Halbfinale.BABYN JAR.

Eigentlich wollte ich mir das „ostdeutsche“ Pokal-Halbfinale anschauen. Aber Halbzeit. Tagesthemen. Carmen Miosga schmeißt mit den dieser Tage im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine unflationär auf das Fernsehvolk einprasselnden Attributen nur so um sich. Verbrecherisch, brutal, blutig, erbarmungslos, unmenschlich, barbarisch. Man kannte solche Worte im Mund dieser Leute im Zusammenhang mit einem der vielen Kriege der letzten Jahre eigentlich noch nicht. Sie waren sonst doch immer geradezu exemplarisch sachlich und kühl, distanziert, professionell, “objektiv” – komme was da wolle an Kriegen und Völkerrechtsverbrechen der westlichen Führungsmacht, an Umweltschweinereien und politischen Gangsterstücken. Aber jetzt ist Zeitenwende. Jetzt ist Putin, jetzt muss durchgedreht werden.

An diesem Abend aber – das Spiel der roten Bullen gegen die Eisernen stand eins zu null für letztere – fiel mir zum wiederholten Mal etwas auf, das im Zusammenhang des laufenden Propaganda-Tsunami relativ neu ist: Hinter die ganz in wollen dekolletiertem Mittelblau  posierende Frau Miosga war in durchweg abendgoldenem Umbra überlebensgroß das berühmte Foto Willi Brandts und Leonid Breshnews projiziert, aufgenommen 1971 während einer Motorboottour auf dem Schwarzen Meer, beide mit Sonnenbrille im Fahrtwind – eine Ikone beginnender Entspannungspolitik. Miosga legt auch schon los: die SPD muss ihre Strategie der Siebzigerjahre schonungslos bilanzieren. Denn da – virtueller Zeigefinger, Leute, denkt schleunigst um! – ging es, scharf von heute aus gesehen, ja schon los, da begann die eigentliche Vorgeschichte dieses ukrainischen Kriegs der Russen.

Die CDU hat es damals schon gewusst, sie hat laut krakehlt. Hätten wir, wie Franz Josef Strauß es bereits in den 1960er Jahren für zielführend erkannte, Atomwaffen gehabt diesseits der Elbe; hätten die Kommunsten nicht dafür gesorgt, dass Deutschland überhaupt erst viel zu spät wiederbewaffnet wurde, tja, da wäre uns dieser seit 1945 – so die weitere Selbstlüge – erste und nun wirklich erschütternde, dreckige, alle Humanität liquidierende Krieg in Europa erspart geblieben. Den Gedanken dahinter, zu dessen Logik es jetzt zurückzukehren gilt, hat eigentlich – bei allen Übertreibungen, die man ihm ansonsten unbedingt ankreiden muss – schon der Vorgänger von Bundeskanzler Adenauer im Hirn gehabt. Eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung hatte dieser letzte deutsche Kanzler vor dem Kanzler des Wohlstandswunders aufgedeckt, er war ihr – von wegen Verschwörungstheoretiker, halbe Sachen kannte der Mann nicht – auch gleich höchst praktisch zu Leibe gerückt. Und wo? Na klar, in Russland.

Wären wir auf Linie des extremen Antibolschewismus / Antirussismus dieser beiden, aufeinander folgenden Führer deutscher Politik geblieben – und darauf läuft am Ende ja doch hinaus, was Frau Miosga uns sagen will – wir hätten uns die vollauf berechtigten Vorhaltungen und die noch unser Staatsoberhaupt völlig zurecht zum Schuljungen degradierenden Frechheiten des gegenwärtigen ukrainischen Botschafters, ja den ganzen Schlamassel mit der Ukraine überhaupt völlig, komplett und gänzlich ersparen können. Zweimal – im Mai 1918 und im Juni 1941 – haben die deutschen Militaristen und Politiker mit Kanonen und Panzern die Ukraine zu erobert, sie aber nicht halten können. Wer weiß, beim dritten Mal hätten sie es mittels der ihnen zur Verfügung stehenden finanztechnischen Massenvernichtungswaffen wahrscheinlich “auf friedlichem Wege” geschafft. Um aus dem Satiremodus jetzt wieder in den der Glosse zurückzukehren: Was bei der ganzen Sache ein wenig irritiert – es wurde in dieser Zeitung im Zusammenhang des warmen Einvernehmens zwischen der aktuellen SPD-Kovorsitzenden und dem erwähnten Botschafter Melnyk bereits thematisiert –, dieser Botschafter hat ausweislich seiner völlig offen zur Schau getragenen Verehrung für den ukrainischen Nazi-Kollaborateur und mörderischen Antisemiten Stepan Bandera auf sehr ernstzunehmende Weise etwas gegen die Juden. Und da kommt doch sehr machtvoll die Frage auf: wo bleibt in diesem gravierenden Fall nun die sehr spezielle, hochsensible Antisemitismus-Schnüffelnase der Achse des Guten, der Anti-Deutschen und all ihrer Geistesverwandten? Wo bleibt vor allem die Stimme der Regierung des Staates Israel? Wer in diesem medialen Irrenhaus in Deutschland im April 2022 kommt endlich auf die doch so naheliegende Idee, den Botschafter Melnyk endlich einmal danach zu fragen, wie er zu Babyn Jar steht, Babyn Jar, der Ort eines der schlimmsten Massaker an jüdischen Menschen ever, begangen von deutschen Soldaten, garantiert nicht von irgendwem inszeniert, das machten die deutschen Jungs damals freiwillig. Babyn Jar, Herr Melnyk, liegt im Norden der ukrainischen Hauptstadt Kiew, und wer weiß, gut möglich, dass der von Ihnen so hoch verehrte Stepan Bandera in Ihrem Geist, werter Herr Melnyk, dabei war. Ganz ohne Ironie: ginge es in der Bundesrepublik des Jahres 2022 noch mit einigermaßen rechten Dingen zu – der Mann gehörte auf kürzestem Weg in Abschiebehaft genommen. junge Welt, April 2022

Babyn Jar im September 1941

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BEDÜRFNIS NACH KLARHEIT.HERR PUTIN UND ICH.

DER GROßE SCHWINDEL.

UKRAINE UND AUGUST 1914.

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Ukraine und August 1914

Man kommt in Gedanken immer wieder darauf zurück. 1914. So ungefähr muss es gewesen sein, die Hetze, der Hass, der heute durchgeschaltet wertebasierte, den Horizont füllende Propagandapilz in voller Entfaltung. Mit allerdings dem einen, alles entscheidenden Unterschied: es gab 1914 noch keine Atomwaffen. Das heißt, alle konnten mit Begeisterung und ohne Angst vor dem Globalsuizid die einzig gerechte Strafe für so viel Gräuel und Schlechtigkeit aufseiten des Feinds herbeisehnen. Der Feind, das waren damals die Serben. Siehatten es frech gewagt, den österreichischen Thronfolger zu ermorden. Es war vor allem der Franzos‘, er sann ja die ganze Zeit schon auf Rache für „70/71“. Und es waren natürlich mal wieder die Russen. Und die einzig gerechte Strafe: der Krieg. Jeder Krieg der neueren Geschichte begann mit einer Hetzkampagne, mit fundamentalen Lügen. Der Feind musste mit allen Mitteln, bis hin zu raffinierten Gräuel-Inszenierungen á la Sender Gleiwitz, verachtet, gehasst, verdammt sein.

Es waren wenige, die 1914 einen kühlen Kopf behielten. Selbst ein mit Recht als Leuchtturm des bürgerlichen Journalismus geachteter Autor wie Theodor Wolff brauchte zwei Jahre, bis er sich von seiner Kriegsbegeisterung geheilt hatte. Thomas Mann brauchte länger, immerhin: Er schaffte es (er hatte einen klugen älteren Bruder) auf beeindruckende Weise noch im Exil.

Heute sieht es eher aus, als müssten wir auf die Theodor Wolffs und Karl von Ossietzkys, die Alfred Döblins, Erich Maria Remarques, die Hermann Hesses und Brüder Mann lange warten. Heute schallt es uns von überall dröhnend entgegen: „Stimmt ja alles nicht!“ Die freieste Presse, die es je auf deutschem Boden gab, weiß es besser: „Im Unterschied zu 1914“, triumphiert sie, „war es Putin, der, wie 1914 der deutsche Kaiser, den Krieg vom Zaun brach!“

Aber sage niemand etwas gegen die sozialen Medien. Neben allem Schlechten, was sie in Händen schlechter Menschen anrichten, haben sie ihr Gutes in Händen guter Menschen. Ob indes der Schweizerische Oberst Jaques Baud ein guter oder schlechter Mensch ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Er ist ein bürgerlicher Mensch, er hat sich akademisch mit den Ursachen des Krieges beschäftigt und ist als Schweizer Militär für die UNO und für die NATO unterwegs gewesen, unter anderem vier Jahre in der Ukraine. Er hat sich, über die sozialen Medien verbreitet, von einer Schweizer Zeitung interviewen lassen. Und ist – als Bürger eines neutralen Landes, das aus schlechten Gründen auf der russischen Liste „unfreundlicher“ Staaten landete – empört über die westliche Berichterstattung. Was er als exzellenter Kenner der Situation und ihrer Vorgeschichte gegen diese “Berichterstattung” anführt, dürfte in manchen Punkten selbst linke Durchblicker überraschen. Im Ergebnis kommt er zu dem Schluss: Nein, Putins Krieg ist eine Katastrophe wie jeder Krieg, aber er ist kein Angriffskrieg. Er ist ein Verteidigungskrieg gegen eine aggressive NATO, die Russland seit dem Verschwinden der Sowjetunion Schritt für Schritt systematisch eingekreist hat.

Wenn es, neben zahllosen Fakten, eines letzten Beweises dafür bedürfte, wer der Angreifer und wer der Angegriffene ist, dann liegt er in der Antwort auf die Frage: Wo war die große Hetzkampagne vor diesem ukrainischen Krieg? Vonseiten Russlands gab es zwar eine kriegsüblich entschieden einseitige Sicht auf die jeweilige Lage. Aber weder vor dem Krieg, noch in seinem Verlauf waren in den Medien Russlands hasserfüllte Töne in Richtung Gegenseite wahrzunehmen. Stattdessen nur anhaltendes Dringen auf friedliche Lösungen bis zuletzt und noch während des Krieges, alles natoseitig abgebogen. Der Westen dagegen arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt in einer Weise an der Dämonisierung Putins, die von Anfang an auf einen Krieg hin drängte. Wer ist der Angreifer, wer der Angegriffene? Hier der Link auf Jaques Bauds Sicht der Dinge. junge Welt, April 2022

https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-4-vom-15-maerz-2022.html#article_1306

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BEDÜRFNIS NACH KLARTEXT.HERR PUTIN UND ICH.

DER GROßE SCHWINDEL.

HALBFINALE.BABYN JAR.

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Wasserschaden.

Es kann passieren, dass, während eins badet, das Wasser aus der Wanne läuft, aber niemand hat den Gummistöpsel im Abfluss berührt. Nur das Telefon klingelt irgendwann, und die Freundin ein Stockwerk tiefer fragt freundlich zögernd, ob bei uns alles in Ordnung ist, von meiner Zimmerdecke tropft‘s. Ich erzähle das, weil ich unlängst über das Phänomen Zeit nachdachte mit der Aussicht, vielleicht etwas darüber zu schreiben. Ich wollte im Josephs-Roman Thomas Manns nachsehen, in dessen Einleitung es nach meiner Erinnerung um die Zeit geht. Mein einstiges Scheitern an dieser Einleitung hatte dafür gesorgt, dass ich Manns längsten Roman – von dem ich mir habe sagen lassen, er sei der sinnlichste, ja erotischste dieses ansonsten doch eher gedankenreichen Autors – bis heute nicht zu Ende gelesen habe. Aber infolge des erwähnten Wasserschadens und einer sich hinziehenden Sanierung großer Teile unserer Wohnung waren die beiden Bände „Joseph und seine Brüder“ in einem der vielen Kartons verschwunden, die sich in den zwei unbeschädigt gebliebenen Zimmern stapelten. Ich hatte scheiternd lediglich in Erinnerung behalten, dass die Einleitung sich auf ungemein belesene Weise mit dem tiefen Brunnen der Zeit befasst. Einleitung wie Zeit haben etwas gemeinsam: sie ziehen sich.

Eine meiner diesbezüglich extremsten Erfahrungen geht auf meine Zeit bei der Bundeswehr zurück. Ich stand Wache am Tor der Kaserne. Alles muss seine Ordnung haben beim Militär. Das hatte in diesem Moment, da ich dort in einer bitterkalten Winternacht des Jahres 1966 stand, zum Beispiel zur Folge, dass der Karabiner, den ich über der Schulter zu tragen hatte, mit der Zeit zur Qual wurde. Denn er war auf der rechten Seite zu tragen. Ich durfte ihn, als sein nicht unerhebliches Gewicht in Gestalt des Lederriemens, mittels dessen er zu tragen war, in immer unangenehmerer Weise für ein immer bohrenderes Schmerzempfinden in meiner Schulter sorgte, nicht über die andere hängen. Und der Karabiner war nicht das einzige. Weder der dicke graue Wintermantel, unter dessen grauer Uniformjacke ich gegen die Vorschrift zwei wollene Pullover trug, noch die doppelten langen Unterhosen unter der Uniformhose, auch die zwei Paar Wollsocken  in meinen schwarzen, blankgeputzten Soldatenstiefeln und schon gar nicht die lächerlichen Fingerhandschuhe an meinen armen Händen vermochten der Kälte zu trotzen. Sie drang durch und durch. Bewegung hätte geholfen. Ein Wachsoldat am Tor aber hat zu stehen. Und was sich als die schlimmste, die schon einfach wirklich höllische Tantalusfolter herausstellte: über meinem Kopf hing, meinen Gesichtskreis fast füllend, die kaltweiße Scheibe einer großen Uhr, wie sie sonst nur auf Bahnhöfen hängt. Über ihre schwarzen Minutenstriche ging schwarz, in mechanisch regelmäßig voran ruckendem Takt, der Sekundenzeiger. Einmal in den zwei Stunden, die ich zu stehen hatte, nahm er, einen Takt auslassend, den Stundenzeiger mit, sechzig Mal den Minutenzeiger, mehr Abwechslung war nicht. Natürlich versucht man sich zu zwingen, die Uhr zu vergessen. Man schaut hinüber zum gelben Backsteinturm des schönen Doms aus der Gotik, der sich jenseits der Kasernenmauer über die Dächer der Altstadt erhebt. Man dreht sich ein wenig, das geht in der Nacht, wenn kein OvW unterwegs ist, kein Offizier von der Wache, man blickt die leere Kasernenstraße entlang; hinter den dunklen Fenstern in den Blöcken links und rechts schlafen warm und weich jene anderen, die für einige Zeit die Kameraden heißen. Aber dann schaut man doch wieder auf diese stoische, Sekunde um Sekunde abhakende Mechanik des schmucklos schwarzen Zeigers im kaltweißen Kreis. Siebentausendzweihundertmal bewegt er sich in zwei Stunden.

Mit allen Fasern meines kältestarren Körpers spürte ich die Ewigkeit jeder einzelnen Sekunde, die sich da über meinem leeren Kopf in dröhnender Langsamkeit an die nächste reihte. Eine Ewigkeit ist etwas Abstraktes, wir Endlichen kennen sie nicht wirklich.  Auf Wache am Tor in bitterkalten Winternächten wird im wie gebannten Blick aufs Zifferblatt der Uhr die Ewigkeit fasslich, wie unendlich lang kann eine Sekunde sein? Meine Augen schweifen ziellos und finden keinen Inhalt. Nach gefühlten zehn frostigen Minuten kehren sie zurück. Der Minutenzeiger, seit ich ihn verließ, hat gerade einmal zwei schwarze Striche hinter sich.

Der bleiche runde Mond, den ich neben dem Domturm sehe, gibt mit seiner Trabantenrunde um den Globus den Menschen seit Urzeiten überall auf der Welt ein Zeitmaß, eine nahezu objektive, sich noch im Zyklus der Frauen wiederfindende Größe. Eins kann den Stand dieser Größe am wolkenleeren Sternenhimmel in vielen Nächten während der vier Wochen, die der Mond braucht, bis er wieder dort ist, wo er begann, an der Gestalt ablesen, die der Schatten der Erde oder der Stand der unsichtbaren Sonne jener mythologischen Kugel gibt in den Nächten ohne Vollmond. Aber wie in jeder erdenklichen Hinsicht weit weg von den im Bewusstsein vieler Menschenalter zu Symbolen gewordenen Gestalten des guten alten Monds als eines Anhaltspunkts für den Stand der Zeit – ist eine Sekunde?

In der Hast, dem Atem beraubenden Tempo der Gegenwart taucht die Sekunde vielleicht noch auf, wenn Menschen, ungeduldig auf etwas wartend, der Zahlenbewegung ihrer Digitaluhren folgen. Im Leistungssport wird die Tausendstelsekunde zum virtuellen, nur noch von elektronischen Apparaturen herstellbaren Nonsense. Wie wundervoll poetisch tickt da das Wort „Uhrwerk“ aus Jahrhunderten herüber. Im dritten Jahrtausend sind es keine „Uhren“ mehr, die uns das Phänomen, das wir die Zeit nennen, anzeigen. An den modelhaft makellosen Handgelenken der Manager globalen Erfolgs prangen stattdessen platinfeiste „Chronometer“.

Wer noch Sinn dafür hat, wer an günstigen Orten steht und gut genug hört, um durch den Ohren betäubenden Lärm des modernen Individualverkehrs zu dringen, kann in den Städten, den Orten und Dörfern, in denen Kirchtürme stehen, noch Glocken hören, welche mit vieren ihrer Schläge die Stunden markieren und sie – erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – in Viertelstunden stückeln. Als die unendlich zuverlässige Folge von Viertelstunden für sie noch die Zeit war, kannten die Menschen die Sekunde nicht, sie hatten keine Verwendung dafür.

Die Zeit war öffentlich, zugänglich selbst noch allen, die das Augenlicht entbehren müssen. Noch in den 1980er Jahren gab es – auf jeder Verkehrsinsel oder in den Straßen, hängend über den Türen vieler Läden und inmitten vieler Marktplätze – große, gut sichtbare Uhren, die Städte waren voll davon. Heute sucht der Mensch selbst auf den Bahnhöfen, wo einst doch auf jedem Bahnsteig, je nach Länge, mindestens zwei Uhren hingen, lange vergebens danach. Die hierzulande übliche Sorte Marktwirtschaft hasst Gemeinsamkeit. Auch die Zeit gehört für sie privatisiert, sie gehört, wie alles andere, der Verwertbarkeit vorgeworfen. Wer wissen will, wie spät es ist, greife nach seinem und ihrem Handy. Auch die Zeit – prepaid oder per Abo – muss käuflich sein.

Wie lange ein Menschenleben gedauert hat, das der fernen Vergangenheit angehört und mithin – sei es das Leben eines Kutschers, einer Magd, eines Tagelöhners – als Teil der Geschichte nun in seiner Dauer in irgendeinem alten Gemeinderegister in Klammern hinterm Namen steht, wie lang dieses Menschenleben gedauert hat, vermag eins so richtig zu ermessen erst – wenn es die Jahreszahl aus dem fernen Jahrhundert einmal spielerisch ins Jahrhundert seiner Gegenwart verlegt. Es wäre dann beispielsweise Goethe von 1949 bis 2032 unter uns, Beethoven von 1970 bis 2027, der dreißigjährige Krieg hätte von 1918 bis 1948 durch Europa gewütet. Auf so etwas ist selbst Thomas Mann nicht gekommen, er wäre nebenbei 1975 in Lübeck geboren worden und erst 2053 in der Schweiz verstorben.

In „Wilde Erdbeeren“ des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergmann, einem Lieblingsfilm, hat der alte, dank seiner Schwiegertochter am Ende seines Lebens die Härte seines Herzens erkennende und überwindende Professor Borg in einem Albtraum die Vision einer, in einer menschenleeren Straße hängenden Uhr mit leerem Zifferblatt. Auf seinem Gesicht im Moment des Erkennens ein fahles Grauen. Wäre ein Leben ohne Zeit ein Alb? Oder war, was den Professor erschreckte, nur die Allegorie seiner abgelaufenen Zeit?

Wenn etwas Hoffnungsvolles im Begriff steht, sich zu erfüllen oder: wenn etwas zu Ende geht, heißt es, seine Zeit sei gekommen. Als sei die Zeit in all den vielen langen Jahre, da sie nicht kam, abwesend gewesen. Wahrscheinlich will die schöne alte Wendung auf den Umstand hinaus, dass die Menschen, solang sie jung sind, die Zeit, als eine Kette aktuell ablaufender Dauern ihres Lebens, rundweg nicht interessiert, es gibt einfach zu viel davon. Verglichen mit dem Eindruck des Alters, dem die Zeit, je älter eins wird, desto schneller davoneilt, schleppt die Zeit sich im Bewusstsein der Jugend manchmal geradezu hin, damals auf Wache hätte ich sie zum Mond schießen mögen.

Ein wie ungemein relatives Ding die Zeit ist, wird jedem Menschenkind schnell klar, das sich die Zeit nimmt, auf Youtube Motetten & Chansons von Josquin Desprez herauszusuchen und sie sich mit Hilfe guter Außenlautsprecher auch anzuhören. Ein Sprung zurück durch sechs Jahrhunderte in eine ferne Welt. Musik der zentralen Renaissance, Josquin wurde irgendwann zwischen 1450 und 1465 geboren. Mittel- und Südeuropa lebten damals für eine Weile im Frieden. Josquin war Franco-Flame zu einer Zeit, da in Italien Fra Filippo, Leonardo, Raffael wirkten.

Eine kulturell glanzvolle, aber auch sehr andere Zeit nicht nur, was die äußere Gestalt angeht. Auch die andere Energie, eine der Sorte, die sich noch nicht ums Immerschneller, Immerstärker schert, die in den Motetten stattdessen ihre Dynamik in einem Innewerden findet, das in den Chansons einen oft schon frivol körperlichen Rhythmus hat. Motetten und Chansons, geistlich und weltlich, wechseln sich ab. Besonders nach der langen Eröffnungsmotette ist es, als bräche im Chanson das Volk ein in „der Kirchen altehrwürdige Nacht“ (Goethe), es lässt sie als heiligen Spuk erscheinen. Welch‘ wunderbarer Spuk aber! Heinrich Besseler hat es als „Klangstrom“ gerühmt, was da so vokalweich und wie allmächtig durch die Zeit geht, was auseinanderfließt, sich in immer neuen harmonischen Konstellationen verzweigt, in immer neuen, oft schrägen Akkorden immer wieder zusammenfindet.

Fra Filippo

Der Rhythmus in den Motetten ist noch hörbar durchwirkt vom schweren, zugleich ruhigen, freien und weiten Atem einstimmiger Gregorianik. Die Entfesselung der Renaissance brachte der Musik mit der Mehrstimmigkeit die Notwendigkeit von Koordination der Einzelstimmen. Der Rhythmus, der vorher gänzlich frei war, wollte geregelt sein, eine andere, eine kollektive Einteilung der Zeit musste her, der Tanz bot reichlich Modelle. In den Motetten ein Wiegen und Weben in weiträumig untergründigen Vierer- und Dreiertakten, springt der Rhythmus in den Chansons quasi vom Himmel auf die Erden.

Wer solche Motetten komponiert und so singt, hat in sich ein, verglichen mit heute, fundamental anderes Zeitgefühl. Es fällt enorm schwer, sich zu Beginn des dritten Jahrtausends auf dieses Gefühl als auf einen, von dem unseren grundverschiedenen Kosmos der Zeit zu besinnen. Glückt es, besteht der Lohn im Entkommen. Kältestarre, Stress und Angst fallen ab. Eins taucht ein in eine Trostwelt der Ruhe. Die da Motetten singen, klingen wie weibliche und männliche Engel als Sinnbilder und Verkünder einer großen Idee, die seit dem Mittelalter das Dasein verklärte. Der Klang dieser Verklärung tut gut. Eins hört auf betörende Art, wie gut sie schon damals die Inbrunst kannten, mit der eins eine bessere Welt ersehnt.

Die Zeit scheint sich aufzulösen in diesen Motetten in Klang und Rhythmus, wobei der Rhythmus auf eine magisch energiegeladene Weise oft wie durchsichtig wirkt. Die Chansonwelt dagegen, vielleicht noch auf den Pariser Spuren Perotins aus dem 12. Jahrhundert, erinnert in Desprez‘ Chansons für fröhliche Momente an einen – für moderne Ohren allerdings durchs Renaissance-Idiom wie avantgardistisch verfremdet wirkenden – Rossini.  Auch die Lebensfreude vor sechshundert Jahren, vergleicht man sie dem zeitgenössischen Spaß-Faktor, klingt in der Musik der Renaissance-Zeit zum Wundern unverbraucht, unschuldig maßvoll.

So bewirkt die Zeit mit der unendlich langsamen Zerstörungskraft von gut 10,5 Millionen Sekunden, in denen sie per Rost gefressen hat an einer vor zwanzig Jahren topfitten Badewanne, einen Wasserschaden; sie dehnt sich, die Zeit, am Beispiel einer einzigen bitterkalten Wintersekunde mitunter ins Unerträgliche, wenn die Lebensumstände unerträglich sind. Und sie zieht sich mitunter zusammen in der auch zeitlichen Weiträumigkeit alter Gesänge, sie löst sich in pures Hören auf, in ein In-der-Musik-Sein. So macht sie Platz für den Raum, der sich auftut, wenn eins sich, unterbrochen von gelegentlichem Zwischendenken, nur noch der Imagination hingibt und allem, was geschieht, wenn die Töne, die Klänge und Zusammenklänge in der Zeit wirken, die ihnen die Musik einräumt und einrichtet. Der Raum, der da entsteht, gleicht dem Raum in Thomas Manns grenzenlos brunnentiefer Geschichte, deren scheinbar ziellos durch den Raum irrende Atome die Sekunden sind.

Ich hätte alte Musik hören sollen in jener klirrend kalten Winternacht am Kasernentor in der Stadt mit dem gelben Dom. Aber natürlich, taschenklein tragbare Abspielgeräte gab es noch nicht, die Kopfhörer hätte ich nie im Leben unterm Stahlhelm untergebracht. Ich kannte solche Musik ja noch nicht einmal. Und außerdem – Musikhören auf Wache war damals natürlich total verboten. junge Welt, April 2022

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Der große Schwindel.

Es war schätzungsweise vorgestern. Aber es hätte auch jeder andere Tag sein können. Der Westen langt wieder mal hin. Auf allen Kanälen. Seit Wochen. Ich schaue Glotze, wenn überhaupt, ohnehin nur noch im Internet. Aber man will sich auf dem Laufenden halten.

Also rein ins ZDF Vorabendprogramm, stichprobenmäßig. Was kommt? Ukraine! Eine Suada von „Fachleuten“, alle habilitiert (wie auch immer). Drei sogenannte Historiker, sauber über die Generationen und Sympathiewerte verteilt. Vom Jüngsten bis zum Unsympathischsten machen alle Druck auf die Regierung. Zwei Völkerrechtler tragen das ihre bei: ein militärisches Eingreifen des Westens wäre völkerrechtlich okay, sagen sie in vertrauenswürdigstem Wissenschaftsdeutsch – man müsste das Ganze halt nur als Völkermord deklariert kriegen.

Und immer wieder dieser eine, eigentlich gehört er auch zu den „Fachleuten“, zu den Interviewten, aber er taucht immer wieder auf, er ist eine Art roter Faden, Röttgen heißt er, CDU und transatlantisch bis in die Haarspitzen. Durch seine Mimik wetterleuchtet ein honigsüßes Schmunzeln. In ihm wohnt der Triumph. Er und seine Leute haben es doch tatsächlich geschafft, die tiefeingewurzelte, unverdorbene Friedensliebe der Bundesdeutschen mehrheitlich gegen „die“ Russen zu lenken und gegen ihren Oberuntermenschen Putin. Joseph Goebbels wäre vor Neid erblasst. Chapeau! möchte man rufen, weil man das französische Wort für Stahlhelm nicht kennt.

Irgendwie taucht in diesem Umfeld völlig überraschend das Wort Solidarität auf – Solidarität mit der Ukraine! Ein Wort, das für bestimmte Kreise immer nach Gewerkschaften roch, nach Arbeiterklasse, da kommt es her, da wird es selbst in diesem Land immer weiter leben. Aber im deutschen Fernsehen, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit der Gegenwart das positiv konnotierte Wort Solidarität? Es geschehen Zeichen und Wunder.

Dann ein Interview. An einem dieser hochmodernen Stehtische steht Frau Eskens von der SPD für die bohrenden Fragen der Stunde zur Verfügung: Kann man Putin mit Sanktionen stoppen? Muss da nicht mehr passieren? In der Totale steht Frau Eskens am Stehtisch einer furchterregend gestylten ZDF-Dame gegenüber, ihre Brille hinreißend intellektuell. Frau Eskens windet sich. Hundert Milliarden für die Bundeswehr, damit müsste sich ihre Partei – wie seit 1914 zuverlässig immer wieder – doch eigentlich hinreichend empfohlen haben. Ein echter Schluck aus der Pulle. Die Börse hat es längst gewürdigt, die Anleger sind ja nicht blöde. Aber das ZDF will mehr. Die Bundeswehr soll sich ihr Geld auch praktisch verdienen dürfen, dafür ist das Militär schließlich da. Auf den Zoom-Auftritt Selenskijs vor dem Bundestag nimmt man mehrfach Bezug: Mit hoher darstellerischer Kunst gibt der Fließhemd-Hohepriester westlicher Freiheitsliebe die Stichworte vor. Im Boxen würde man sagen: Die Brillen-Dame lässt Frau Eskens nicht aus ihrer Ecke kommen. Dabei müsste Eskens doch einfach nur sagen: Die aus allen westlichen Richtungen in die Ukraine gepumpten Waffen verlängern einen nicht zu gewinnenden Krieg und damit das Leid der Menschen in der Ukraine ins Unendliche, schon wäre sie aus dem Schneider. Aber damit hätte sie sich möglicherweise – als geoutete „Menschenversteherin“ – dem Spott der Edelfedern ausgesetzt.

Rüber zur ARD kurz vor der Tagesschau. Frau Will ist mit einem Trailor für ihre sonntägliche Sendung zugeschaltet. Sie sieht aus wie eine sehr teure Flasche Parfüm, sie redet auch so. Auch hier nur Fachleute. Alle stramm NATO-formatiert. Irgendeine Ministerin windet sich auch hier. Schließlich arbeitet man regierungsseitig einesteils auf die via Europa endlich auch für Deutschland zugänglich erscheinende wertebasierte Erstschlagsfähigkeit hin. Muss aber dummerweise irgendwo auch noch das verdammte Öl herkriegen, das vermaledeite Erdgas. Da hat’s die CDU mit ihrer von den Mühen der Ebene   wie befreiten Kriegspropanda leichter.

Wie dumm das alles. Wie durchschaubar. Und doch so massiv, so giftig (und langweilig), so machtvoll. Ich halte es knapp eine Viertelstunde aus. Dann ist Schicht. Ich habe besseres zu tun. Ich höre Schumanns Sinfonische Etüden. Die blanke Realitätsflucht. Aber herrlich. Darüber – über die Musik! – gern das nächste Mal. junge Welt, März 2022

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BEDÜRFNIS NACH KLARTEXT.HERR PUTIN UND ICH.

UKRAINE UND AUGUST 1914.

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Bedürfnis nach Klartext.Herr Putin und ich.

Jetzt reicht’s. Es kommt ein Bedürfnis nach Klartext auf. Ein ausgemacht kluger Kopf – beruflich mit schwierigsten und heikelsten geistigen Problemen befasst und mir persönlich bekannt – hat, höre ich, seine Anteile an der Genossenschaft der jungen Welt gekündigt. Begründung: Die Zeitung lüge in ihrer Ukraine-Berichterstattung.

Dieser Kopf fühlt sich seit langem links. Es gibt viele Motive, links zu sein. Die Mehrheit entstammt der gelebten, erlittenen persönlichen Erfahrung von Ausbeutung, mit allen Begleiterscheinungen gesellschaftlicher Erniedrigung und Ausgrenzung; dies trifft auf genannten Kopf samt Bauch durchaus nicht zu. Andere, zum Beispiel ich, sind links, weil ihr Gerechtigkeitsgefühl mit den Zuständen in der Welt nicht in Einklang zu bringen war, und weil sie seit fünfzig Jahren den Krieg und seine Nutznießer und Verursacher mehr hassen als die Pest. Das allerdings gilt mit Sicherheit auch für den Kopf, von dem ich rede. Dieser Hintergrund reicht aber, wie derzeit millionenfach zu erleben, offensichtlich nicht aus, in Situationen, in die uns alle ein Herr Putin aus Russland gebracht hat, die Übersicht zu behalten.

Ich kenne diesen Herrn Putin nicht, obwohl jeder, der redet wie ich, ständig so arrogant wie sinnfrei als »Putin-Versteher« beschimpft wird. Dabei habe ich mit Herrn Putin weniger gemein als alle professionellen Putin-Hasser zusammen. Denn dieser Herr Putin hat die in Scherben liegende Sowjetunion – aus welchen Gründen auch immer – als kapitalistisches Land wieder zusammengefügt, mit allen Folgen, die so etwas hat. Er hat die Seiten gewechselt. Ich aber bin, so wie die Zeitung marxistisch ist, für die ich schreibe, Marxist geblieben.

Als ein solcher pflege ich mich über das Geschehen in der Welt zu informieren. Auf diese Weise habe ich mitbekommen, wie Herr Putin 2001 vor dem damals noch rosé-olivgrün dominierten Bundestag auf deutsch eine Rede hielt, in der er, wenn ich es recht erinnere, die Vision eines vom Ural bis an den Atlantik friedlich vereinten Europa entwarf. Er hat dem versammelten politischen und militärischen Westen seine Vorstellungen von einer friedlichen Welt 2008 bei Gelegenheit der sogenannten Sicherheitskonferenz in München erneut vorgetragen. Der Westen brach unterdessen einen Krieg nach dem anderen vom Zaun. Nach Jugoslawien, Irak, Libyen, Somalia, Afghanistan begann sich Russland schließlich in Syrien seinerseits zu rühren: Wir sind auch noch da. Herr Putin und sein Außenminister haben trotzdem ihre Verhandlungsangebote hinsichtlich einer zu erneuernden Weltfriedensordnung in regelmäßigen Abständen wiederholt. Ihnen ist die Tür so oft vor der Nase zugeknallt worden, dass sich eigentlich niemand wundern kann, dass sie dieselbe schließlich am 24. Februar 2022 voll hatten.

Gut, ich habe mich mit etlichen anderen geirrt, indem ich dachte, sie würden es nicht tun, sie hatten bis dahin ja nicht einen einzigen Krieg angezettelt, sie verfügen im Gegensatz zu den über achthundert Auslandsmilitärstützpunkten der USA über ganze elf, die Chinesen über einen einzigen – wer bitte hegt da Welteroberungspläne? Und sie haben den Westen bis zuletzt ermahnt, die von diesem abhängige Ukraine zur Erfüllung des Minsker Abkommens zu zwingen, was diesen Krieg mit Sicherheit verhindert hätte. Auch die Truppen innerhalb ihrer eigenen Grenzen (nicht an denen eines fernen anderen Staates) haben sie konzentriert, um den Westen zur Raison zu bringen. Und ihre Atomstreitmacht haben sie in Alarmbereitschaft versetzt, um die Gewissenlosesten auf der anderen Seite (die bis heute öffentlich in Gedanken mit dem Feuer spielen, und es oft genug schon real gezündet haben) in die Schranken zu weisen.

Aber nun ist es passiert. Der Krieg ist Wirklichkeit. Er ist barbarisch, unmenschlich, verbrecherisch wie jeder Krieg. Aber zu welchem der unzähligen Kriege der Vereinigten Staaten hätten wir, während sie wüte(te)n, aus dem Westen solche Attribute vernommen? Wir haben aus diesen Kriegen ja kaum ein Bild der Zerstörungen und des unendlichen Leids gesehen, das die US- und NATO-Kriege angerichtet haben; der eine, der es gewagt hat, die Grausamkeit dieser Kriege zu zeigen, vegetiert seit Jahren im schlimmsten britischen Hochsicherheitsgefängnis dem Tod entgegen. Aber jetzt überflutet uns das Leid der Menschen in der Ukraine jeden Tag, jede Stunde. Ohne dass wir irgend etwas vom barbarischen, unmenschlichen Krieg erfahren hätten, den die ukrainische Regierung seit acht Jahren gegen die eigene Bevölkerung im Donbass führt (wer’s nicht glaubt, lese die Jahresberichte des jeder Putin-Versteherei unverdächtigen UNHCR seit 2014). Das eine macht das andere nicht weniger schlimm. Es sagt nur etwas aus ­darüber, dass Kriege aus oft extrem unterschiedlichen Gründen geführt werden.

Das alles kann jenen, eingangs erwähnten klugen Kopf und alle anderen, die so denken, nicht abbringen von ihrer Raserei. Der Krieg tobt, es fließt Blut. Mütter, Väter, Schwestern und Brüder leiden, Millionen sind auf der Flucht. Man muss etwas dagegen tun, man muss den Krieg sofort beenden! Genau! sage ich. Aber warum erst jetzt? Und warum nicht schon im Vorfeld, als es noch möglich war? Und warum in dieser Einhelligkeit (zusammen mit solch seltsamen Verbündeten), in dieser Entschiedenheit und Kompromisslosigkeit erst jetzt bei diesem Krieg, was ist anders an ihm, was macht ihn zu etwas Besonderem?

Es ist unmöglich, aus einem laufenden Krieg wahrheitsgetreu zu berichten. Das erste, was stirbt im Krieg, ist bekanntlich die Wahrheit. Der Krieg ist per se widerlich, er ist das ­Problem. Diese Zeitung, die jetzt angeblich zum Krieg in der Ukraine lügt, hat vom ersten Tag ihres Bestehens an keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ohne Wenn und Aber eine Antikriegszeitung ist, eine Zeitung für den Frieden, auch in diesem Krieg. Sie wird auch weiter für eine Welt einstehen, in der es keine Kriege mehr geben wird, weil sie nicht mehr notwendig sind. Notwendig nicht als, nach dem Faschismus, letzte Rettung des Krisen- und Kriegssystems Kapitalismus, und notwendig nicht mehr als Grundlage seiner auf Gewalt gegründeten, ihm eingeschriebenen Tendenz zur Weltherrschaft, die andere zwingt, sich dagegen zu wehren. Junge Welt, März 2022

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Ukraine überall.

Jürgen Kesting fährt groß auf. Am Beginn seines aktuellen Beitrags zum jüngsten Gericht, das der Westen medial derzeit zum Thema Ukraine inszeniert, zitiert er Thomas Mann. Der hat in zwei Aufsätzen von 1938 und 1940 seine Sicht auf das Münchner Abkommen und Hitlers Krieg dargelegt. Mit dem, was Kesting mit Thomas Mann einen „fauligen Frieden“ nennt und die „Selbstaufgabe der Demokratien“ macht er den Dichter zum Kronzeugen für die gegenwärtig kurrente Gleichsetzung Wladimir Putins mit dem Zocker aus Braunau, der Ukraine mit der Tschechischen Republik vor dem Krieg.

Ich muss zugeben, ich habe nur den unverschlüsselten Anfang von Kestings Text in der FAZ gelesen, den Rest habe ich mir geschenkt. Schon im Vorspann ist alles gesagt. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine werfe „die Frage nach der Humanität in der Kunst“ neu auf, heißt es da. Die drei sich der grassierenden Putin-Geiferei verweigernden Klassikstars Gergiev, Netrebko und Currentzis hätten „die Welt erobert“ und Kesting, der die Hintergründe solcher Welteroberung erst im Nachhinein begriff, bekennt sich schuldig: „Wir haben ihnen Beihilfe geleistet“. Bei was? Bei nicht weniger als beim „Verrat an der Kultur – Kultur im übergeordneten Sinn verstanden als Grundlage der Humanität“.

Dieses Bild wurde in Donezk aufgenommen, echt, auch dort wird gestorben – seit acht Jahren!

Wer nicht gegen Putin ist, soll das heißen, verrät die Kultur. Die ihn aus allen Rohren beschimpfen aber gehören allein schon damit zu den Trägern einer grundlegenden Humanität. Dass das nicht ganz so einfach ist, verrät beispielhaft Kestings Wortwahl. In der Hitze des Moments nennt er Putin einen „vertiert-brutalen Revanchisten“. Das Adjektiv „vertiert“ gehört sicher nicht zum Sprachgebrauch eines grundlegenden Humanismus. Das hat Thomas Mann, der bekanntlich 1914 in einem berühmten Text zunächst als glühender Bellizist auftrat, mit Hilfe seines Bruders Heinrich im Lauf der 1920er Jahre auch erkannt. Er dachte Heinrichs, auf der ruhmreichen europäischen Aufklärung basierenden Humanismus bis auf die Formel vom „Antikommunismus“ als der „Grundtorheit des 20. Jahrhunderts“ weiter.

Thomas Mann hätte es schon 1914 – als auch die Sozialdemokratie sich, wie heute wieder, erstmals als vaterländische Speerspitze von Hochrüstung und Kriegshetze empfahl – besser wissen können. Nicht nur sein Bruder, auch andere große bürgerliche Autoren wie Hermann Hesse, Karl von Ossietzky oder Theodor Wolff (ab 1916) konnten es. Dabei gab es zu Zeiten des ersten Weltkriegs noch kein Internet. Man hielt sich damals im Unterschied zu heute aber noch weitgehend an die alte Bildungsbürger- und Juristenregel „audiatur et altera pars“ – man sollte die andere Seite hören, ihre Verlautbarungen zur Kenntnis nehmen und erst danach wägen und entscheiden. Wo in den achso freiheitlichen Gesellschaften des Westens aber hätte man in den vergangenen Jahren die bald unzähligen Verhandlungsangebote und Friedens-Vorschläge der russischen Seite authentisch und ohne hasserfüllte Verfälschungen mitgeteilt bekommen?

Jürgen Kesting hat es, was das Münchner Abkommen angeht, offensichtlich nicht einmal für nötig gehalten, sich durch drei Klicks im Internet auf den neuesten Stand zu bringen. Dort können alle, die es wissen wollen, in den lange  Zeit geheimgehaltenen Dokumenten des britischen Außenministeriums erfahren, dass die westlichen Verhandlungspartner Hitlers diesen in Wahrheit von Anfang an dazu bringen wollten, dasselbe zu tun, was heute die USA von Europa fordern: gen Russland zu ziehen. Auf heute übertragen, wären demnach alle US-Freunde objektiv gesehen Appeasement-Politiker, die dem waffenstarrenden, einen Krieg nach dem anderen entfachenden US-Imperium ein mit NATO-Raketen bestücktes Land an der Westgrenze Russlands nach dem anderen genehmigen – warum eigentlich, wer hat den Nutzen davon? Und: wer bitte ist da seit Implosion der Sowjetunion und seit Auflösung des Warschauer Pakts 1991 (und dem nie begründeten, demonstrativen Weiterbestehen der NATO) nur drohend, zerstörerisch und allzeit kriegsbereit gewesen?

Kesting hätte auch den Link https://m.youtube.com/watch?v=soAYH-y82H8 anklicken können, auf dem der Journalist Thomas Röper eine andere Geschichte des Ukraine-Kriegs erzählt. Ob sie der Wahrheit näher ist als die herrschende Erzählung spielt zunächst einmal keine Rolle: Es ist die Erzählung der anderen Seite. Sie wird den zurzeit völlig zurecht gegen auch diesen Krieg empörten (und gegen Putin aufgehetzten) Menschen in Deutschland seit Jahren gezielt vorenthalten.

All jene, die heute ihre Empörung gegen den ukrainischen Krieg äußern, müssen sich allerdings die Frage gefallen lassen, warum sie zu den Kriegen der NATO, zu den nach Millionen zählenden Opfern ihrer Drohnen, Bürgerkriege und Putsche – die alle dem Zweck der Installierung NATO-höriger Regierungen dienen –, geschwiegen oder nur kurz die Achseln gehoben haben? Macht das die subjektiv meist absolut echte und gerechte Empörung der derzeitigen Majorität unserer Bevölkerung in diesem Krieg glaubhafter, macht es sie begrüßenswert? Ist der Syrer, die Afghanin, die Kurdin, der Nigerianer, der Somalier, die Sudanesin und wo sie alle herkamen – ist eine oder einer der im Mittelmeer Ertrunkenen, die alle durch die Kriege der NATO zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen wurden, weniger Wert als es ein Mitglied der Ukrainebevölkerung ist? Junge Welt, März 2022

BEDÜRFNIS NACH KLARTEXT.HERR PUTIN UND ICH.

DER GROßE SCHWINDEL

UKRAINE UND DER AUGUST 1914

HALBFINALE.BABYN JAR.

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Francois-Xavier Roth.Gürzenich Orchester.Bruckner 7

Unlängst waren auf den Videobildschirmen unserer U-Bahnwagen in der Werbung für ein Konzert in Hamburg die Worte „Sommersinfonien von Brahms und Lalo“ zu lesen. Nanu! Welche Brahmssinfonie sollte denn wohl nach Sommer klingen? Ich dachte immer, die „Frühlingssinfonie“ wäre von Schumann. Und überhaupt: wer hat das mit dem Frühling so präzise herausgefunden, dass sie oder er meint, es so definitiv im Konzert-Marketing einsetzen zu können?

Eine neue CD des französischen Dirigenten Francois-Xavier Roth – er gründete mit „Les Siècle“ ein eigenes Ensemble und leitet mit dem Kölner Gürzenich Orchester seit langem erfolgreich einen der renommierten deutschen Klangkörper – widmet sich Anton Bruckners 7. Sinfonie, eine Musik, die sich in besonderem Maß der Assoziationskünste eines fantasievollen Feuilletons erfreut.

Bruckner Sinfonien erscheinen vielen Interessierten als vor allem „massiv“. Grund dafür sind die vielen Stellen, in denen sich die Blechbläser kompakt des Streicherklangs bemächtigen, um einschüchternd große Klangmassive in den Raum zu stellen. Dann sind da aber neben sehr verschiedenem ganz anderen – im Adagio. Sehr langsam und sehr feierlich – noch die zarten Melodien und dann ein Thema, das weit und volkstümlich ausschwingt, als käme es aus Schuberts weltbeschwingter Brust. Kein Wunder also, dass viele, da Bruckner eben von dort kam, Bruckner hörend, die Alpen vor sich sehen mit ihren traulichen Wiesen, dem grasenden Vieh und dessen friedlichen Glocken – und dann eben, schroff und machtvoll ins Bild gerückt, auf einmal massive Klangfelsen himmelhoch. Solche Kontraste gibt es nur in den Bergen!

Bildnis (Brust, etwas von links).

Nun leben andere am Wasser. Sie fahren mit Dampfern über die Meere, sie stehen mit Bruckners 7. Sinfonie ganz vorn in der Bugrundung so eines metallenen Riesen, Gischt netzt ihr Gesicht, sie schauen über die Wellen hin zum breiten Horizont, eine Möve kreuzt ihr Blickfeld, sie riechen die Weite, sie schmecken salzig den Himmel. Auch das mag eins bei solchen Klängen imaginieren.

Anders gesagt, Francois-Xavier Roth lässt Bruckner in einer Weise erklingen, die klar macht: Musik hat über ihren Ausdruck einen Inhalt. So wie der Ausdruck, so kann sich der Inhalt verändern. Frühling, Alpen, Ozean, es bleibt dabei: Die Musik – mit millionenfach verschiedenen Inhalten – vollendet sich erst in den Adressaten.

Roths Lesart legt nichts nahe. Aber wo Bruckner ausweislich der von ihm bewusst besetzten Wagnertuben, wie am Ende des Adagio, um das von ihm abgöttisch verehrte, frisch verstorbene Bayreuther Ekelgenie trauert, lässt Roth die Trauer hören in all ihren Spielarten. Dank seiner variantenreichen Weise, Sinfonien zu bauen, kann Bruckner, ohne an Energie und Fluss zu verlieren, urplötzlich den Klang und die Dimension wechseln, vom streichertuttigehöhten Blechbläserchor im Fortissimo zum Holzbläserquartett im dynamischen Mezzoforte, die tiefen Blechbläser arbeiten thematisch, und – in fließender Steigerung – wieder zurück. Roths Orchester setzt sich, immer auf dem Sprung, die weiten Bögen ätherisch ausschwingend, durch plausible Abwechslung den Zusammenhalt garantierend, so zart wie variabel immer neu fort. Das Scherzo rockt im für Bruckner typischen Rhythmus aus Zweier- und Dreiertakt. Es wächst sich aus, wie eigentlich alles bei diesem Sonderling, das lag in der Zeit, sie musste alles irgendwie immer groß haben. Aber so, wie Roth es aufbereitet, wird selbst das, was oft nur bombastisch wirkte, miteins überraschend durchhörbar. Bruckner war der letzte, der mit unergründlicher Naivität gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal den sentimental idyllischen bis bombastischen Prunk vorindustrieller Macht zu Musik werden ließ; beim anfangs auch diesen Duktus draufhabenden reifen Wagner besteht dieselbe Macht bereits in ihrer Gebrochenheit.

Bruckner: Sinfonie E Nr. 7 – Gürzenich Orchester / Roth

Der Wechsel der Tonarten in den oft in renaissancechorhafter Ruhe dahinfließenden Akkorden, die leichten Verzweigungen der Stimmen, ihre Dauertendenz zum Melodiösen in diesen, immer neu ansetzend, auseinander hervor und ineinander hinein wachsenden sinfonischen Energiewaben und Zellen, aus denen in ständiger Bewegung Bruckners Musik gemacht ist, erinnert noch im Unisono an die seltsam allgegenwärtige, rhythmisch raffinierte, ja fast zwanghaft portionierte Polyphonie dieser Musik.

Selten wohl ist sie unaufdringlicher, sinnlicher und zugleich in ihrer Gigantomanie intimer musiziert worden als mit diesem Dirigenten. Junge Welt, Februar 2022

Bruckner: 7.Sinfonie E-Dur – Gürzenich Orchester / Francois-Xavier Roth (Myriosmusic/Harmonia Mundi France)

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3 x Mozart.Elsa Dreisiger mit Mozartarien.

Es ist so eine Sache mit den Konzeptalben. „3 x Mozart“ steht auf dem Cover. Dazu der Name der jungen Sängerin, Elsa Dreisig aus Frankreich. Mitglied im Ensemble der Berliner Staatsoper, schon in Salzburg aufgetreten, da beginnt gerade eine vielversprechende Karriere. Sie kann singen, keine Frage. Aber Mozart verlangt mehr. Dreimal Mozart, so das Konzept, meint: drei sehr verschiedene Frauencharaktere aus den drei da Ponte-Opern Mozarts und weiters drei wieder recht unterschiedlich gestimmte Rollen aus drei Seria-Opern des Wiener Klassikers aus Salzburg.

Bis auf eine, für Mozarts Maßstäbe auf fast phantomschmerzhaft spürbare Weise simple Arie aus der frühen Seria „Lucio Silla“ – nur Filetstücke, Kostbarkeiten des Weltopernrepertoires, Glücksmomente für alle Mozartfreund:innen. Das große Problem dabei – Weinbegeisterte wissen es, ohne je einen einzigen Chateau Latour getrunken zu haben –: ausschließlich Spitzenjahrgänge der Premier Crus aus Pauillac, pausenlos und jeden Tag, das geht einfach gar nicht. Da fehlt, um das Außergewöhnliche in seiner Einzigartigkeit hervorleuchten zu lassen, die oft ja gar nicht schlechte Gewöhnlichkeit des Alltags drumherum, im Essen wäre das der saubere Tageswein, ein Zusammenhang gesegneter Beilagen. In den großen Kunstwerken der Oper aber ist es unbedingt der Zusammenhang der Erzählung, das Auf und Ab von Dramaturgie und Inhalt. Soweit der Mangel des Überflusses in einem smarten Konzept.

In uomini, in soldati

Es geht los mit zwei Szenen und einer Arie aus dem „Figaro“. Dreisigs Stimme ist kräftig und jung, sie ist schön und lebendig. Sie trifft alle Töne mit großer Sicherheit, und man glaubt ihr im berühmten „Voi che sapete“ die androgyne Erotik des kindlich hübschen kleinen Kerls Cherubino sofort, der den Frauen naturhaft direkt nachstellt wie die Biene den duftenden Blüten. Aber die depressive Lähmung, mit der die Gräfin dem Glück der romantisch erfüllten Liebe am Beginn ihrer Ehe nachtrauert, die glaubt man dieser Stimme nicht, weil die Depression nicht da ist. Susannas „Deh vieni, non tardar“ fehlt am Ende der erotische Zauber des nächtlichen Gartens, in welchem versteckt sie ihren Liebsten weiß, der nicht weiß, dass sie das weiß und der darum eifersüchtig hereinfällt auf ihre listig nur scheinbar dem Grafen zugedachten Liebesschwüre.

Auch in „Cosi“ geht das Konzept nur den Notenwerten nach auf. Dreisig ist die Heroine noch nicht ganz, zu der sich Fiordiligi in ihrer als Liebe missverstandenen Pflichtschuld auswächst in „Come scoglio“. Schon viel eher ist sie als Dorabella die Blondine, die in ihrer Liebesnot zu echtem Format aufläuft. Und ganz nah ist sie der Dienerin Despina in der Erotik ihrer Klugheit, was Männer, Liebe und Leben angeht. Der anderen großen Unterschichtfigur Mozarts dagegen geht in Dreisigs Gestaltung die rustikale Gewitztheit ab, mit der die Bauerntochter Zerlina im „Don Giovanni“ zwischen Satin und Stroh unterm Hintern laviert. Die Anna in ihrer Unentschiedenheit ist Dreisig näher. Aber in ihrer Elvira und der Vergeblichkeit all ihrer Bemühungen um den Titelhelden schwingt weder die Pieta mit, noch das Furiose dieser Erniedrigten und Verlassenen. So wie Dreisig einfach nicht der Typ ist für eine Vollfurie wie die Elettra im „Idomeneo“. Am Ende passt es wieder. In „Non piu di fiori“ der Vitellellia aus „La Clemenza di Tito“, der Retro-Seria Mozarts, zeitgleich mit der „Zauberflöte“ entstanden, erklingt, vom Bassetthorn kontrapunktiert, noch einmal der warme Liebesstrom mozartscher Melodik. Das Kammerorchester Basel unter Leitung von Louis Langrée begleitet, federnd aufgeklärt und durchsichtig, durchweg mozartaffin.

Vieles an dieser Stimme wird sich finden, wenn Arbeit und Leben das ihre tun. Nur eins ist sicher: Per Konzept wird es nicht gehen. Junge Welt, Januar 2022

Dreimal Mozart – Elsa Dreisig / Kammerorchester Basel / Louis Langrée (Erato / Warner Classics)

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Bach.Goldberg Variationen.Rondeau

In dem den Cembalisten der Gegenwart zugedachten Schuhkarton meines Wortschatzes ist es das Attribut „originell“, das, neben Größen wie Andreas Staier, Christine Schornsheim, Pierre Hantai, vorab den jungen Franzosen Jean Rondeau schmückt.

Einen wie ihn, er heißt übrigens wirklich so, kann sich kein Turbospitzenmarketing zusammenbasteln. Ob mit kunstvoll geföhnter Hochfrisur oder wildlangen Haaren mit Vollbart, ob im Glitzerjackett oder bequemen Baumwollhemd: Rondeau wirkt so authentisch wie kindlich verspielt. Selbst die große Wahrscheinlichkeit, in einer alles irgendwie Verwertbare verscherbelnden Geldwelt als Kunstprodukt vermarktet zu werden, scheint er spielerisch zu integrieren.

Dabei ist er einfach nur ein verdammt guter Musiker. Und dass er sich für die berühmte Aria, das Thema der Goldberg-Variationen von Bach, rund eine Minute mehr nimmt als der große Rest seiner avancierten Kollegen, ist bei ihm eben nicht manieriert oder ein Markenzeichen (wie beim seligen Claudio Arrau) oder vielleicht nur etwas verschlafen – es ist originell.

Hatte Glen Gould Bachs Ausnahmewerk vor vierzig Jahren durch quasi protestantische Eleganz und eloquente Kargheit gegen den bis dahin gewohnten Strich gebürstet und hatte der feingliedrige Kanadier dieses erste große Variationen-Werk der Klavierliteratur damit zum Welthit gemacht, dehnt es Rondeau nun nicht etwa oder verschleppt es gar – er integriert die Melismatik aufs Delikateste, spielt die Vorschläge und Verzierungen als überleitende, verbindende Teile der fließenden, tänzelnden Melodie. Das Ganze gerät in einen Schwebezustand latenten Wechsels zwischen Spannung und Relaxation auch, weil er es so überaus präzise timt und artikuliert und bis in die Details ausformt und genau nimmt und darstellt.

Aria

Im weiteren Verlauf die gewohnten Tempi. Rondeau demonstriert gleich in der zweistimmigen 1. Variation und kurz darauf in der schlanken fünften, in welcher das Cembalo überm schnarrenden Bass spitz wie eine E-Gitarre, dann im Diskant wie eine Orgel klingt, wie genau und glashart er auch in der extremen Geschwindigkeit spielen kann. In der 4. Variation baut er, wie einst der singuläre Jazzpianist Thelonius Monk, ein unmerklich kunstvolles Schlingern und Stolpern in den rustikalen Ablauf ein.

Variation V

Die den zweiten Teil festlich punktiert und schön französisch eröffnende Ouvertüre lässt Rondeau fetzig funkeln. In der folgenden 17. Variation verschränkt er die beiden Stimmen auf eine Weise, die qua metallisch baumelndem Klang des Instruments an die Momente der Kindheit erinnert, da beim Betreten alter, holzgetäfelter Läden das Klingen der Metallstäbe über der Tür im noch menschenleeren Raum den Kauf von etwas unbekannt Wunderschönem verhieß. Rondeau wird auch – wieder hebt er das Stück durch ein extrem in die Stille gebreitetes Tempo hervor – dem fahlen Ernst der solitären 25. Variation in g-Moll gerecht. Aber ob das heilige Quodlibet an dreißigster und vorletzter Stelle vor der Aria da capo, ein ferner Blick Bachs auf seine Adoleszenz und die zu Fuß von Lüneburg nach Lübeck bewältigten Besuche beim bewunderten Meister Buxtehude, derart extrem und in Momenten schon choralnah verlangsamt gespielt sein darf? Es handelt sich um zwei deftig lustige Volkslieder. Rondeau hat originelle Ideen, er scheut offenbar auch den Querstand nicht.

Variation XXX Quodlibet

Neben dem Clavichord bevorzugte Bach das Cembalo. Stand die Orgel, nicht nur in seinem Berufsalltag, im Lauf des 18. Jahrhunderts im Begriff, in den Hintergrund zu treten, war das Cembalo seit der französischen Revolution definitiv die akustische Metapher für eine abgetane Zeit. Dem 19. Jahrhundert war sein Klang so peinlich, dass es selbst noch die Seccorezitative der Opern Glucks oder Mozarts mit schweren Konzertflügeln besetzte. Aber so totgesagt, wie das Cembalo war, so lebendig scheint es derzeit wieder aufzuerstehen. Es sieht geradezu so aus, als beginne das klangvoll charakteristische alte Tasteninstrument mit einem von großartigen Spielern zelebrierten weiteren Kapitel seiner Wirkungsgeschichte am Beginn des dritten Jahrtausends ein zweites Leben. Jean Rondeau gehört auf jeden Fall zu den führenden Zweitgeburtshelfern. Junge Welt, Januar 2022

J. S. Bach: Goldberg-Variationen BWV 988 – Jean Rondeau, Cembalo (Warner Classics).

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Bach.Wohltemperiertes Klavier I.Hantai

Harmonie. Ein Nichteinzelnes, Mehreres, ein Vielfaches, in dem das Einzelne nicht ungeachtet seiner Einzigartigkeit multipliziert sein will. Es handelt sich in der Musik bei der Harmonie um diverse Einzeltöne, die nach bestimmten, den Gesetzen der Physik folgenden Regeln zusammenklingen. Die Regeln sind nach Kulturkreisen unterschiedlich. Im Ergebnis dringt auf je eigene Art überall auf der Welt ein Zusammenklang ans Menschenohr, den wir als angenehm empfinden, als harmonisch oder – denselben Regeln gemäß – als unharmonisch oder dissonant.  

In der Frühgeschichte, könnte eins sich vorstellen, lernten, auch über die Töne, die sie in den Bewegungen und Anstrengungen der Arbeit hervorbrachten, die Menschen in ihrer Verschiedenheit miteinander zu harmonieren. Sie hörten einander in ihren Körpertönen beim Arbeiten als Ergänzung – anders hätten sie nicht überleben können.

Noch einmal ist es das Wohltemperierte Klavier, das solche Überlegungen inspiriert. Ein Jahrtausendwerk, in dem Bach, in einer Art tönender Wissenschaft, die Beziehungen der Töne zueinander erkundete. Für den einzelnen Ton gilt nur zweierlei: seine Frequenz als seine bestimmte Höhe oder Tiefe und der Klang, spitz oder hohl, oboengellend oder bassdröhnend. Ein Wesen, ein, sagen wir, geistiges Substrat beginnt der Ton erst zu haben, wenn er plural auftritt, als Harmonie in der Vertikalen, als Melodie in der Horizontalen. Erst in der Vielheit entsteht Charakter, erst im Zusammenklang – harmonisch oder dissonant – entsteht etwas wie eine Mitteilung. Die Musik ist mit dem Tanz die schon im Entstehungsprozess kollektive, die soziale Kunst.

Bach – wie, um solche Zusammenhänge gleich eingangs zu umreißen – verbindet im ersten Stück des zweibändigen Zyklus des Wohltemperierten Klavier  in den Ketten arpeggierter Dreiklänge des Präludium C-Dur Horizontale und Vertikale; die ziemlich pure Form tritt hervor, sie zeigt, was sie kann. Sie ist Anlass und Gegenstand des Wohltemperierten Klavier, aber nicht sein letztes Wort. Dafür, dass die Zuhörenden die Dialektik von Geist und Materie, von Fuge und Welt nachermessen und nachdurchmessen können, sind allerdings Solisten der raren Sorte nötig, einer wie der Franzose Pierre Hantai.

In Hantais Art, das erste Thema der Tripelfuge cis-Moll trocken herauszudonnern, bricht ein Ausdruck autoritärer Schwere ein in die chromatisch-knappe Form im Abstand einer kleinen Terz übereinandergeschichteter, abwärts ziehender Halbtonschritte – absolute Musik schlechthin. Eine Kunst, die nur sie selbst sein und bedeuten will, wird zum ernsten Wort von ganz oben, zum Maximum an Inhalt. Hantai kann der Musik, wenn es sein soll, in uhrwerkartigem Gleichmaß jede Regung nehmen. Er kann aber auch, wenn es sein soll, wie im ersten Thema, das pedallose Cembalo im Ton größter Moralität gefühlt fortissimo sprechen lassen. Oder (ab 1‘17“) das zweite Thema jeder Wichtigkeit entkleidet darstellen und das dritte fast unbemerkt (1‘48“) eintreten lassen.

Bach: Wohltemperiertes Klavier I – Fuge cis-Moll BWV 849

In den 67 Takten des durchführungsartigen Mittelteils erklingt in fünfstimmiger Polyphonie eine Orgie der Form. Tragendes Element der tönenden Großarchitektur bleibt das erste Thema. Aber das sich schon in der Exposition stückweis schüchtern vordrängelnde, harmlos unscheinbare zweite Thema, ein laut Klavierführer „gleichförmiges Bewegungsmotiv“, bekommt in seiner tändelnden Leichtigkeit mehr und mehr Bedeutung; der nach unten tendierenden Schwere des Fugenanfangs wächst in diesem zweiten Thema nach oben strebendes Leben zu. Das macht im Verlauf aus der lastenden Szenerie eines Jüngsten Gericht ein Fest der Lebensfreude, Bach dreht das Spiel. Wie auf Bildern des älteren Brueghel – für Menschen des 21. Jahrhunderts natürlich zu langsam, sie hören slomo, aber die Feier steckt in der großen Bewegungsenergie, nicht im Tempo – balgen und tanzen und singen ausgelassene Menschen miteinander, mittendrin das an den lieben Gott erinnernde gravitätische erste Thema. Es klingt miteins, als habe der Herrgott sich entschlossen, für immer auf den Thron zu verzichten, aus der Kirche auszutreten und zusammen mit den komplett abgerüsteten himmlischen Heerscharen umzuziehen ins Paradies einer vom exklusiven Privateigentum an allem, was alle zum Leben brauchen, endgültig befreiten Menschheit. In der Vorstellungswelt eines Atheisten ist das eine Revolution von oben in diesem bachschen Mittelteil einer großartigen Fuge, eine Revolution, die – weil sie von Anbeginn ihren „freien Grund“ (Goethe), eine Art globalisierter Almende unter ihren Füßen weiß und allen Überfluss um sich herum – utopisch glaubhaft ist.

 „Die Noten des ersten Themas“, sagt dagegen Werner Oehlmann in Reclams Klavierführer, „ergeben, durch Striche miteinander verbunden, das Bild eines schrägen, liegenden Kreuzes“. Also, von wegen Utopie. Gerade der komponierende Bach war im Sinn des Mainstream ((bitte kein Genitiv-S)) seiner Zeit, sagt noch der Mainstream der Gegenwart, ein zutiefst gläubiger Lutheraner. Aber, möchte eins fragen, was ist damit groß gesagt? Was sollte Bach hundert Jahre vor Nietzsche denn sonst wohl bitte gewesen sein? In Ermanglung von Alternativen musste er als Bürger des barocken Mitteleuropa ((bitte kein Genitiv-S)) seine Menschlichkeit zwangsläufig in der Begriffs- und Gedankenwelt des Protestantismus seiner Gegend denken und ausdrücken.

Es ist aus Sicht des 21. Jahrhunderts Bachs Menschlichkeit im Sinn einer liebend gemeinschaftsdienlichen Individualität, die im Wohltemperierten Klavier in Form kommt und zu Klang wird. Darauf kommt eins beim Hören dieser Aufnahme des ersten Bands des Wohltemperierten Klavier aus den Händen Pierre Hantais. Es entbehrt nicht der Ironie, dass gerade eines der Fundamente absoluter Musik so viel Diskurs gestiftet hat zur Frage ihrer inhaltlichen Deutung. Junge Welt, Januar 2022

J. S. Bach: Das Wohltemperierte Klavier I BWV 846 – 869 – Pierre Hantai (Harmonia Mundi) YouTube, spotify

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Wohltemperiertes Klavier.Andreas Staier.

Am Anfang war das Klavier zwar nicht. Am Anfang waren Flöte und Horn. Aber die Keimzelle des modernen Tasteninstruments taucht schon irgendwo in der Frühgeschichte auf. Es war etwas, das eins sich heute wie eine primitive Lyra oder Harfe vorstellen kann – die ersten Instrumente, auf denen ein:e Einzelne:r zur gleichen Zeit mehrere Töne zugleich hervorzubringen in der Lage war. Bis dahin nur einem Kollektiv mögliche Musikverläufe konnten von da an auf einem einzigen Instrument entworfen und gespielt werden.

Zwischen dem Erklingen erster Harmonien auf nur einem Saiteninstrument und dem Auftauchen des „Wohltemperierten Klavier“ als des ersten Weltatlas des Klavierspiels liegen mehrere Jahrtausende. Ursprünglich von Hand gezupft, wurden die Saiten zu Zeiten Bachs längst mechanisch durch auf Tasten drückende Finger ausgelöst. Bach nutzte in bis dahin unbekannter Ausführlichkeit die sich aus dem Wechsel von der „mitteltönigen“ zur physikalisch ausgewogeneren „wohltemperierten“ Klavierstimmung ergebende erhebliche Ausweitung der Zahl auf dem Klavier spielbarer Tonarten. Die zwei Bände des Wohltemperierten Klavier erschienen 1722 (Köthen) und 1744 (Leipzig), eine Arbeit, begonnen in der reifen Kraft der Jugend, ergänzt und vollendet im Überblick des Alters. Sie haben für lange Zeit das kompositorische wie das klavieristische Denken Europas und seinen Fundus an musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten bestimmt. Sind sie für die Hörergemeinde einer spirituell umsichtig erdachten Musik ein grenzenloses Kompendium seelischer Befindlichkeiten, stellen sie die Tasteninstrumentalisten bis heute vor ernste technische und interpretatorische Probleme.

Der aktuell letzte, der sich ihnen stellt, ist mit seiner Neuaufnahme des zweiten Teils des Wohltemperierten Klavier Andreas Staier, der wichtigste deutsche Solist auf alten Tasteninstrumenten. Extrem lange hat er in seiner Karriere warten müssen, bis der behäbige Betrieb, in dem er arbeitet, begann, sich darauf einzustellen, dass Staier, ausgerüstet mit den lebendigsten Fingern und einer außergewöhnlichen musikalischen Intelligenz und Bildung, auf den „Clavieren“ spielt, auf denen die alte Musik erdacht und erklungen war – zu Bachs Zeit der Kielflügel, das Clavichord und vorab das Cembalo, ein Instrument, das zwar dynamisch starr ist – es hat kein Pedal, der Tastendruck bewirkt dynamisch nichts –, dafür verfügt es über eine, in der obertonreich farblichen Mischung ihres natürlichen Nachklangs einzigartig fein ziselierte Zeichnung der Einzellinien, es hat nasal und orgelähnlich klingende oder lautenähnliche Register für besondere Charaktere und Gestimmtheiten. Reden wir also nicht von den bis vor kurzem monopolistisch präsenten Bach-Interpretationen auf modernen Konzertflügeln, reden wir auch nicht von Pianisten wie Andras Schiff, Glenn Gould oder Friedrich Gulda, die Bachs Klaviermusik auch auf modernen Instrumenten nicht übel hinbekommen haben. Reden wir von Andreas Staier und davon, wie er das Wohltemperierte Klavier präsentiert.

Präludium gis-Moll BWV 887

Sein Ausdrucksvermögen mit den Jahren hat gelernt, sich gutzustellen mit einem starken Intellekt. In einem Lieblingsstück wie etwa dem gis-Moll Präludium erweist sich das im besten Fall Ungebärdige, in anderen Stücken Lyrische in diesem Tastenkünstler als unermüdlich verlässlicher Motor. In den durchlaufenden Fast-Alberti-Bässen entsteht dergestalt eine Energie, eine Dynamik, die durch den dichten Satz hindurch, in immer wieder abwärts gehenden Vierteln und einem heiter insistierenden vielfach verzierten Dreiton-Motiv in der rechten Hand, durchschlagen bis ins Gesamtgeschehen. Das Stück unter Staiers Fingern funkelt rhythmisch und harmonisch in immer neuen Konzertfarben und Lichtern.

Andreas Staier

Vieles von der Kunstfertigkeit und Raffinesse, mit der es im Wohltemperierten Klavier harmonisch und kontrapunktisch zugeht, ist nur lesend zu ermitteln. Aber auch hörend bekommt man in Staiers Spiel eine Ahnung von den formalen Gewagtheiten und manuellen Schwierigkeiten zum Beispiel in der sich am Ende wie ein tönend michelangeleskes Deckengemälde über die Hörenden wölbenden und alles krönenden Fuge in b-Moll. In solchen Stücken zeigt sich, dass es nicht Perfektion ist, die Staiers Spiel auszeichnet. Es ist Souveränität, die lebt. Zum Beispiel in der Sicherheit, mit der Staier Stauungen, kaum merkliche Unebenheiten einstreut in die absolute Ordnung der in diesem Fall herrlich chromatisch aufgeladenen Bachschen Partitur. Niemand kann eine Basslinie so fast mechanisch gleichmäßig halten wie dieser Pianist, dessen rechte Hand im Auftrag Bachs zugleich bisweilen erstaunlich eigene Wege findet.

Fuge in b-Moll BWV 891

Staiers gelassener Souveränität gelingt es mit den ersten Akkorden, dem ersten gebrochenen Dreiklang eines Vorspiels oder einer Fuge, eine der in unglaublicher Vielfalt hervortretenden verschiedenen Stimmungen und Auren herzustellen, die Bach im Wohltemperierten Klavier aufruft. Eins betritt in den 2 mal 24 Einzelstücken mal eine Bürgerstube mit bukolischer Lautenmusik, mal einen fürstlichen Festsaal in punktiert voranschreitender Fis-Dur Repräsentanz, dann wieder ist eins überfunkelt von der spielerischen Virtuosität eines Präludiums wie dem in G-Dur nur, um in Fugen wie der in Es-Dur mit himmelhoch kraftstrotzender Strenge konfrontiert zu sein. Staier beherrscht und beherzigt das Feeling der vielen Tänze, die Bach als Grundmuster der Bewegung einschreibt, so gut wie die von Leben durchpulste Logik der Architektur seiner Fugen. Noch der in orgelklanglicher Zugespitztheit etwas steifen, wie kaltgemeißelten Fuge in g-Moll weiß Staier einen dramatischen Drive, eine sich über die Sperrigkeit hinwegsetzende Vorwärtsenergie zu geben. Überhaupt die Fugen. Mit Bach befreit sie Staier von ihrem Gout, trocken und akademisch zu sein, er zeigt, wie viel Bauch und Anderssein sie haben können, ohne an geistiger Höhe zu verlieren

Es ist die große Kunst solcher Virtuosen, die vielen, nur durch ihre – rund um den Quintenzirkel führende – chromatische Reihung verbundenen Tonarten, in ihrem unverwechselbar einzigen Charakter hervorzuheben und dabei Stimmungswelten aneinander und gegeneinander zu stellen, die in Summa schier die Welt umfassen. Andreas Staier hat’s gewagt. Er hat gewonnen.

Junge Welt, Dezember 2021

J. S. Bach: Das Wohltemperierte Klavier II, BWV 870 – 893 – Andreas Staier, Cembalo (Harmonia Mundi France)

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Der Ton macht die Musik.

Da waren sie noch etwas jünger: Isabelle Faust und Sasha Melnikov

Der Ton macht die Musik. Ein Sprichwort, eine Sentenz, sie will zur Musik nicht viel sagen. Der Ton macht in der Musik sehr viel. Er hat durchweg einen Ort – gelegentlich auch saust oder schrammt er wie eine Achterbahn glissando über alle Orte hinweg –, er hat eine Richtung, einen Zusammenhang, eine Lautstärke, in Summa eine Dynamik; all das gilt für seine in der Musik plurale Erscheinungsform: die Töne. Er hat im Singular zweitens einen Klang.

Auslöser für derlei Gedanken war eine außergewöhnliche Aufnahme der „Kreutzer Sonate“ Beethovens. Die Geigerin Isabelle Faust, auf Augenhöhe begleitet vom Pianisten Alexander Melnikov, haben sie vor nicht gar so vielen Jahren herausgebracht. Im zweiten Satz dieses Werks bringen sie Variationen zu Gehör. Alexander Melnikov spielte zum Zeitpunkt der Aufnahme noch auf einem modernen Konzertflügel. Der hat klanglich seit fast zweihundert Jahren wenig, im Wesentlichen immer das Gleiche zu bieten. Die Geige Isabelle Fausts dagegen – eine Fundgrube des Klangs.

Sie hat für diese Aufnahme Darmsaiten auf ihr Instrument gezogen. Das Gedärm der Tiere ist seit Jahrhunderten ein wichtiges Medium der Streicher. Dann kam die Industrie. Die Geigen wurden mit Saiten aus Stahl bespannt, die Komponisten ab etwa Brahms, bis hin zu Schostakowitsch hatten mit Stahlsaiten zu rechnen. Die hatten den Vorteil, haltbarer und weniger witterungsabhängig zu sein; sie führten zur Vereinheitlichung des Klangs. Dagegen suchte man später die für Streicherklänge offenbare Unverzichtbarkeit des Darms damit zu retten, dass man die Geigen mit Saiten bespannte, deren Darm mit haarfeinem Stahldraht umwickelt war, das Resultat: die Tendenz zu einem glatten, standardisierten Streicherklang stabilisierte sich.

Die industrielle Revolution nicht nur bei den Streichern beseitigte den jedem Einzelinstrument eigentümlichen Klang. Die Flöten mutierten von Holz zu Metall, die natürliche Luftsäule der Hörner wurde per Ventilen und Tastendruck lenkbar, die Pauken wurden statt mit Kalbfell mit Kunststoff bespannt, im Bauch der so gar nicht mehr nach Holz aussehenden Klaviere trotzte ein gusseiserner Rahmen dem vielfach gestiegenen Spannungsdruck auf Saiten, die viel dicker sein mussten, weil das Klavier viel lauter tönen sollte, die Säle waren ja viel größer geworden, denn die Veranstalter konnten mit Musik von der Zeit Beethovens an viel Geld verdienen.

Dem französischen Geiger Rodolphe Kreutzer ist die Kreutzer-Sonate zwar gewidmet, karrierebedingt, Beethoven plante zur Zeit ihrer Fertigstellung, nach Paris umzusiedeln. Aber es wurde nichts daraus, Kreutzer hat sie nie gespielt. Es war George Polgreen Bridgetower, der Sohn eines aus Barbados zugewanderten „Kammermohren“ des europäischen Hochadels, für den sie der Tonsetzer schuf; beide spielten 1803 im Wiener Augarten die Uraufführung. Sie müssen auf ihren Instrumenten hochvirtuos und gutfreund gewesen sein, hitzig, wie sie sich im ersten Satz die Bälle zuspielen.

I. Adagio sostenuto. Presto

Im Vergleich zu den maximalistischen Verunstaltungen, die eine Geigerin wie Anne-Sophie Mutter der Kreutzer-Sonate angetan hat, dringen die Lichter der Kunst Isabelle Fausts aus der Sphäre zarter Halbschatten ans Ohr. Ihre Dramaturgie gründet im differenzierten Piano, es ist der Bereich, in dem der wirkliche Klang einer Geige hörbar wird. Wie großartig Faust auch Fortissimo kann, beweist sie in den Ecksätzen. Aber in vielen Passagen jener Variationen im mittleren Satz, die dominant von der Geige bestritten werden, wird ihr Ton bis an den Rand der Brüchigkeit durchsichtig. Er verallgemeinert sich nicht in einem, alle Erdenschwere hinter sich lassenden Begriff von Schönheit. Er macht das Gegenteil. Er betont den jedes Mal anders klingenden Augenblick des Ertönens. Statt in der vibratogehöhten Vollkommenheit des Klangs alles Irdische auszublenden, lässt er die Materie hören, das Kratzen des geharzten Bogenhaars auf dem unebenen Saitendarm, ein impressionistischer Effekt von großer Sprödigkeit. Der Fokus, statt nach oben, verlegt sich ins imaginative Innen. Statt Anbetung entsteht Anregung, Öffnung, Annäherung.

Neben der Wahrnehmung des Verlaufs der Töne, den Melodien, dem „Inhalt“, hört eins: da arbeitet – ! – ein künstlerischer Mensch. Der Partner am Klavier tut das nicht minder großartig. Aber dem Ton der Geige ist unmittelbar zu entnehmen, wie da jemand gezielt in die Saiten greift, wie der Bogen bewegt wird, wie er – verhauchend oder in oft schneidender, schmetternder Wortmeldung – behauptet, springt oder lange Kantilenen zieht und: wie ungemein schwer es sein muss, im dünnen Klang nonvibrato noch in höchsten Lagen die Tonhöhe akkurat zu treffen und dabei so präsent zu sein wie in einem lautstarken Doppelgriff.

Kreutzer Sonate op. 47 – Andante con variazioni

Es ist in der Kreutzer-Sonate in dieser Aufnahme besonders der Variationensatz, der all das aufruft. Isabelle Faust drängt es nicht auf. Sie ermöglicht es, sie ist die Überbringerin. Der Ton, kurzum, macht bei ihr sehr viel in der Musik.

Beethoven: Sonate A-Dur op. 47 – Isabelle Faust, Alexander Melnikov (Harmonia Mundi France) oder eben erfreulicherweise und leider, scheinbar kostenlos, auf Youtube und Spotify.

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