohl doch noch recht anders klang.

Für den doppelt so alten Instrumentenbauer Stein jedenfalls waren Orgel und Fuge, und dazu wahrscheinlich der alte Bach gleich mit, voll abgetan.  Überlebt. Mittelalter. Freilich: Als Mozart seine Orgel-Offenbarung in der Barfüßer Kirche im Oktober 1777 beendet hatte, strahlte Stein: „Das glaube ich, daß sie gern Orgl spielen, wenn man so spielt!“ Folgt, ausgeführt von rechtschaffen biegsamer Handwerkerhand, ein jovial respektvolles Klopfen der teuerbetuchten Schulter eines Genies. Alles klar. Wir verstehen uns!

Orgel Barfüßer Kirche, Augsburg

Möglich, aber eher unwahrscheinlich, dass Mozart die Sonate in D KV 381 je, gespielt auf Steins Vis á vis, gehört hat? Er hätte seine Freude gehabt. Die beiden Sonaten – die erste, weniger mitreißende in B (KV 358), die zweite in D – sind für Klavier vierhändig komponiert; Nannerl und Wolfgang Amadé saßen beim Spielen nebeneinander. Auf der Vis-á-vis-CD entwickeln Schornsheim und Staier, nebeneinandersitzend, ein zweierlei an Klangindividualitäten. Schornsheim im Diskant des Hammerflügels führt in erstaunlich oft den Eindruck eines leicht dynamischen Cembalo erweckender Deutlichkeit und Höhe durch Kadenzen, Themen, Melodien. Während Staier, durchweg begleitend, aber auch mit konzertierenden Ausflügen ins Eigene, mehr zuständig ist für die lebendig bewegte und betont farbige Bassregion.

Auf Nachfrage, ob das mit dem starken Cembaloklang richtig gehört war, kam die Antwort: „Wir haben alles benutzt, was die Kiste hergibt. Man kann ja zum Beispiel auch das Hammerklavier auf die Cembalo-Seite rüberkoppeln“.

Erstaunlich. Jedenfalls entsteht eine einzigartige Klangmischung. Mit dem kielflügelnahen Diskant kommt nicht nur der Klang des Barock ins Spiel, auch seine – von in präziser Elastizität ausmusizierten Verzierungen und arpeggiert präludierenden und entfernte Tonarten durchschweifenden Skalen geschmückte – Aura; eine Domäne der begnadeten Cembalospielerin Schornsheim.

Das Instrument gibt die Bewegungen im Satz Mozarts en détail und per Registerklangdifferenzierung deutlich wahrnehmbar wider. Eins kann hörend begreifen, wie sich da der längstens nicht wegzukomponierende Gegensatz der Übergangszeit zwischen Barock und Klassik, das schier nicht aufzulösend widersprüchliche Miteinander von „galant“ und „streng“ („gelehrt“) – Bach kannte so etwas noch nicht – dialektisch in einer neuen Idee von Polyphonie aufzuheben beginnt.

Das Eröffnungs-Allegro, ein fetziger Spaß. Schornsheim/Staier platzen förmlich vor geballt rhythmischer Energie, da tobt es sich, das Volk, im Tanze selig aus. In der Rückseite des zweiten Themas taucht kadenziell von Fern eine Ahnung der Cherubino-Arie aus dem Figaro auf. Der deutsche Refrain – sagt, ist es denn Liebe, was hier so brennt? – geht überschäumend im prallen Brio baden, er verliert sich im weiteren Verlauf. Das Andante ist einer der in diesen Mozartjahren nicht seltenen langsamen Sätze – inhaltlich ähnlich, aber vielleicht noch ausgereifter: das Andante von KV 448 –, in deren Seelengeschunkel alle Lust, immer wieder vorläufig, irdische Ewigkeit findet.

Kaum irgendwo Erwähnung finden die auf der CD mit dem solitären Klang des Vis á Vis üppig vertretenen sechs Variationen über eine Opernarie von Giovanni Paisiello KV 398. Sie gehen auf ein Burgtheater-Konzert Mozarts im Oktober 1783 zurück, in dessen Verlauf er über das Gesangsstück improvisiert hatte. Vielleicht Anfang 1784 schrieb er die Improvisation auf, er ließ sie drucken. Ein von einer Variation zur nächsten immer packenderes Stück in zunächst elegant aufgelockertem Satz, der sich in an Franz Liszt erinnernder Weise horizontal und vertikal verdichtet und, sehr ungewöhnlich, in den letzten drei Variationen in jeweils einer, am Ende an Bachsche Orgelpräludien erinnernden Solokadenz endet, Cembalo und Hammerflügel in verwirrendem Wechsel.

Steins Instrument, eine beglückend präsente Mutation zweier Klangzeitalter, war das Initial. Es hat sich, verkörpert in Gestalt des enthusiastischen Durchhaltevermögens eines britischen Pianoforte-Narren mit Namen Michael Latcham zwei großen bundesdeutschen Tastenkünstlern förmlich aufgedrängt. Mit großem Durchsetzungsvermögen haben die beiden es zur Welt gebracht. Dazu nötig war freilich auch der Idealismus, der Geschmack, die Bildung (und das Geld) einer Frau wie Eva Coutaz. Sie starb, als vermutlich eine der für längere Zeit letzten ihres Formats, im Frühjahr 2021 und war die Chefin eines, 1958 von ihrem Mann Bernard Coutaz gegründeten, einst hochinteressanten Plattenkonzerns mittlerer Größe namens Harmonia Mundi France.  

Friede ihrer Asche. So etwas wie diese Vis-á-Vis-CD ist in der Welt, sie bleibt. Sie ist herunterladbar und leider – Smily! – jederzeit auf Youtube und Spotify anzuhören. Sie widmet sich, außer, dass sie anfassende Musik klanglich unfassbar spirituell ans Ohr und in den Körper bringt, unaufdringlich umfangreich dem Thema „Mozart und Bach im Spiegel eines Jahrhundertinstruments“. Beschrieben wird da der historische Moment des Zustandekommens einer, auf ihre Weise neuen, über Haydn hinaus gehenden Art von Polyphonie. Alfred Einstein nennt Beispiele, er zieht ein Resümee. Es rückt das Problem in das für den Gegenwartsbezug unseres Themas nicht unwichtige Um- und Widerfeld eines späteren, diesmal recht aufdringlichen Jahrhundertgenies.

„Es gibt dergleichen Dinge bei Mozart hundert- und tausendfach (die Integration von „galant“ und „gelehrt“, d. A.);  sie sind Zeugnisse jener ‚zweiten Naivität‘, für die nur ein Paar Meister in allen Künsten prädestiniert waren und die eigentlich ein langes Leben voraussetzen (…). Manchmal zeigt er seine Kunst ein wenig offener, indem er, am Ende eines Satzes, dem motivischen Material einen neuen ‚Contrapunkt‘ hinzufügt; bald launig, wie im Finale des Es-Dur Streichquartetts KV 428, bald mit innigstem Gefühl, wenn er im Andante cantabile des C-Dur Quartetts KV 465 mit einer Coda abschließt, in der die erste Violine ausspricht, was hinter dem dialogisch-kombinatorischen Spiel des Seitenthemas verborgen schien. Man vergleiche solche Dinge mit der auftrumpfenden Polyphonie des ‚Meistersinger‘-Vorspiels, und man wird fühlen, was gemeint ist. junge Welt, August 2022

Mozart am Stein Vis-á-vis – Christine Schornsheim / Andreas Staier am Hammerflügel von Johann Andreas Stein (Harmonia Mundi France)

PRINTTEXTE

­­Der Gang.Eine wahre Geschichte

Er hatte irgendwie einen seltsamen Gang, dieser Mann, der uns, die wir auf einer Parkbank rauchten, eines sonnigen Werkstagnachmittags auf einem sandgelbgrauen Weg mit grünblauer Aussicht auf Strom und Hafen, entgegenkam. Mittelgroß und schlank, kam er, eine Spur vornüber geneigt, ein vielleicht Endfünfziger, aber noch grade und sehnig, auf uns zu. Des Mannes nicht weiter achtend, setzten die anderen ihre Gespräche munter fort. Nur ich, ich konnte meine Augen nicht wenden von diesem Gang.

Er kam schnurgerade und festen Schritts, vielleicht ein wenig schwerfällig, aber doch auch irgendwie ganz gut, voran. Seine Art zu gehen hatte etwas – bis zur Andeutung eines Schreitens – faszinierend Bestimmtes und Festes. Er trug, wenn ich mich recht erinnere, blaue Jeans und eine nicht ganz dazu passende Jeansjacke. Alles, wie er selbst, nicht nagelneu, aber gut in Schuss. Das strohige Haar blassblond, drehte er mir, als er auf meiner Höhe war, den Kopf zu.

Ist was?

Er blieb stehen. Seine Frage klang nicht direkt unfreundlich oder gar aggressiv. Dennoch zog ich innerlich den Kopf leicht ein, als ich versuchte ihm klarzumachen, dass ich allein auf seinen Gang geschaut hätte, der sei irgendwie ansehnlich, ich versuchte es so anerkennend wie möglich zu sagen.

Er richtete sich leicht auf, zog den Riemen hoch, an dem über der Schulter er eine volle blaue Leinentasche trug, und ging vielleicht drei Schritte auf die leere Nachbarparkbank zu, hielt wieder inne, und wandte sich im Plauderton erneut an uns.

Ich war gerade in der Ukraine, er redete munter über unsere ungläubigen Blicke hinweg. Da geht’s drunter und drüber. Nicht nur im Osten. Auch im Westen. Da fliegt ständig was durch die Luft.

Man spürte, er wollte was loswerden. Er hob die Brauen.

Hab meine Schwester besucht, die hat in die Ukraine geheiratet, so ein Nest westlich von Kiew. Die haben keine ruhige Minute dort, die sind in Panik.

Er war in Fahrt. Er wusste was, was wir nicht wussten, das musste raus.

Euch ha’m sie doch alle ins Hirn geschissen, wenn Ihr glaubt, das hätte der Russe vom Zaun gebrochen, dozierte er. Dahinter steckt der Ami, da geht’s immer wieder nur ums Geld!

Wir schauten alle etwas verdutzt, ich fühlte mich verpflichtet, dagegenzuhalten:

Mir haben sie nicht ins Hirn geschissen, sagte ich so bescheiden wie möglich.

Er stutzte. Schaute einen Moment lang etwas irritiert. Dann ging sein Daumen hoch. Er schmunzelte überlegen. Alles klar!

Er ging auf die freie Bank zu, setzte seine blaue Leinentasche aufs Holz. Es war in diesem Moment das fast demonstrativ klare Geräusch einer Unzahl leerer Flaschen zu hören. junge Welt, August 2022

PRINTTEXTE

Uns Uwe.

Mit Klassenstandpunkt ist bei ihm nichts zu holen. Aber er kam tief aus der Arbeiterklasse. Sein Vater Erwin Seeler lebte und kickte im klassischen Hamburger Proletenstadtteil Rothenburgsort für den Arbeiterverein SC Lorbeer.  Sein Sohn wuchs gleichwohl im bürgerlichen Stadtteil Eppendorf auf, den die britischen Bomber 1944 weitgehend verschont haben, während Rothenburgsort in seiner Ursprungsgestalt heute nicht mehr existiert.

Das heißt, Uwe Seeler, als Fußballer das Idol, die Ikone, der Volksheld schlechthin – er ist am 21. Juli 2022 im 86. Lebenjahr zuhause in Norderstedt friedlich eingeschlafen – war der Sohn eines klassischen „Arbeiterverräters“. Denn „Old Erwin“ hatte sich, einem in der Folge triumphierenden Trend gehorchend, dem Bürgertum für Geld angedient und war schließlich 1938 beim bis heute in jedem Sinn bürgerlichen Hamburger SV gelandet.

Es entbehrt nicht nur nicht der Ironie, sondern spricht für diesen Uwe Seeler, dessen Vornamen wir alle stets mit dem besitzanzeigenden Fürwort „uns“ ergänzten: Dass er zwar auch durch seine Fall- und Seitfallrückziehertore, seine, in singulärer Weise per Kopf erzielten Treffer berühmt und legendär wurde. Dass er sich aber buchstäblich unsterblich gemacht hat allein durch einen sagenhaft realen Krokodillederkoffer aus Mailand. Gegen den Vater, gegen die Logik des Systems, dem er zeitlebens brav gedient hat, das indessen, das System, seinen Sport per Gigakommerz bei noch relativ lebendigem Leib längst hingerichtet hat, versagte sich uns Uwe 1961 dem Millionengeld in jenem italienischen Koffer. Der Trainer Helenio Herrera von Inter Mailand, der Uwe für damals unfassbar viel Geld unbedingt die Trikot-Nummer 9 seiner Weltklasse-Mannschaft verpassen wollte, kehrte mit dem vollem Lederbehältnis über die Alpen zurück.

Uwe hat seine Klasse nicht verraten. Er blieb zeitlebens – durch seine explosiv zuverlässige Kämpfernatur, seine Bescheidenheit, seine Konsequenz als Sportler – ihr Kind. Sie hat es ihm zig-millionenfach gedankt. Ich hatte das Privileg, ihn, als ich sechs war, oben auf dem mit frisch ausgedienten U-Bootnetzen aus dem Hafen versehenen Zaun der zur Johanniskirche hin gelegenen Kurve des alten HSV-Platzes am Rothenbaum sitzend, als Sechzehnjährigen Mittelstürmer in der Regionalliga-Mannschaft seines Vereins zu erleben. Seine Tore im Samstagabendlicht des Volksparkstadions, als es noch nicht „Arena“ hieß und ein regensicheres Dach nur über den Sitzplätzen der einen Längsseite hatte, haben mich in der Schulzeit um Welten mehr erfüllt und begeistert als etwa die Lektüre Goethes.

Sein Tor mit dem Hinterkopf in jenem Hitzespiel in Mexiko, das die Revanche darstellte für die auf einem nicht wirklich gefallenen Tor basierende Niederlage von 1966 hat nicht nur den in beide Spiele involvierten Bobby Charlton noch Jahrzehnte später völlig ratlos hingerissen.

Dennoch: der eine Mensch, der jetzt am Ende bescheiden und zugleich recht resolut auf sich aufmerksam gemacht hat, was seine Rolle im Leben Uwes angeht – seine Gattin Ilka – hat recht: die Sache mit dem Koffer wäre möglicherweise ganz anders verlaufen, hätte der Trainer Herrera an jenem Nachmittag im noblen Hotel Atlantik getan, was man eigentlich immer tun sollte: sich auch an die Frau des Kandidaten wenden. Gott sei Dank war er Macho genug, sie gar nicht erst dazuzubitten. junge Welt, Juli 2022

PRINTTEXTE

Wagner in Bochum.Johann Simons “Rheingold” (2015)

Die Rheintöchter tragen Gummistiefel, Götterchef Wotan Designerklamotten, die Angehörigen der niederen Gesellschaftsschichten suhlen sich in Müll und Schmutzwasser, und Freia, Lieferantin göttlicher Jugend, erscheint als Domina. Alle Zutaten also für erneut die große Regie-Theater-Kacke. Aber Irrtum: Wagners »Rheingold« bei der diesjährigen Ruhrtriennale, unter der Regie von Johan Simons und der musikalischen Leitung von Teodor Currentzis, ist eine Erlösung. Denn vor lauter neoliberalen Gummistiefeln und Dominas hatten wir ganz vergessen, dass Kunst das noch kann (und immer konnte): Menschen packen, indem sie sie mitten in ihrer Existenz trifft.

Die Orchesterstühle auf der Riesenbühne der Bochumer Jahrhunderthalle und das Dirigentenpult sind leer, wenn das Licht abgedunkelt wird und Mika Vainios elektronische Version des Wagnerschen Kontra-Es, der wagnerlaweiernde Es-Dur-Akkord in den Ohren schaukelt. Currentzis, rechts und links untergehakt mit drei oder vier seiner Musiker, marschiert, gefolgt von seinen Leuten, ein. »Wir haben eine Botschaft!« sagt diese Demo auch ohne Transparent und: »Wir sind Nibelheim, die Wagnersche Sphäre der Arbeit, denn Musiker arbeiten hart, also hört uns zu!«

Die Orchesterbühne ist die Mitte des dreiteiligen Bühnenbilds (Bettina Pommer). Hier agiert Currentzis Wunderorchester MusicAeterna. Ganz gegen Richard Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk, aber zentral in Johan Simons Konzeption der Offenlegung sind die Musiker nicht, wie in Bayreuth, verborgen im abgedeckten Orchestergraben. Das Orchester greift sichtbar in die Handlung ein; die Streicher an hochdramatischen Stellen wie der Nibelungen-Malocher-Höhle im dritten Bild springen auf und spielen im Stehen. Über dem Orchester – weiß, verschlossen und künstlich – Walhall, das »Eigenheim« Wotans (Elfriede Jelinek); Nibelheims Riesen Fafner und Fasolt haben es erbaut. Sie werden um ihren Lohn betrogen. Es geht um Macht, Herrschaft und Betrug im „Rheingold“.

In den 1848er Tagen, als Wagner die »Ring«-Tetralogie konzipierte (»Rheingold« ist eine Art Prolog), stand er mit Bakunin auf den Dresdner Barrikaden. Er kannte Proudhons Schriften, hatte im politischen Exil Kontakt auch zu Marx und Engels. Aber die Arbeiterklasse war noch nicht wirklich da. Marx steckt bei Wagner noch tief im Mythos (und kam da leider nie wieder heraus). Der Nibelung und Frühkapitalist Alberich, ansässig im schmutzwasserverseuchten Trümmerfeld des unteren Bühnenteils, macht den feudalen Müßiggängern die Macht mittels eines Zaubers streitig: Der goldene »Ring des Nibelungen«, geschmiedet von Alberichs Zwergen, lässt ihn zum Herrscher der Welt werden.

Wer hinschauen konnte, fand Kleinodien in dieser Inszenierung. So Fafner, am Ende seiner Wünsche, er sitzt da und streichelt stieren Blicks nur noch den Goldklumpen in seinem Schoß – ein satirisches Bild, Vorgriff auf die Stelle im »Siegfried«, wo er, als Drache verwandelt, auf dem Goldschatz liegt, und Siegfried fragt ihn: »Was tust du?« Die Antwort: »Ich besitze!«

Jeder Gummistiefel und jeder Dominastiefel hat seinen Sinn bei Simons. Walhall, wie die Prachtvillen der Milliardäre auf privaten griechischen Inseln, ist nicht zum Wohnen da, es ist Anlageobjekt, die Besitzer werden darin nie heimisch. Freias Sexkostüm sagt: Sie ist das von allen Männern begehrte Tauschobjekt Frau; an prall-naturalistischen Sexpuppen im Schmutzwasser reagiert Alberich am Beginn seine Geilheit ab. Es ist unsere Zeit, die da erscheint in Wagners Parabel, in Simons’ Inszenierung.

Wie sonst nie bei Wagner gibt es keine Längen in dieser Oper, man wartet nicht endlos auf die »schönen Stellen«. Wagners Musik – dafür ist Teodor Currentzis sowieso Spezialist – scheint die Handlung voranzutreiben, die Musik ist wie aufgehoben in den Dialogen, es entsteht ein Sog (dank Übertiteln ist alles bestens verständlich).

Die vom holländischen Regisseur ergänzte Figur des Götter-Dieners Sintold greift im rasenden Rhythmus der Ambosse zum Megaphon und schlägt in einem furiosen Text (Jelinek u.a.) den Bogen bis zu den apokalyptischen Katastrophen, die die »Macht-Haber«, die bis heute herrschenden Götter des Gemetzels, derzeit in Nahost veranstalten. Und was sie früher mit Speeren und Kanonen verrichteten, auch das kommt übers Megaphon, schaffen sie heute mit Finanzprodukten. Aber schon Wagner wusste, es ist der Inhalt seines »Ring«: Sie werden mit den Widersprüchen, kraft derer sie zur Herrschaft gelangten, nie fertig. Krupp, Gulbenkian, Gates, egal, der Fluch des Goldes holt sie ein. Am Ende steht der Götter Dämmerung.

Ob die Welt das überlebt, ist eine andere Frage. Der Beifall des begeisterten Publikums nährte die Hoffnung, dass Menschen, ästhetisch und intellektuell in einem solchen Maß beglückt, bereit und in der Lage sind zu erkennen, was Sache ist. Und genau das hat Richard Wagner in seinen besten Schriften als die wahre Demokratisierung von Musik und Kunst propagiert. Junge Welt, 2015

Mozart.Orgelwerke.

Bachorgel in der Leipziger Thomaskirche

Es hält sich, zäh wie schlechte Angewohnheiten, seit zwei Jahrhunderten das Bild Mozarts als des von Schwerkraft und Erdenalltag befreiten Apollinikers. Ein Künstler, der, so recht nach dem gespaltenen Herzen des Bürgertums, einfach wegschaute, wenn es allzu weltlich oder gar politisch wurde.

Dass es sich dabei um pure Ideologie handelt, erhellt grell erstmals in diesem Künstlerleben, als sich der 21jährige im Herbst 1777 in einem Brief an seinen Vater dem Funktionieren und dem Klang, der technischen und materialseitigen Machart der zu seiner Zeit modernsten Hammerflügel des Augsburgers Johann Andreas Stein widmet. Auf jener Reise, die in Paris versandete, hatte Mozart den Orgel- und Klavierbauer Stein in der Heimatstadt seines Vaters besucht. Mozart kennt sich aus, er ist begeistert, er war zeitlebens brennend an den neuesten Entwicklungen des Instrumentenbaus interessiert und nutzte sie durchgehend.

Daran erinnert man sich bei der Begegnung mit den, unter den raren Mozart-Kompositionen in Moll besonders eigentümlichen Spätwerken in f-Moll. Es sind die einzigen gedruckten Mozartwerke für Orgel, ein Instrument, das, eben noch im Zentrum barocken Komponierens, zur Mozartzeit Vergangenheit war. Der ältere Wolfgang Amadé, der das Instrument seit seiner Jugend als Salzburger Hofkomponist selbstverständlich beherrschte, improvisierte, als ein später Bewunderer des Bachschen Kontrapunkts (ab etwa den 400er Köchelverzeichnis-Nummern), zur Begeisterung der Anwesenden, mehrmals öffentlich auf alten Kirchenorgeln, so 1789 in Leipzig in der Thomaskirche und auf eine Weise, dass der noch im Amt befindliche Nachfolger Sebastian Bachs als Thomaskantor, Johann Friedrich Doles, meinte, der alte Bach sei wiederauferstanden.

Die f-Moll Orgelwerke, ein weiterer Anhaltspunkt für Mozarts Modernität, waren nicht für die geschickten Finger eines lebendigen Virtuosen geschrieben. Sondern für einen Musikautomaten, fürs „Orgelwerk in einer Uhr“ oder die „Orgelwalze“. Und sie erklangen nicht im Konzertsaal. Der Graf Joseph von Deym, ein geschickter Schöpfer ansehnlicher Wachsfiguren, hatte Gideon Ernst von Laudon, den frisch verstorbenen Feldmarschall und Gewinner wichtiger Schlachten der Vergangenheit ehrend in Wachs modelliert und ihm zu Ehren ein Kabinett eröffnet, bei Gelegenheit von dessen Premiere mit der Fantasie f-Moll KV 594 auch gleich des, von Mozart ob dessen – systemrettend gedachter – „Reformen“ verehrten Josephs II. gedacht wurde, dessen Todestag jährte sich 1791 zum ersten Mal.

Mozart 1791 (Dorothea Stock, Silberstift)

Also drei Teile. Ein die Verdienste beider Gedenkobjekte französisch prachtvoll würdigender Mittelteil, gerahmt von einem andächtigen, todesfürchtigen Andante vorweg und hintan. Schon Mozart selbst dürfte die formal bachverdächtig tiefsinnige und formbedachte Komposition auf seinen Hammerflügeln gespielt haben. Andras Schiff auf seiner bisher leider einzigen Aufnahme auf einem alten Walter-Flügel der Mozartzeit macht das, zusammen mit George Malcolm, beeindruckend nach. Die Orgel hat, wie das andere Tasteninstrument des Barock, das Cembalo, keine Dynamik, eine wesentliche Ausdruckskomponente des Individuellen steht ihr nicht zur Verfügung. Das kommt einem Künstler wie Glenn Gould entgegen, der auf einer alten Plattenaufnahme, zusammen mit Alberto Guerrero auf einem modernen Flügel, das ins Automatenhafte gedachte Moment dieser Komposition mit seiner betont rationalisierenden Art Leben erfüllt.

Positiv modern ­ vor allem im Hinblick auf den auch zuzeiten von Klassik 2.0 und später anhaltenden Virtuosenkult klassischer Musik ist vor allem die Bedenkenlosigkeit, mit der Mozart mit den Stücken für Musikautomaten das in der Postmoderne so eminent wichtigtuende, betont originelle Solistentum hinter sich lässt. Der Frankfurter Komponist Heiner Goebbels in seinem Maschinenmusiktheaterstück „Stifters Dinge“ von 2013 (https://stefan-siegert.de/heiner-goebbels-a-house-of-call ) ist diesen Weg, ihn um naheliegende Dimensionen ergänzend, weitergegangen.

Auch das Orgelstück f-Moll für eine Uhr KV 608 gehört zu Mozarts Geldarbeiten für das „Wachsfiguren- und Kuriositätenkabinett“ des Grafen Deym. Das heißt, Mozart arbeitete hinein in die von betrachtend isolierten Individuen im Dunkeln erfüllte akustische Atmosphäre eines Panoptikums! Wer hätte so etwas gerade von Mozart gedacht?

Dabei war der kleine Maestro während der Arbeit höchst unzufrieden. Die instrumentalen Möglichkeiten so eines Uhrwerks, zusammengeschaltet mit den Pfeifen einer Orgel, beschränkten ihn. „Ich schreibe alle Tage daran“, berichtet er brieflich einem Freund, „muß aber immer aussetzen, weil es mich ennuirt“ ((bitte Originalschreibung beibehalten)). Ja, wenn er machen könnte, was ihm vorschwebt anlässlich seines Idols, des Kaisers Joseph, der Mozarts Musik liebte – „da würde es mich freuen; so aber besteht das Werk aus lauter kleinen Pfeifchen, welche hoch und mir zu kindisch lauten.“

Gleichwohl komponiert er ein in seinem Oeuvre merkwürdig selten wahrgenommenes, musikalisch – selbst in diesem absolut außergewöhnlichen, zugleich vollendet ausgewogenen Werk – außergewöhnlich Schönes. Mozart blickt hier zurück auf das, was er aus der „Kunst der Fuge“ des alten Bach mitnahm auf seine eigene Reise, auf einem Instrument, das Ende des 18. Jahrhunderts in keinem Konzertsaal mehr zu finden war, nur in den alten Kirchen, wo sich allerdings die Spezis und Spezisinnen solcher Musikfreuden gern noch einmal einfanden.

Eine jeweils von kurzen Allegro-Preludien gerahmte Doppelfuge mit einem trauergesättigten Andante dazwischen. Was Mozart in KV 608 – mittels eines, gerade eben erst aus der Zeit gefallenen Instruments – sehr symmetrisch mit dem Bachschen Kontrapunkt macht, weist voraus auf das, was sein älterer Kollege Beethoven mit dem letzten Endes vollendet Archaischen in der abendländischen Musik anstellte auf seinen Entdeckungsreisen in die Zukunft der Musik . junge Welt, Juli 2022

CDREVIEWS

Katharina Jacob.Unsere Heiligen.

Es gibt Tage, da kramt man. Und siehe, in einer seit Jahren nicht mehr berührten Schublade findet sich eines dieser, in lang vergangenen Zeiten einmal seltsam hoffnungsvoll „Klarsichthülle“ genannten, Papierbehältnisse aus transparentem Kunststoff, sein Inhalt: Mehrere maschinenbeschriebene Blätter, sie kleben leicht zusammen nach so langer Zeit. Das Manuskript einer Rede. Gehalten am 6. Februar 1983 im Audimax der Universität Hamburg. Links oben der Name der Rednerin. Er kommt erst in Sicht, als der Zettel entfernt ist, den sie mit Büroklammer an die Blätter geheftet hat. Mit Filzstift geschrieben ein warmer Dank für einen „netten Abend mit Mozart u. Euch“. Die Rednerin hatte uns fünf Jahre nach der Veranstaltung besucht. Sie hatte die Rede auf Einladung des AStA der Uni Hamburg und der Marxistischen Abendschule aus Anlass des 50. Jahrestags der faschistischen Machtübernahme gehalten. Die Rede war ihr Gastgeschenk.

Katharina Jacob hieß sie, diese Rednerin. Wer nach dem Namen googelt, sollte unbedingt auch den Link ihres Mannes anklicken, Franz Jacob. Als Katharina Emmermann 1907 in eine Kölner Arbeiterfamilie hineingeboren, ging sie nach der Ausbildung als Kontoristin mit achtzehn in den kommunistischen Jugendverband, später in die KPD. Sie heiratete den Genossen Walther Hochmuth, wurde 1934 wegen Flugblätterverteilens festgenommen, verurteilt und für ein Jahr ins Frauengefängnis Lübeck-Lauerhof eingekerkert. 1938 verhaftete man sie erneut und sperrte sie ins Polizeigefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel. Ihr Mann emigrierte 1934 nach Dänemark, beider Wege verloren sich, 1939 wurde die Ehe geschieden. Sie heiratete 1941 den soeben nach drei Jahren Zuchthaus und vier Jahren KZ aus Sachsenhausen entlassenen Funktionär und Abgeordneten der KPD in Hamburg, den Widerständler Franz Jacob. Von beiden Männern hatte sie eine Tochter.

Franz Jacob

Zusammen mit Franz baute Katharina Jacob in den 1940er Jahren erst in Hamburg, dann – Käthe arbeitete von Hamburg aus – in Berlin die letzte und größte Widerstandsgruppe der KPD auf. Sie wurde unter den Namen Bernhard Bästleins, Franz Jacobs und Anton Säwkows bekannt (in Hamburg gehörte auch Robert Abshagen dazu). Die Gruppe stand, bis hin zu den Verschwörern des 20. Juli, in Verbindung mit vielen Kreisen des Widerstands. Im Juni 1944 wurde sie verraten. Franz Jacobs Leben endete am 18. September im Zuchthaus Brandenburg auf dem Schafott. Zwei Tage später sprach man Katharina Jacob aus Mangel an Beweisen frei; sie wurde trotzdem ins KZ Ravensbrück gebracht, dort erlebte sie am 1. Mai 1945 die Befreiung. Ihre Tochter Ilse erzählte mir, wie sehr sich ihre Mutter über die vielen, des Datums halber an den Panzern der sowjetischen Befreier wehenden roten Fahnen gefreut habe.

Auch die Kommunisten haben ihre Heldinnen, sie haben ihre Heiligen. Käthe Jacob war im Blick von uns Jüngeren eines der schon Anfang der 1980er Jahre immer rarer werdenden, noch lebenden Exemplare dieser Gattung. Aber natürlich führte sie sich weder wie eine Heilige auf, noch wäre damals überhaupt jemand von uns darauf verfallen, sich Käthe real als Heilige zu denken. Sie war eine ungeheuer irdische Heilige, klein von Gestalt, so fast unscheinbar wie bescheiden und unaufdringlich und gerade darum wahrscheinlich so wirksam. Eine Antifaschistin und Kommunistin wie ein sanfter, immer freundlicher, im Anliegen empathisch unbeirrbarer Engel im antifaschistischen Kampf auf Leben und Tod. Von 2022 aus gesehen, muten Käthe und ihre Welt wie etwas unwiderbringlich Vergangenes an; zumindest sind die Umstände und die daraus folgenden Kampfformen für wahrscheinlich immer Vergangenheit. Die Inhalte sind es nicht.

Käthe redete ungeheuer lebendig an jenem Abend im fast vollen Audimax im Von Mellé Park; sie begleitete ihre Rede an einigen Stellen mit Gesang, es ging ja um die Wirkung von Kunst auf die Arbeiterklasse. Die Empathie beim Sprechen war ihr angeboren, das Publikum reagierte interaktiv. Hier der Text.

“Liebe, die Ihr hier alle anwesend seid!

Ich habe mir, als ich den Auftrag annahm, vom Veranstalter gewünscht, der Saal hier möge bis zum letzten Platz voll sein. Ist es nicht toll, dass Ihr mir diesen Wunsch erfüllt habt? Ist es nicht der Beweis dafür, dass wir alle uns sehr gern einmal vom oft tristen Alltag wegführen lassen. Das Lied, das Gedicht und die Musik, auch ohne Gedicht und Lied, geben uns oft den Schwung für unseren harten politischen Tageskampf.

„Echt, Omi!“ beginnt meine kleine Enkelin, wenn sie etwas sehr ernst meint. Also, echt, Ihr Lieben, mir geht es so mit der Kunst und dem Klassenkampf.

Bei mir rankt sich manche Erinnerung um Lieder und Singen. Ich bin noch zur Kaiserzeit zur Schule gegangen. Wir lernten das Lied von des Kaisers Lieblingsblume. Ich sage Euch mal den schönen Text, ich kann‘s sogar noch singen.

Unser Kaiser liebt die Blumen, denn er hat ein zart‘ Gemüt. Unter allen liebt er eine, die in keinem Garten blüht. Nicht nach Rosen steht sein Sehnen, draußen pflückt er sich im Feld eine kleine blaue Blume, die er für die schönste hält.

Die Melodie ist entsprechend schnulzig. Aber ich liebte diesen Kaiser, der die kleine Kornblume allen anderen vorzog – ein großer Trost für mich armes, kleines Arbeiterkind.

Ich denke an manchen Sonntagmorgen meiner Kindheit. Ich bin in Köln großgeworden. Im Hinterhof einer großen Mietskaserne. Die katholischen Frauen hatten ihren Kirchgang hinter sich. Wenn der Sonntag begann, musste man mit seinem Herrgott im Klaren sein, sie waren alle wieder da. Nach dem Frühstück öffneten sich im Vorderhaus und Hinterhaus alle Küchenfenster weit.

Irgendwann kam aus einer der Küchen irgendwo im Hof eine Stimme. Eine zweite fiel zögernd ein, eine dritte. Manchmal klang es am Ende, als singe das ganze Haus. Am beliebtesten waren die Küchenlieder. Sie wurden ganz ernsthaft und mit viel Gefühl gesungen. Die meisten der Frauen waren vor ihrer Ehe Dienstmädchen oder Fabrikarbeiterinnen gewesen, entsprechend arm und trostlos war ihr Frauenleben. Liebe und Treue, danach sehnten sie sich. Es gab in ihrem Leben nicht allzu viel davon. In diesen Liedern war für sie ein Stück ihrer Welt und ihrer Sehnsüchte eingefangen.

Findet Ihr es nicht auch ganz toll, wenn einer (Gendern gab’s damals noch nicht, d. A.) in einem Lied oder Gedicht das ausdrücken kann, was man selbst und viele andere genauso empfinden, nur eben nicht zum Ausdruck bringen können? Und dann noch eine Melodie dazu, die das beflügelt, echt gut!

Ich war, was Wort und Musik angeht – und ich hoffe, die Musiker verzeihen mir – immer mehr dem Wort zugetan. Zum Beispiel das Lied von Florian Geyer, einem der großen Führer in den Bauernkriegen des Mittelalters. Wir haben es in unserer Jugend mit Begeisterung gesungen. Darin heißt es:

Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?

Vom Sinn her, meine ich, stimmt das heute noch aufs Wort! Die Bauernkriege gingen für die aufständischen Bauern schlecht aus. Aber kann man sich etwas Optimistischeres denken, als den Schluss dieses Liedes?

Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechten es besser aus.

Wobei wir heute sicher nicht noch einmal so lange warten wollen. Die alten Genossen werden es noch wissen: Wir zogen bei den großen Demonstrationen durch den Hamburger Holzdamm, er führt vom Hauptbahnhof bergab an die Außenalster, noch heute steht da das alte Nobelhotel Atlantik. Obgleich ich damals mindestens 25 Jahre alt war, reihte ich mich immer in der Jugend ein, warum? Die sangen so schön. Zehn bis fünfzehn Leute – untergehakt oder auch nicht – füllten wir den Holzdamm in voller Breite. Dass der Zug nach hinten entsprechend lang war – klarer Fall.

Der Holzdamm hatte eine herrliche Akustik! Die Erbauer des Hotel Atlantik hatten Demonstrationen nicht auf der Rechnung, als sie eine so schöne große Resonanzwand in die Straße bauten. Wie auch immer. Am Holzdamm stand der Zug. Wir warteten. Und dann auf einmal. Wie ein Brausen ging es durch unsere Reihen:

Straße frei! – Gebt Feuer! – und ladet schnell! – Weich‘ keiner von der Stell!

Um dieser Zeilen willen liebten wir das Max Höltz-Lied. Es genügt wahrscheinlich keinerlei künstlerischen Ansprüchen. Aber es war herrlich. Besonders, wenn wir es in dieser herrlichen Akustik am feinen Hotel Atlantik sangen.

Es war 1935 im Frauengefängnis Lauerhof. Wir Frauen, fast ausnahmslos ‘Politische’, arbeiteten in einem großen Raum an langen Tischen. Wir ‘zupften Sisal’, auf Deutsch: Wir sortierten Bindfäden, eine scheußliche, unvorstellbar schmutzige Arbeit. Aber immer summten wir ganz leise Lieder. Unsere Lieder. Volkslieder. Die Aufseherin war keine ‘Nazisse’. Manchmal verließ sie für kurze Zeit den Raum. Dann gab es für uns nur das alte Vagabundenlied „Uns geht die Sonne nicht unter“. Zwar nur diesen Schluss, den aber laut.

In den letzten Apriltagen 1945 hausten wir – in Gruppen zerstreut – zu Tausenden von Frauen des KZ Ravensbrück in den Wäldern Mecklenburgs. Man hatte uns noch aus dem Lager hinausgetrieben, angeblich sollten wir in ein anderes Lager verlegt werden. Wir warteten, Warten war überhaupt unser Schicksal. Vor einigen Stunden hatte es von den Lautsprecherwagen der SS her geklungen: ‘Alle deutschen Frauen an den Straßenrand!’. Wir ließen uns nicht spalten. Wir waren nicht gegangen. Was wussten wir denn, was die SS mit uns vorhatte. Wir waren selbst verblüfft in diesem Moment – zum ersten Mal hatten wir einem Befehl der SS nicht folgegeleistet! Aber auf einmal war die SS weg. Getürmt! Wieder warteten wir. Wir wussten, die Rote Armee war auf dem Weg. Stundenlang zogen deutsche Soldaten auf der Landstraße vor uns durch unser Blickfeld nach Westen. Dann für Stunden eine geradezu unheimliche Ruhe. Schließlich in weiter Ferne Lärm, Motorengeräusche, sie kamen näher. Kein Zweifel mehr – die Rote Armee würde gleich da sein. Wir sahen uns an. Wir lachten, wir weinten, wir umarmten uns. Eine begann auf einmal zu singen, kommunistische, sozialdemokratische Frauen, Russinen, Polinnen, alle, die das Lied kannten, sangen es in ihrer Sprache, unser altes großes Lied von den Verdammten dieser Erde, die endlich aufwachen sollen, damit nie wieder geschehen kann, was für uns Frauen aus Ravensbrück nun erst einmal zu Ende war.” junge Welt, Mai 2022

Katharina Jacob: Widerstand war mir nicht in die Wiege gelegt. Ein autobiografischer Bericht. Galerie der abseitigen Künste Hamburg 2020

PRINTTEXTE

Straßenfest St. Georg 2022

© 2022 StayHappening.com

Irgendwann in der Sponti-Euphorie der 1980er Jahre – die DKP mit ihrem Pressefest und den Stadtteilfesten war damals schon lange da – kamen sie voll auf, die Straßenfeste. Wenn schon mitnichten – im Wortsinn – Volksfeste, dann doch Bürgerfeste, Festivitäten der Stadtteilbewohner mit allem, was diese gern haben aus solchem Anlass: preiswert schmausen und trinken, herzhaft schwatzen und sich kennenlernen auf Probe in Zeiten, die Parship noch nicht kannten. Alles erschwinglich, alles vor allem nichtindustriellen Ursprungs. Die Stadtteilfeste hielten damals für einige Zeit an ihrem Ursprungsgedanken fest. Es ging ihnen um Begegnung, nicht immer wieder nur ums Ritual des einen, leeren Konsumierens.

Aber der Markt, der ja auch sonst alles regelt, legt auch bei dieser Gelegenheit wieder einmal wert darauf, alles immer nur im Sinn bestimmter Leute zu regeln. Die lokalen Straßenfeste wurden auf diese Weise zu gewöhnlichen Hotspots globalen Umsatzes. Vergnügungskonzerne, mit ihren übers Land verteilten Budenketten und Kettenbuden – sie sind speziell aufs Rendite-Segment „Volksfest“ spezialisiert – nehmen sich der Sache an. Mit dem immer gleichen Angebot an allem, was, meist zehntausende Kilometer weit weg, billig zu machen und teuer zu verkaufen ist, öden sie Anwohner wie Touristen auf Dauer an. Sie lassen sie alle dazu mit hundert verschieden wummernden Budenlautsprechern in einem dümmlich standardisierten, jegliche Kommunikation und Anregung verhindernden Durcheinander allein.

Es lohnte nicht, drüber zu schreiben, wären da nicht unlängst bei einem Straßenfest im Hamburger Stadtteil St. Georg im Mai 2022 Spurenelemente von Ansätzen einer Alternative zu erleben gewesen. Eine Überraschung. Denn wir gingen – siehe oben – aufgrund der schlimmen Erfahrungen der letzten Jahre nur widerwillig hin, nur mal gucken, auf ein Bier. Wir fingen am Ort des Geschehens, der Langen Reihe, vom Hauptbahnhof her, oben an. Jeden Tag geht eins, vom Einkaufen oder vom Bahnhof zurückkommend, hier durch. Es muss daran gelegen haben, dass die Buden zu beiden Seiten diesmal nicht so aufdringlich wirkten, keine Musik und wenn, dann leise. So waren die Menschen vorhandener, wahrnehmbarer, sie kamen sich entgegen, und es machte Spaß, hier und da hängen zu bleiben in einem Gesicht, in zwei einverstanden alten oder zwei neugierig kindlich leuchtenden jungen Augen. Die Menschen zu beiden Seiten des Stroms und Gegenstroms der Besucher in der Mitte verharrten stehend, mit Plastikbechern, seltener mit Gläsern in der Hand, sie plauderten munter drauflos, mit oder ohne Stehtisch dazwischen, mit oder ohne brennende Zigarette zwischen den Fingern. Das von Rufen und Lachen durchsetzte Stimmengewirr war lauter als die Musik. In der Mitte spazierend nahmen wir an diesem Maisonntag Erstaunliches wahr.

Denn die Lange Reihe, als eine seit Jahrhunderten in Alsternähe verlaufende Straße, gesäumt überwiegend von mit Renaissance- und Antikezitaten übersäten Fassaden schöner Gründerzeitmiethäuser – früher ein Ort der gutsituierten Mittelschicht aus Handel und Handwerk, zwischenzeitlich ein Lieblingsdomizil der mainstreamfern Unangepassten, heute längst gentrifiziert aber immer noch am Leben – war auf einmal wie ausgetauscht.

Lange Reihe Anfang 19. Jahrhundert

Noch bevor wir uns ins Getümmel vor der Bühne mit Lifemusik stürzten, taten sich uns, während wir durch die Menge bummelten, die dialektischen Schliche der Geschichte auf. Vergangenheit und Zukunft ergänzten sich. Für einen wunderschönen Moment tat sich, einige Fantasiefilmsequenzen lang, die Aura dessen auf, was hier am Anfang des 19. Jahrhunderts, noch im gewissen Einklang mit der Warenwelt, entstanden und immer weiter gewachsen war an menschennaher Urbanität. Es schien sich im selben Moment, die Gegenwart radikal ausblendend, in die Möglichkeiten einer systemisch anderen Zukunft zu öffnen. 

Zunächst entstand in der historisierenden Fantasie zwischen den rötlichen, gelben, den weißen und sandfarbenen Fassaden kurz die Welt der Fuhrwerke, Kutschen und Reiter, gemischt mit einem nicht abreißenden Strom abgemergelter Gestalten in zerlöcherter Kleidung, mit und ohne Kiepe auf dem Rücken für Brennholz, Heu, Schweinefutter oder mit Wägelchen oder Lastkarren für den Transport ihrer ärmlichen Dinge. Sie brauchten vom Berliner Tor bis nach, sagen wir, Wedel oder Harburg – heute mit S-Bahn oder Bus keine dreißig Minuten – bis zu mehreren Stunden, denn sie hatten für die Mobilität nur ihre Füße. Den mal steinigen, mal modderigen Wegen und ungepflasterten, nach jedem Regen matschigen Straßen voller Kot und Pferdeäpfel hielt das Schuhmaterial, wenn sie es sich denn überhaupt leisten konnten, nur dürftig stand. Die moderne Alternative indes ist dem menschlichen Bedürfnis nach einem gesunden, die Sinne schonenden und anregenden Leben kaum gemäßer: Der individuelle und kommerzielle Kraftwagenverkehr.

Zugegeben, der Verbrennungsmotor als Nachfolger der Dampfmaschine war ein unumgänglicher Katalysator der technologischen Akkumulation, ein vorantreibender Faktor kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Entwicklung. Aber an diesem Maisonntag des Jahres 2022 leuchtete angesichts des Nichtvorhandenseins von Kraftfahrzeugen in der Langen Reihe inmitten des von bläulichem Grillrauch überzogenen Volksgewimmels plötzlich ein Gedanke auf und ein: in der wunderlichen Verwandlung, die eine normal überlastete Großstadtstraße des dritten Jahrtausends erfährt, wenn die Autos weg sind und die Menschen aber wirklich da, tat sich miteins eine atemberaubende Zukunft auf.

© Andreas Baur

Die Lange Reihe, deren lichte Breite und Gesamtbild übrigens wie geschaffen erscheint für eine, die Entstehung urban intimer Solidarität fördernde Vorstellung von Großstadt, hätte in dieser Zukunft in der Mitte einen schmalen Weg aus festem Material für jedwede Radler und – zu allen möglichen Transportzwecken – für umweltneutrale Vierrad-Antriebe. Auf beiden Seiten der Mitte bis zu den Läden und Straßencafés am Rand laden trockene Fußwege aus festem Sand zum Flanieren, Wandern oder Flirten ein. Wer gerade Lust hat, setzt sich und trinkt einen Kaffee, einen Wein, auch ein kleiner Imbiss ist nicht verkehrt. Unter Menschen sein mit Menschen, die gern unter Menschen sind, auch wenn sie dabei kaum reden, es muss alles nicht viel kosten. Darum geht es ohnehin nicht mehr. Denn jedes hat gerade genug, sich das Leben schön zu machen, mehr bedarf es nicht, niemand muss fürs Wohlleben anderer auf das ihre und das seine verzichten.

Das geht alles, weil niemand unter Druck steht. Die soziale Angst ist weg, im Deutschland des Jahres 2022 unvorstellbar. Zum Beispiel die kleinen Ladenbesitzer zwischen den Cafés und Bistros in meinem dialektischen Traum, den man sich unbedingt auch gut bepflanzt vorstellen muss – das Grün von Olive, Oleander, Zitrone oder Rose in Topf oder Kübel, die nicht minder grün und fett glänzenden Blätter von Camelie, Mirte, Mispel, der allerdings nicht winterfesten Gardenie, passt exzellent zu den gedeckten Farben von Putz und Backstein der schönen alten Häuser. Sie sind, die kleinen Ladenbesitzer, vom Druck immer zu hoher Mieten der Immobilienriesen befreit; sie gehen allein der Zufriedenheit nach, die in ihnen entsteht, wenn sie anderen Leuten mit ihren Produkten eine Freude machen können. Oder die Restaurateure. Befreit vom Druck der Finanzwelt, sind es für sie nicht mehr die Banken, für die sie kochen. Auch hier Unvorstellbares, wer es nur denkt, gilt als unverbesserlicher Illusionist: Es wird in diesen Lokalen wie in freundlichen Familien zugehen, die andere zu Gast haben. Ich arbeite mit rosa Brille, ich übertreibe? Mag sein. Solche Träume, finde ich, können gar nicht übertrieben genug erzählt werden. Sie geben Kraft, indem es Spaß macht, sich so etwas vorzustellen, egal wie lang es noch dauert, bis es mit dem Wahrwerden wieder einmal vorangeht.

Und das wird es – wenn uns die westliche Hybris, wozu sie auf längere Sicht in der Lage bleibt, nicht einen final atomaren Strich durch die Rechnung macht. Aber wenn es gut ausgeht!  Mit einer wichtigen Einschränkung, einer Voraussetzung: Die sich in dem Fall weit öffnende Zukunft hätte ohne den radikalen Wechsel des Systems der Ökonomie und damit des Miteinander keinen Bestand.

Das Problem – siehe Lenin, Ulbricht, Deng – scheint nicht die Marktwirtschaft zu sein. Sie dürfte nur nicht mehr kapitalistischer Profitlogik folgen. Sie ist ein bis auf Weiteres unverzichtbarer Dynamo gesellschaftlichen Wirtschaftens, das wäre ein Punkt. Sie müsste sich aber, die Marktwirtschaft, bis auf Weiteres glücklich gezwungen sehen, ihre Dynamik demokratisch in den Dienst der Interessen jener übergroßen Mehrheit der Bevölkerung zu stellen, die in allem seit Jahrtausenden global leer ausging. Diese Mehrheit hat sich in meiner Langen Reihe der Zukunft, damit die Dinge künftig mit Sicherheit in ihrem Sinn laufen, rundum als Staat organisiert, das wird recht sein, es wird dauern.

© Christoph Bellin

Dabei weiß ich natürlich, was gerade zurzeit, im Frühsommer 2022, in Europa los ist. Wie weit weg sind da Träume? Unfassbar, wie es gelang, die von uns so sorgsam ins Auge gefasste Öffentlichkeit erfolgreich zur Glaubensgemeinschaft westlich homogener Propagandamedien zu machen. Wie man es hinbekam, aus Friedensbewegungsteig Bellizistenbrötchen zu backen. Eine echte Leistung. Lebte Goebbels noch, er wäre stolz auf solche Erben. Sie tragen keine Schaftstiefel mehr, sie tragen Armani und keine Ahnung, wie das teure schwarze, rote und blaue Wollzeug heißt, welches Annalena Baerbock ewig am Leib trägt? Sie schreien auch nicht mehr so laut. Sie sind Meister einer von einstudiert sanften Gesten begleiteten Überredung. Aber wer überreden will, braucht am Ende wirklichkeitsbasierte Argumente. Die fehlen ihnen in diesem Krieg in der Ukraine wie sie bei allen ihren anderen Kriegen gefehlt haben, sie greifen zur Propaganda. Trotz ihres Riesenerfolgs damit – am Ende ein Zeichen der Schwäche.

Das ist gefühlt Unendlichkeiten entfernt von meiner Langen Reihe der Zukunft. Macht nix. Ich will wissen, wofür ich arbeite. Vielleicht hat es mir die Epoche, in der zu leben ich das Privileg hatte, allzu leicht gemacht in Sachen Krieg, Hunger und Not. Ich musste nichts dergleichen kennenlernen.   Darum mag es vermessen klingen, wenn ich bei dem alten Brecht-Gedanken bleibe, dass wir nicht nur für die Suppe, das Brot, den Pfennig kämpfen, sondern für das bessere Leben auch, nach dem alle sich sehnen. Ich habe es von den Indigenen in Südamerika, das mit dem besseren, dem guten Leben, um das es uns geht, egal, was politisch draufsteht. Aber nicht egal, dass die fürs Leben aller unverzichtbaren Dinge allen als Staat organisierten Bewohnern einer bestimmten Weltgegend gehören müssen, ich erwähnte es im Hinblick auf den nötigen Systemwechsel, unbedingt, sonst kann nichts werden aus unseren Träumen.

Es tut mir gut, mir so etwas vorzustellen, es mir im Kleinen durchzurechnen und dann – an den langen Tischen mit den leeren und vollen Gläsern und Plastikbechern mit Pfand, mit bratwurstverlassenen Papptellern voller Senfreste und Ketchup – mich zu besinnen auf alles, was mich umgibt. Die junge Frau etwa, die ihrem Töchterchen den Ketchupfleck von der Stupsnase wischt. Oder der junge Mann, dessen sehnsüchtigem Blick zur Seite, nicht weit weg von mir, ich in der wohl altersbedingt etwas einseitigen Erwartung eines weiblichen Wesens folge, das ich gern mit dem des Blickers verglichen hätte. Aber dort, wohin sein Sehnsuchtsblick mein Auge lenkt, steht ein ebenfalls junger Mann, der ganz woandershin blickt. Wohin? „Ein Jüngling liebt ein Mädchen / die hat einen andern erwählt“ – Heine hat es geahnt –: zu einer hübschen Brünetten mit kurzem Haar und schönem Rücken. Vor uns ein blondes Mädchen mit Brille, Kapuzenjacke und weiten, bunten Hosen. Sie drängt sich an ein etwas kleineres indigenes Mädchen in einem schlanken, kurzen Kamelhaarmantel. Das kleinere Mädchen wirkt etwas linkisch und steif, aber es lächelt tapfer. Je mehr die Blonde die kleine Frau mit den kurzen schwarzen Locken anbaggert – und sie macht das körpersprachlich, sie macht es mit den Augen, mit den Fingern, sie macht es tänzerisch und zärtlich, immer lachend –, je deutlicher sie ihre Neigung zeigt, desto weicher und lockerer wird die kleine indigene Frau an ihrer Seite. Drei Tische weiter haben ältere Damen, die ihren Hut noch im Sommer auf dem Kopf lassen, mit ihrem Hündchen neben sich auf der Bank zu tun. Ein schmächtiger Mitvierziger, ganz in Freizeitschwarz, mit einem kleinen blonden Schnauzer, versucht seit Viertelstunden dem durch die Reihen hetzenden Kellner klarzumachen, dass er zahlen möchte. Die junge Frau am Tequila-Stand trägt ein rundes rotes Kunststofftablett mit kleinen durchsichtigen Plastikbechern voller braunen und weißen Schnapses in Händen. Sie preist sie mit vollem Einsatz an, ihre blanken Augen, die vollen Lippen sprechen für den Tequila. Eine echt lebendige Werbung, denn in ihr wird etwas angepriesen, das mit der Ware gar nichts mehr zu tun hat; frech und witzig zudem, wie der Tequila überhaupt nicht.

Der Höhepunkt: Die Kinder-Abteilung. Das Angebot reichhaltig. Kein Karussell, in dessen miniatürlichen Feuerwehren und Straßenbahnen die Kinder sitzen und bimmeln, auf dessen bunt bemalten Holzpferden und Elefanten (?) sie ziellos in die Gegend gucken, während sich das kreisrunde Gehäuse tausende Male um sich selbst dreht; keine Achterbahn, auch keiner dieser kompakt schweren, elektrisch betriebenen Auto-Scooter, die für Kinder am Steuer ohnehin nicht zugelassen sind und mit denen eins leicht auch schon mal krass aufeinanderprallen kann – stattdessen ein Gegenbeispiel, eines für viele: Ein großes, viereckiges Wasserbecken, von einem mit  Luft gefüllten, kindshoch dicken blauen Plastikschlauch eingefasst. Auf der Wasserfläche die Kinder am Steuer kleiner, mechanisch angetriebener Gummiboote. Alles schön langsam, schön leise. Fast schwebend geraten sie aneinander. Die Kinder lachen, sie sind angstfrei und obenauf. Und mitten drin in alldem eine Dame aus einem der osteuropäischen Länder, korpulent, blond, Ende vierzig, die Chefin. Oben an ihrer Bude steht „Lady Sonnenschein“. Sie thront links der Mitte im Budeninnern auf einem bequemen Drehstuhl. Vor ihr, auf einem kleineren Lehnsessel aus Holz meist ein Mädchen, denn es geht ums Schminken in dieser Bude. Ihre drei Wände sind von oben bis unten mit bunten Fotobeispielen bedeckt dafür, wie ein Kindergesicht bemalt, bepinselt, bekringelt und geblümt aussehen, wie es geschmückt, verhext, versilbert, vergoldet und verzaubert wirken kann.

Sie arbeitet mit Stift und Pinsel, sie malt und strichelt, pünktelt und stäubt. Blumen und Schmetterlinge entstehen auf kleinen Nasen, Stirnen und Schläfen, sie lässt Perlen, Sterne, Blätter, Sonnen und Schlangen sehen auf der glatten Haut der kleinen Gesichter. Sie färbt die kleinen Lippen tiefrot, legt Rouge auf die Wangen. Sie ist eine Künstlerin. Die Mädchen halten still wie gebannt. Schüchtern geht ihr Blick immer mal wieder in den seitlich angebrachten Spiegel. Leise fragt die Lady dazwischen, sie geht auf ihre kleinen Kundinnen ein, lässt sich Zeit, sie ist fertig erst, wenn es wirklich schön aussieht. Ein stolzer letzter Kinderblick in den Spiegel. Geschafft!

Gefeiert und fotografiert wie Prinzessinnen oder gute Feen kehren die kleinen Frauen – selten ist ein Junge dazwischen – zu den Eltern zurück. Ganze fünf Euro kostet der Spaß. Ich habe die Lady nicht mehr fragen können, wie sie mit so wenig Geld für so viel Zeit und Zuwendung zurechtkommt, sie war zu beschäftigt. Aber ohne Menschen wie sie gäbe es Straßenfeste dieser Art nicht. Sie hat sogar noch einen, sicher auch nicht umsonst arbeitenden, Assistenten dabei, er hilft den Kindern beim Aussuchen der passenden Zaubergesichter, er geleitet sie hinein und weist sie auf die schmale Bank rechts hinten ein, wo sie, maximal drei,  sehr ernst sitzen (so sieht eins aus, wenn es sich beobachtet fühlt) und brav warten, bis sie endlich dran sind.

Der anlässlich bestimmter Diskussionsverläufe am Ende immer wieder zu hörende Satz, „der“ Mensch sei von Natur aus am Ende eben doch gierig und auf den eigenen Vorteil bedacht, trifft sicher auf ein paar Gierige zu, die nichts haben außer irrwitzig viel Geld, sie geben seit Jahrhunderten Unmengen davon dafür aus, ihre Sorte Mensch in Print-, Audio- und Videoformaten als Urbild und Matrix der Gattung hinzustellen. Pustekuchen. Von solchen Straßenfesten wie in Hamburg St. Georg bekommen zwar nur jene etwas mit, die das Glück haben, sie per Zufall zu erleben. Aber es gibt sie in vielerlei Gestalt über die ganze Welt verstreut hundertmillionenfach schon immer. In ihnen vermählt sich die Vergangenheit mit der Zukunft, das wahre Wesen des Menschen mit der Erkenntnis, dass es dasselbe überhaupt nicht gibt. Es gibt aber Lebensbedingungen, unter denen die große Mehrzahl der Menschen sich, wenn nicht immer nur von der besten, so doch gewiss von der besseren, der menschlichen und freundlichen Seite zeigen. Davon sollen wir alle medial globalisiert gezielt sowenig mitkriegen wie möglich. Meine Träume, was ihr Wahrwerden angeht, rechnen fest mit solchen Menschen, der Wirkung solcher Lebensbedingungen und dem Zauber solcher Straßenfeste. Am letzten Maisonntag des Jahres 2022, weiß Gott, war es mal wieder soweit. Hoffen wir das Beste. junge Welt, Juni 2022

PRINTTEXTE

Carl Maria von Webers “Freischütz”. FBO. Jacobs.

Zwischenüberschriften junge Welt

Der »Freischütz« kam 1821 heraus. Carl Maria von Webers Oper war nicht allein ein sensationeller, sie war ein aus mehreren Gründen erstaunlich viel Neues bietender Erfolg. Schon die Stadt seiner Uraufführung. Bis 1821 kam das musikalisch Bedeutsame im Opernschaffen aus dem sich als koloniales Zentrum der damaligen Welt begreifenden Mitteleuropa, aus Wien, aus London, aus ganz Italien, aus Paris, das in dieser Zeit zur kulturellen Hauptstadt des europäischen 19. Jahrhunderts aufsteigt. Aber aus dem preußischen Berlin? Dass dort etwas wirklich Bemerkenswertes das Licht der Musikwelt erblickte, war neu. Und Webers (1786–1826) Großtat war in vielerlei Hinsicht die erste wirklich »deutsche« Oper.

»Deutsch« war auch Mozarts »Zauberflöte«, die 1791 in Wien uraufgeführt worden war; aber das »Deutsche« in ihr schlägt sich mit Sarastro, dem Worträucherer und ersten Menschenrechtsmachthaber der Operngeschichte, mit meinem Helden Papageno bis hin zu den bachisch Geharnischten vorerst nur in der Sprache nieder. Immerhin, bis dahin wurde auf deutschen Bühnen italienisch gesungen. Aber Mozart war in einem herzens- statt handelseinigen Sinn bereits ein einer Zukunft ohne Eigentumsdiktat zugewandter Europäer; in seine »Zauberflöte« fließt viel Italienisches und einiges Gluck-Französische ein neben vielfach »deutscher« Musik. Webers Oper aber lebt in ihren Formen, ihrem Ausdruck, ihrer musikalischen Kraft im Kern aus dem noch kaum erschöpften Einklang, dem auch kulturellen Nährboden der übergroßen Bevölkerungsmehrheit jener Gebiete, die später unter der Bezeichnung »Deutschland« zusammengefasst wurden.

Während der »Freischütz« triumphiert, arbeitet Beethoven an »Missa solemnis« und »Diabelli-Variationen«, er hatte seine große Oper »Fidelio« nach vielem Hin und Her schließlich während des Wiener Kongresses doch noch groß herausgebracht und war bereits der alles überragende Gigant der Szene, er prägte und lastete.

Mehrerlei Romantik

Da trifft es sich, dass mit einer Neuaufnahme des »Freischütz« jetzt René Jacobs hervortritt. Derselbe belgische Dirigent, der sich beim selben Label Harmonia Mundi France vor nicht allzu langer Zeit mit Beethovens »Leonore/Fidelio« einen Namen gemacht hat (jW, 21. 12. 2019). Sein »Instrument« ist erneut das Freiburger Barockorchester (FBO), dazu ein vom früheren Countertenor René Jacobs mit Metierkenntnis zusammengestellter Sängercast.

Auch die »Leonore« ist eine deutsche Oper. Aber welche Differenz zwischen »Zauberflöte«, »Leonore/Fidelio« und »Freischütz«. Dreierlei Deutschsein. Dreierlei Idee von Oper. Webers Lebenszeit war eine glühend heiße Epoche. Vieles schmolz dahin oder verband sich zu Neuem, um erneut wachsend dynamisch stabil zu werden. Energiequelle bis weit ins folgende Jahrhundert: die Ideen der französischen Revolution, mit auch musikalischen Folgen. Die Geburt einer neuen Musiksprache – genuin bürgerlich, pathetisch, triumphalistisch – verdankte sich dem französischen Komponisten François-Joseph Gossec. Der verstorbene Musikautor Ulrich Schreiber weist in seinem zweibändigen Opernführer darauf hin, dass Gossec neben vielem anderen für die orchestrale Emanzipation der Naturhörner sorgte; Weber baute sie, dem deutschen Wald huldigend, im »Freischütz« wegweisend aus. Hatte schon Mozart in seinen Moll-Werken, den Klavierkonzerten, Fantasien, in seinem wunderbaren Streichquintett und an manch anderer Stelle ausgesprochen romantische Momente, sind diese bei Beethoven kaum zu zählen. Undenkbar ohne Gossec der Ton der »5. Sinfonie« oder des Trauermarschs der »Eroica«.

Karl Friedrich Schinkel

All das trägt sich, sich überlagernd und gegenseitig durchdringend, binnen ungefähr fünfzig Jahren zu. Was aber ist davon im seither etablierten Verständnis »romantisch«? Mit Sicherheit lässt sich vieles von dem, was seit anderthalb Jahrhunderten als »Romantik« gilt, in die Nuanciertheit aufgeschriebenen Nachdenkens über die Epochen der Künste nicht mehr einsperren. Die Romantik, wenn man so will, beginnt – zeitgleich mit dem Rokoko, aber ästhetisch völlig anders ausgerichtet – mit Carl Philipp Emanuel Bachs Klavier-Fantasien. Schaut man sich die Gemälde der Epoche an – Goya, David, Ingres, Schinkel, Delacroix, am Ende, extrem zukunftsweisend, William Turner –, überrascht, wie verschieden die Wege, wie gediegen, verharrend, geformt bei den einen; wie frei geschaut und meisterlich getan bei den anderen!

Schon der Barock hatte ja die Renaissanceordnung aus vollendet gestalteter farbiger Ruhe und geometrisch atmendem Raum aufgelöst – in eine im Westen regelbasiert affektierte Leidenschaft; nach Osten hin in eine exzessiv geordnete, echt deutsche – Händel wusste sich ihr zu entziehen –, eine weiter hinten echt russische Innigkeit. Mitten heraus aus dem sympathischen Zwischenspiel des Rokoko brechen in kurzer Folge Sturm und Drang und aus ihm – via Carl Philipp Emanuel Bach – die Wiener Klassik hervor. Ihre drei Meister verfolgten in der Sprache ihrer Länder gebannt die revolutionär-endgültige Überwindung des Mittelalters in Frankreich; allein Haydn wohl eher mit nur musikalischen Konsequenzen. In Beethovens, Mozarts und auf markant eigene Art auch in Schuberts Musik überdauert dieses Erlebnis auf je verschiedene Weise.

C. M. v. Weber

Aber kaum ist Beethoven 1827 tot, steht Schubert, der Spätling der Wiener Klassik, im Ruch, der erste wirkliche Romantiker gewesen zu sein. Und nun Weber. Schon auf dem Deckblatt des »Freischütz« ist zu lesen: »romantische Oper«. Mit ihren Feldern, ihren Auen, dem Jungfernkranz und mehr noch mit den theatermusikalischen Ausschreitungen der mittelalterlich höllischen Samiel-Sphäre gipfelnd im 2. Aktfinale der Wolfsschlucht, ist sie bis hin zu Wagner das Modell für »die« romantische Oper. Aber Weber ist elf Jahre älter als Schubert. Und der war gerade mal dreizehn Jahre jünger als der unangefochtene Erzromantiker Schumann. Hatten die einen die vorläufige Niederlage der Revolution seit Thermidor und Wiener Kongress noch nicht verdaut und mussten mit deren Ergebnissen ab 1815 die repressive Gewalt der Metternichschen Restauration erleben, trieben die um und nach 1800 Geborenen in einer langen Phase weiterer Prekarisierung und forcierter staatsterroristischer Unterdrückung schon auf die am Ende verlorene Revolution von 1848 zu.

Oper für eine kleine Welt

Der sechzehn Jahre ältere Beethoven hatte noch ein Jahr zu leben, als Carl Maria von Weber 1826 mit vierzig starb. Auch an Weber – konzentriert in der »Freischütz«-Ouvertüre – ist die neue Sprache Gossecs nicht vorbeigegangen. In ihr erklingt bei beiden die sinfonische Verheißung bürgerlichen Aufbruchs. Der Unterschied: Weber geht das Jacobinische ab, das dezidiert Martialische des einen Wimpernschlag lang revolutionären Bürgertums, Mars, das war der griechische Gott des Kriegs. Sein Sprachrohr Gossec dirigierte die Tausenden von Mitwirkenden seiner revolutionären Massenmusiken weit geöffneten Blicks in eine glorreiche Zukunft, Open air auf dem bis an den Horizont mit Menschen gefüllten Champ de Mars, dem Marsfeld.

Weber dagegen schrieb seine Opern für die überschaubare Welt der königlichen Staatstheater, er hielt sich zivil. Seine Romantik hat etwas vom Citoyen. Weder sein deutscher Wald noch der romantisch exaltierte Geisterspuk der Wolfsschlucht berühren sich mit dem, was Rousseau unter Natur verstand. Dabei hat, wie Rousseaus Botschaft, die packende Zweitwirklichkeit der Wolfsschlucht-Musik etwas modern Auflösendes. Die Malerei Eugène Delacroix‘ (1798–1863) macht über Gattungsgrenzen hinweg vergleichsweise deutlich, mit welchem Pfund Weber da wuchert. Aber anders als Beethoven war Weber kein republikanischer Berserker. Die wilde Kraft, die sich in Delacroix‘ Gemälde mit dem blitzhellen Krafthengst vor dunkelstürmischem Himmel ballt, wütet auch in der Unheimlichkeit der Wolfsschluchtmusik.

Eugène Delacroix

Das Unheimliche schafft Unruhe. Die mochten die Oberen schon damals nicht. Weber schirmt die Dynamik dieser Unruhe mit der Eindimensionalität des guten Glaubens ab. Er bedient in volkstümlich großer Musik die seichte Scheinheiligkeit des Biedermeier, ein Stil, der malerisch anschaulich wird in einer, wie bei Weber, technisch meisterlichen und malerisch vorzüglich duftenden Landschaftlichkeit des gar nicht immer nur biedermeierlichen Carl Spitzweg (1808–1885).

Dem guten Glauben gehört im »Freischütz« das letzte Wort. Aber die ganze Oper hindurch wird seine erleuchtete Eindimensionalität bis in Einzelheiten immer wieder durchkreuzt, durchwirkt und durchbrochen von der finster tremolierenden Unruhe des Unheimlichen, musikalisch ist sie der heiligen Ruhe ohnehin weit über. Weber verwirklicht im »Freischütz« die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, ein Moment, das unter den Künsten so radikal nur der Musik gegeben ist.

Jacobs und das FBO spielen es präzis und spannungsgeladen aus, sie stellen die bis heute unbestritten referentielle Dresdner Produktion der Deutschen Grammophon von 1973 mit Carlos Kleiber, der Staatskapelle und gesegneten Sängern nachgerade in den Schatten – einer anderen Sonne allerdings. Zumindest im Ohr jener, denen im kammermusikalisch durchhörbaren, barockinstrumentiert die Farben segmentierenden Klang des FBO nichts an Erscheinungsgröße fehlt, im Gegenteil: Webers neue Orchesterbehandlung bietet ihnen in Händen Jacobs’ und des FBO eine Romantik, die farbiger, präsenter und zeitgemäß expressiver ist als die des großen Kleiber.

Friedrich Kind

Dabei weiß René Jacobs offenbar, dass auch die historischen Schichten eines Werks erklingen müssen, wollen die ästhetischen einleuchten. Es gibt in dieser Oper der vielen Schichten, in der Literatur wenig beachtet, auch eine der Klassenlage. Nicht allein um Gut gegen Böse dreht sich alles. Die seit der Uraufführung gespielte Fassung des »Freischütz« beginnt nach dem C-Dur-Jubel am Ende der Ouvertüre mit etwas Drittem: In der großen Volksszene des Schützenfests tritt mit den Bauern – als Chor und solistisch im Schützenkönig Kilian – als erstes die übergroße Bevölkerungsmehrheit der damaligen Unterklasse auf. Ein aggressiv selbstbewusstes Spottlied gegen die feudale Obrigkeit unterstreicht die Konstellation. Kilians Lied erinnert an den vorrevolutionär trotzig kampfbereiten Figaro Mozarts, der in seiner Opposition in Webers Kilian allerdings schon nicht mehr allein ist (dass der »Freischütz«-Librettist Friedrich Kind ihn als »reichen« Bauern sieht, enthebt ihn nicht seiner Klasse). Weber habe, so der lesenswerte Musikschriftsteller und Weltbühnen-Autor Oskar Bie (1864–1938), mit dem »Freischütz« gegen viele Widerstände und Anfeindungen eine neue Art Kunst durchgesetzt, »die mit der Volkstümlichkeit Revolution verband, eben weil diese Revolution die des Volkes war.«

Biedermeierprobleme

Franz Schubert

Nun treten in Jacobs’ Neuaufnahme in einem Prolog als Protagonisten des Guten im »Freischütz« aber zuerst der Eremit und die weibliche Hauptfigur Agathe auf. Der Dirigent folgt damit dem Text der Urfassung Kinds. Der hatte den Eremiten nicht am Ende wie einen Deus ex machina aus dem Nichts kommen lassen wollen, die Oper sollte mit dem Prolog zyklisch-ethischen Halt und Rahmen bekommen. Aber Weber wollte Tempo. Er strich Kinds Prolog. Jacobs macht den Strich wieder auf. Das Problem: Woher nehmen die Musik für die beiden, von Weber nicht komponierten Prologszenen? »Gestohlen« hat Jacobs nur bei Schubert. Die Noten zur dito gestrichenen Auftrittsnummer des Erbförsters Kuno entstammen dem Trinklied aus Schuberts Singspiel »Des Teufels Lustschloss« (Zweitfassung von 1814); der Eremiten-Text wurde mehrheitlich mit Adagio-Teilen aus der Ouvertüre und anderem unterlegt, Agathe braucht im Prolog keine Noten, sie spricht anfangs nur.

Der »Freischütz« ist eine Oper des Biedermeier auch darin, dass er in der Zwischenklasse spielt. Die Jäger, extrem angepasst und untereinander konkurrierend, erstreben alle im Amt des Erbförsters das ihnen erreichbare Karriereziel. Max als männliche Hauptfigur hat es glücklich auch noch auf die Erbförstertochter Agathe abgesehen; er muss sie sich, so ein alter Brauch, durch einen Probeschuss erst noch verdienen.

Auch im Blick auf Agathes Cousine Ännchen geht Jacobs andere Wege. Er macht sie vom herkömmlich harmlosen Biedermeierpüppchen zur selbstbewusst aktiven Serva padrona, einer Dienerin als Herrin (so der Titel einer berühmten Oper Pergolesis); Theodor W. Adorno hat diesen selteneren, gesellschaftlich mehr am Unten orientierten Charakter des Kleinbürgertums in Kinds Ännchen ausgemacht. Ihre von der Bratsche Corina Golomoz’ herausgestrichene Bravour-Romanze »Einst träumte meiner seligen Base«, von Kateryna Kasper komödiantisch drall, mit natürlichem Vibrato vorgetragen, beglaubigen Ännchens dramaturgisches Gewicht eindrucksvoll. Ohne dass solche Anschauungen im »Freischütz« weiter verfolgt würden: Der C-Dur-Jubel am Ende der Ouvertüre, aus dem sich eingangs progressiv ja vielleicht der kraftvoll himmelwärts strebende Optimismus eines historisch noch weitgehend unbefleckten Bürgertums heraushören ließe, wird im Handlungsverlauf zurückgeführt ins Private: Aus Agathes vollem Jungfernherzen bricht am Ende ihrer großen Arie genau zur Musik des C-Dur-Jubels die Liebeserwartung, denn es ist der Jungmann Max, der sich im Moment im fahlen Mondlicht des Waldes nähert. Schließlich dient diese Musik ganz am Ende noch einmal – schon deutlich weniger kraftvoll instrumentiert – zur Bekräftigung des krass platten Happyends des »Freischütz«.

Vorbereitet von drei wundervollen Ensembles, entfaltet sich im fast zentral als zweites Finale angelegten Wolfsschluchtorbit eine andere wichtige Schicht der Oper: strukturelle Angst vor den Schrecken des Krieges, der Tod in den Texten des düsteren, von wenigen Accompagnati unterbrochenen Melodrams ist zentral. Die Handlung spielt in der Zeit unmittelbar vor Ende des Dreißigjährigen Kriegs; Kaspar, von Dimitri Ivaschtschenko psychosozial kernecht gesungen, ist ein markig baritonaler Landsknecht. Die Menschen von 1821 hat das Wolfsschluchtfinale in ihrem guten Glauben erschüttert, sie hatten dergleichen von den Napoleonischen Kriegen her noch gut in den Ohren und Knochen. Samiel zitiert etwas verfrüht Nietzsche (1844–1900): Gott ist tot. Bei Jacobs hat dieser Dienstleister der Hölle, bei allem Todesgeruch, einen kleinen Rest mephistophelisch bitterer Kritik. Wie anders dagegen noch die Höllensphäre in Mozarts, in Webers Geburtsjahr uraufgeführtem »Don Giovanni«. Da macht der adelige Höllenaspirant, ein Bariton, eine faustisch andere Figur als der, in Jacobs’ »Freischütz«-Neuaufnahme leider etwas seltsam timbrierte, biedermeierlich ängstliche Tenor Max (Maximilian Schmitt). Für ihn ist die Wolfsschlucht ein moralischer Alptraum und Absturz, fürs Auditorium ein hinreißender musikalischer Trip.

Im Hinblick auf ein operngeschichtliches Manko des »Freischütz« – er ist noch nicht durchkomponiert – wäre mit Hilfe der in dieser Aufnahme erklärtermaßen verwendeten Hörspieltechnik (den Hörenden soll auf diese Weise beim »Sehen« des Bühnengeschehens geholfen werden) mehr drin gewesen: Auch die modernisierten Singspieldialoge halten noch auf, auch sie wirken oft unbeholfen naturalistisch und altbacken. Eine Regie dafür vermisst man ebenso wie den klangvariabel atmosphärischen Einsatz digitaler Möglichkeiten der Klangerzeugung.

Im dritten Akt erfolgt mit dem Auftritt des Eremiten die ideologische Rettung. Alles ist auf Beruhigung gestellt. Das Orchestervorspiel ein Programm. Die Hörner in zunächst Sicherheit und Ordnung versprechender Rüstungsmusik wechseln den Ton: Jägerlich zivilmilitärisch erklingt ein Jahrhundert-Hörnerruf, der sicher auch Rossini gern eingefallen wäre; er ruft zum alles entscheidenden Probeschuss. Wieder ein Volksfest. Denn mit den Unteren kehrt noch einmal der protodemokratische Ton des Anfangs zurück, der Marschmodus mutiert zum Volkstanz.

Alles beim alten

Jacobs und Kind haben recht: Durch den Prolog am Beginn bekommt der fromme alte Mann am Ende mehr Wirklichkeit. Aber was ist das für ein Finale! Ein wahrer Berliner Bundestagsfestakt der Gegenwart. Denn da wird wie vor laufenden Kameras etwas gesundgebetet, von dem alle wissen, es ist die Krankheit. Trotz der megaspäten Abschaffung des unmenschlichen Probeschusses und trotz des Tods des bösen, am Ende richtig armen Kaspar bleibt – in der oratorisch gehobenen, musikalisch je höheren, desto uninteressanteren Welt, die da beschworen wird – alles beim alten. Allerdings, es entsteht Verstörung. So viel menschliche Schwäche, ausgenutzt von so höllischen Mächten – das hat einfach zu viel Ähnlichkeit mit allem, was die Menschen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus eigener Erfahrung allzu gut kannten.

Es war natürlich Richard Wagner (1813–1883), der sich 1844 mit den Worten »Nie hat ein deutscherer Komponist gelebt«, grammatikalisch anfechtbar, musikalisch aber nicht ganz unberechtigt, das Erbe Webers unter den Nagel riss. Zugleich setzte er das bis heute geltende Stichwort von der Geburt der »deutschen Nationaloper« in die Welt.

Im Booklet-Text zitiert Martin Bail zum Thema »Freischütz und deutsche Nationaloper« einen Aufsatz des bedeutenden Musikwissenschaftlers Alfred Einstein von 1941: »Die berühmte Wolfsschluchtmusik ist ein französisches Melodram, die Romanze Ännchens eine französische Romanze und die große Szene und Arie Agathes« – Polina Pasztircsak lässt ein anrührendes, stimmlich angenehm unaufgedonnertes Kleinbürgermädchen hören – »eine italienische ›Scena‹«. Italienisch wie Kaspars triumphstrotzende Vendetta-Arie »Schweig, schweig«. Nix mit deutsch. Die musikalisch echt bis ins feinste Nervennetz der Seele reichenden Nummern des »Freischütz« verdanken sich durchweg der Musikgeschichte Mitteleuropas, wie gut.

Nationalistischer Missbrauch

Spurenelemente deutschnationaler Vorstellungen von so etwas wie Vaterland, die sich die »Nationalen« – seit je anfällig für Plagiate – ins Wappen malten, gab es bereits 1821 in der linken Forderung nach konstitutionell vom Feudalismus befreiten, national geeinten Bürgerrepubliken. Aber der Nationalismus, wie wir ihn heute kennen, kam 1844 gerade erst auf, als der königlich-sächsische Hofkapellmeister Wagner seine Rede am Grab Webers hielt (dessen sterbliche Überreste er von London zum endgültigen Grab nach Dresden hatte überführen lassen). Als Denkschema und politische Bewegung war der Nationalismus, so Eric Hobsbawm in seinem Buch zum Thema, die Antwort der Herrschenden auf die zur selben Zeit im Entstehen begriffene Arbeiterbewegung.

Freiburger Barockorchester (in jung)

Er hat sich, der Nationalismus, deprimierend erfolgreich nicht zuletzt aufgrund der schweren Unterlassungssünden der deutschen Linken, schamlos unter den Nagel gerissen, was es heißen könnte, deutsch zu sein. Aber der durchgreifend nationalistische Missbrauch des irgendwie Deutschen an den Deutschen muss nicht zwangsläufig dazu führen, die Möglichkeit eines Deutschseins fundamental zu verwerfen. Auf dieser »Freischütz«-Neuaufnahme mit international aufgestellten Vokalisten, dem mehrheitlich deutschen FBO und dem Belgier René Jacobs klingt der »Freischütz« unbelastet europäisch, frisch und kraftvoll. Und das Hinhören auf das, was vielleicht »deutsch« sein könnte in den nicht wenigen, zu wirklichen deutschen Volksliedern gewordenen Nummern, lädt ein, Antworten zu finden auf die Frage: Was ist das, was könnte es sein, das »die Deutschen«, die das Land, in dem sie leben, irgendwann in momentan besonders fern erscheinender Zukunft begründet auch einmal »ihrs« nennen werden (Brecht, Kinderhymne), unterscheidet von den vielen Menschen jenseits ihrer Grenzen? junge Welt, Mai 2022

Carl Maria von Weber: Der Freischütz op. 77 WEV.C 7 – Christian Immler, Kateryna Kasper, Maximilian Schmitt, Yannik Debus, Matthias Winckhler, Dimitry Ivashchenko / Zürcher Sing-Akademie / Freiburger Barockorchester / René Jacobs (Harmonia Mundi France)

PRINTTEXTE

CDREVIEWS

Vorläufer – aber eben Beethoven.

Beethoven, so kann man sich das vorstellen, kam aus dem 1792 um die 9500 Seelen zählenden Bonn in eine für ihn unfassbar riesige Metropole, Wien zählte 300000 Einwohner, er wollte sie erobern. Und setzte gleich ganz oben an.

Bei Joseph Haydn, dem noch lebenden der zwei großen Wiener Meister und Platzhirsche nahm er Unterricht. Gegen den ein Jahr zuvor verstorbenen und beim musikliebenden Wien als Maßstab aller Dinge noch höchst präsenten Mozart aber hatte er anzuspielen und anzukomponieren.

Die Firma Harmonia Mundi France setzt offenbar trotz Verkaufs an einen Investor vorläufig ihr ruhmreiches Großprojekt fort, die Werke Beethovens bis 2027, dem zweihundertsten Todestag des mit Bach größten Komponisten des deutschen Bürgertums, in referentiell öffnenden, sich durchweg auf interpretatorischem Höchstniveau bewegenden Aufnahmen aller Genres herauszubringen.

Mit dem 1. und 3. Klavierkonzert schließt das Label die Fünferreihe dieser Gattung ab. Im dritten Werk in c-Moll nimmt der junge Beethoven  schon der Tonart nach – Mozart schrieb eines seiner beiden Moll-Klavierkonzerte in der Beethoven-Tonart c – eine selbstgestellte Herausforderung an. Das c-Moll Konzert schreibt er auf dem Scheitelpunkt seiner Auseinandersetzung mit Mozart. Er beginnt im Orchester im eigenen Ton, selbstbewusst wie seine Klasse, im zweiten Thema wird er mozartisch heiter. Dann tritt nach einer groß vorbereiteten Fermate das bürgerliche Ego hervor, im Solisten. Kristian Bezuidenhout schleudert die drei herausfordernd arpeggierten Aufwärts-Oktavtonleitern denn auch selbstbewusst heraus als sei‘s die Erklärung der Menschenrechte. Aber dann wiederholt Beethoven das trotzige Motiv rokokohaft verspielt – er wusste, was sich gehörte, er wollte demonstrieren, er hatte seinen Mozart inzwischen voll drauf. Und wie ein Surfer auf dem Kamm der rollenden Orchesterwelle beginnt Bezuidenhout auf beste mozartsche Art figurativ dahinzuperlen, jede Einzelnote punktierend und deutlich, die Energie der Wellenform im Herzen, aber auch jederzeit bereit und in der Lage, wieder in den sich immer wieder meldenden Beethoven zu schlüpfen.

Jemandem, dem immer mal wieder der Gedankenstuss des bis heute durch viele Köpfe rinnenden Glaubens auf den Geist geht, dass im Grunde doch nur Deutsche deutsche Musik wirklich adäquat zu deuten vermöchten, erfüllt es mit Freude: zunehmend und fürs Publikum immer lohnender sind es Griechen und Portugiesen, Franzosen, Katalanen, Italiener oder Spanier wie Pablo Heras-Casado, die sich dem Repertoire deutscher Klassik und Romantik auf ungeahnten Wegen widmen, das andere, das eigentliche Europa gibt es längst und so weiter.

Der Spanier leitet das führende deutsche Barockorchester aus Freiburg; der Solist ein Südafrikaner, Kristian Bezuidenhout, er lebt seit langem im Breisgau und war bislang Spezialist für Repertoire von etwa Carl Philipp Emanuel Bach bis etwa Mendelssohn. Er spielt auf dem Nachbau eines Conrad Graf Hammerflügel aus der Beethoven-Zeit.

Conrad Graf Hammerflügel

Die alten Instrumente sind in der Lage, forcierte Dramatik wie beim Großauftritt des Solisten nicht allein durch erhöhte Dezibelwerte darzustellen. Die Materialität des Instruments, sein Holz in Korpus und Mechanik, die Drahtsaiten lassen im Fall entsprechender klavieristischer Aktionen obertönige Nebengeräusche hören; sie stellen die Dramatik schon allein im Klang her. Das Pianoforte zeichnet die bei Bezuidenhout wie bei immer mehr Pianisten auf eine Zweiunddreißigstelnote verkürzten Dreiervorschläge Beethovens, die im Allegro scherzando des Rondo im ersten Konzert extrem schnellen Läufe, Sprünge und Wendungen scharf nach, die Echos und kleinteiligen Reaktionen in den Mittelstimmen fallen auf, das Geschehen im bei Beethoven keineswegs nur mehr begleitenden Bass tritt durch dessen differenzierte Registerfärbung deutlich hervor.

Was vom alten Klavier gesagt wurde, gilt auch für Casados Idee davon, wie ein auf alten Instrumenten arbeitendes Orchester klingen sollte, nämlich durch die sich in den Registerfarben auch der barocken Geigen und Bläser deutlich voneinander abhebenden Instrumentengruppen, sie sind noch im Einzelnen differenzierbar selbst in den dichter gesetzten Tuttistellen. Was für den herkömmlichen Beethovenorchesterklang galt: dass er die Wirkung des Gewaltigen durch streicherdominante Kompaktheit und entsprechende Lautstärke erreichte, erreicht das ohnehin kleiner besetzte Freiburger Barockorchester (FBO) anders: auch sein Klang gewaltig; nur eben nicht statisch und laut, sondern durch eine bis in Details nachverfolgbare Orchesterbinnenstruktur dynamisch. Im Ergebnis legt das Große bei Beethoven den Nimbus ab, es wird zum definitiven Gestus.

Das 1. und 3 Klavierkonzert stehen als „Vorläufer“ im Schatten von Nummer 4 und 5. Die Neuaufnahme aber demonstriert, wie interessant und aufregend, spielt man sie wie Bezuidenhout und das FBO unter Pablo Heras-Casado, bei Kalibern wie Beethoven auch schon die Vorläufer sein können. Man bekommt Appetit auf Mozarts Klavierkonzerte in genau dieser Besetzung. Mal sehen, ob Harmonia Mundi France so etwas noch gestemmt kriegt. junge Welt, Mai 2022

Beethoven: Klavierkonzerte Nr. 1 C-Dur op. 15 und Nr. 3 c-Moll op. 37 – Kristian Bezuidenhout / Freiburger Barockorchester / Pablo Heras-Casado (Harmonia Mundi France)

CDREVIEWS

Sinfonische Etüden die Phonoindustrie die Barbarei.

In der Geschichte der Musik des bürgerlichen Abendlands nimmt die Variation einen Sonderplatz ein. Von Buxtehudes La Capricciosa über die davon angeregten „Goldbergvariationen“ hin zu Mozarts verstreuten Glanzleistungen wie etwa der berühmte Kopfsatz der A-Dur Sonate K. 331 und bis zum Gipfel, Beethovens Diabelli-Variationen: ein Musikhimmel denkender, spielerisch genau gedachter Gefühle.

Aber es geht mit den Variationen in zumindest einem Werk noch weiter. Mit Robert Schumanns Sinfonischen Etüden op. 13 tut sich der romantische Schritt in eine Freiheit auf, die vom Quintenzirkel bis zum Sonatenhauptsatz alles im Sinn hat, um es hinter sich zu lassen. Natürlich wäre ohne Bachs Wohltemperiertes Klavier nicht denkbar, was Schumann mit den vier absteigend einleitenden Noten der Sinfonischen Etüden macht, die signalhaft das eigentliche Thema sind. Aber was der alte Bach an Wissen und Souveränität über die Tonarten weitergab, kommt nun nicht mehr in Form ausgeklügelter Modulationen und linearer Polyphonie daher. Es hebt sich in orchestralen Strudeln, in paganinesken Kapriolen, in eine sich an die alten Regeln nicht länger gebunden fühlende Schärfe akkordischer, rhythmisch charakteristischer Sechzehntelketten auf oder – emotiv entgegengesetzt – in weit ausholende Momente der Trauer, tief einverstandener Besinnung, kapriziös charmanter Selbstironie.

Der französische Pianist Eric Le Sage spielt das alles uneitel virtuos, verschwenderisch genau, auf einem Steinway des späten 19. Jahrhunderts. Er hat mit einem Kollektiv großartiger Partnerinnen und Partner Schumanns gesamte Musik für und mit Klavier aufgenommen, ein in vieler Hinsicht komplettes Panorama     pianistischer Romantik á la Schumann.

Hoch zu loben bei der Gelegenheit das Label alpha, Primus der Pariser indipendent Produktionsfirma outhere Music; es hat sich musikalischer Qualität verschrieben, vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Schumann-Klavieredition ist eine Großtat diskografischer Produktivität. Die Zeiten sind vorbei, als so etwas von den Großen, den Majors kam (Deutsche Grammophon, Decca, Philips, EMI, Teldec, Sony Classical) – oder doch wenigstens von deren Ablegern fürs Interessante (Archiv Produktion, Deutsche Harmonia Mundi, Erato, Virgin Classics). Soweit Majors überhaupt noch da sind, existieren sie nur mehr dem Namen nach. Statt eines Programms haben sie eine Marktstrategie, statt Bildung ihre Topmanager immerhin noch Wikipedia. Das eine schließt das andere nicht unbedingt aus. Aber die drei übriggebliebenen Majors konzentrieren sich auf Blockbuster komm raus auf Zugpferde wie Jonas Kaufmann, Anna Netrebko, aufs zweihundertste Silvesterkonzert der von einem Dirigenten der Stunde dirigierten Wiener Philharmoniker. Reichlich Idole und Superstars gibt es eigentlich nur noch im Spitzenfußball.

Sinfonische Etüden Thema, Eric Le Sage

Da, wo jetzt Outhere Music mit alpha hineinzuwachsen scheint, brillierte als Marktführer der Independents mit einem erlesenen Katalog des Besonderen bis vor kurzem die im schönen Arles ansässige Firma Harmonia Mundi France. Wie alle anderen wurde sie am Ende aufgekauft von irgendeinem investitionshungrigen Getränkekonzern, die Folgen immer gleich: mehr Umsatz-Gängiges in immer dooferer Verpackung, immer schlauerer Vermarktung – weg mit den bilanzbedrohenden Wagnissen, die  auf etwas so Ungewisses setzen wie die Zukunft der Tonkunst. Rosa Luxemburg hat es kommen sehen. Die Barbarei nimmt Gestalt an.

Dagegen spielen Musiker wie Eric Le Sage und die Seinen an. Was aus ihnen und aus denen wird, die in ihrer Neigung zur Musik ohne sie aufgeschmissen wären, steht in den Sternen (und hoffentlich nicht in denen des Star sprankled banner). Auch da, nach allem, was man so hört, liegt die Hoffnung im gar nicht mehr so fernen Osten. junge Welt, April 2022

Variation 7

Schubert: Sämtliche Werke mit Klavier – Eric Le Sage, Klavier / Antoine Tamestit, Jean-Guihen Queras, Paul Meyer ua. (alpha/outhere Musik)

CDREVIEWS