Schubert.8.Sinfonie.Blomstedt.

Der Musikwissenschaftler, Autor und Dirigent Peter Gülke macht keinen Hehl aus dem wohlbegründeten, gleichwohl immer noch mehrheitlich als frivol angesehenen Gedanken, Schubert stünde in der Bedeutung für die Musik seinem Idol Beethoven in nichts nach. Wer Probleme mit diesem Gedanken hat, sollte auf Youtube aus dem fabelhaften Videoangebot der Elbphilharmonie die Aufführung der späten C-Dur Sinfonie Schuberts mit dem von Herbert Blomstedt geleiteten NDR-Elbphilharmonieorchester erleben.

Wie alles, was der späte und letzte Schubert komponierte, setzt sich auch sein sinfonisches Schlusswort mit Beethoven auseinander, in diesem Fall mit dessen neunter Sinfonie. Schuberts Autograph verfiel zu seiner Zeit, als zu lang (ca. 60 Min.) und zu schwierig beiseite gelegt, für mehr als zehn Jahre in den Archivschränken der Gesellschaft für Musikfreunde der, wie Marx für solche Fälle sagte, nagenden Kritik der Mäuse; die Wiener Musikfreunde selbst bekamen die zwischen 1825 und 1828 komponierte Sinfonie in voller Länge erstmals 1850 zu hören. Sie firmierte lange Zeit als Schuberts 9. Sinfonie, seit 1978 ist sie korrekt und definitiv die achte.

Wie ernst es Schubert mit dieser Wortmeldung war, tönt nicht zuletzt mit den absichtsvoll präsenten Pauken und drei Posaunen ins Ohr, die Schubert für nötig hielt. Sie geben der Musik an vielen Stellen etwas Feierliches oder Bedrohliches – eine Sorte Bedrohlichkeit freilich, die, wenn überhaupt an etwas, dann nicht an die triumphal sieghafte, wahlweise kerkertief verlorene Bedrohlichkeit Beethovens erinnert, mehr an Mozarts lebensvoll dramatische Don Giovanni-Musik.

Schuberts so gewaltiges, wie zu seinen Lebzeiten in großen Teilen übersehenes Spätschaffen ist kein angestrengtes „Das kann ich auch!“ in Richtung Beethoven. Es ist, selbstbewusst, unaufdringlich, meisterhaft verwirklicht, ein „Das mache ich auf meine Weise!“ Zum Beispiel das in Beethoven 9. Sinfonie im dritten Adagio-Satz ausgebreitete Idyll harmonischen Zusammenlebens. Bei Schubert findet es, eingeleitet von einem vorwärtsdrängend tänzerischen Marsch, an der „richtigen“ Stelle statt, im zweiten Satz, wenn der mit dem zweiten Thema verspätet seinen herrlich sanglichen Andante-Charakter bekommt. Oboe und Klarinette sind die Sänger, das Horn hat in dieser Sinfonie ohnehin eine tragende Rolle. In seiner dito auf Youtube vorhandenen Einführung führt Blomstedt Schuberts C-Dur Sinfonie auf eine, in der Zeit vor der Komposition absolvierte Alpenwanderung des Komponisten zurück. Der tänzerische Marsch führte in dem Fall durch die Berge, mit allem Drum und Dran.

 Die sich bei Beethoven erst im Finale entfaltende Haltung menschheitlicher Hochgestimmtheit höre ich – so etwas kann einen auch im Gebirge erwischen – bei Schubert schon im Trio des Scherzo. In seinem Beginn eine vom Rhythmus der ersten beiden Takte betriebene, schwungvolle Aufgeräumtheit. Blomstedt hört in seiner heiter freien Einführung an dieser Stelle in den Klarinetten und Oboen die Alpenbewohner jodeln, ein Musikstück vollendet sich endgültig erst in den verschiedenen Einzelnen, die zuhören, einerlei: eins kann in diesem Trio die hymnische Energie menschennaher Freude hören, wie sie so intensiv, so intim nur sozialen Utopien eignet.

Der Schwede Herbert Blomstedt, er fühlte sich von 1975 bis 1985 als Chefdirigent der dortigen Staatskapelle im Dresden der DDR gut aufgehoben, ist einer der allerletzten Vertreter der Generation großer Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Die am Beginn des 21. Jahrhunderts gefragte Grelle von Farben, Dynamik, Akzenten ist Blomstedts Sache nicht. Sein Espressivo kommt von innen, es ist darum nicht weniger deutlich und spürbar. Der Fünfundneunzigjährige strahlt zurückhaltend starke Empathie aus und lässt sie in seinen Orchestern musikalisch zu Klang werden. Er sorgt dafür, dass die mit ihm arbeitenden Klangkörper überaus verständlich sprechen, sie werden mit ihm zu Fremdenführern durch erstaunlich viel Unbekanntes.

Der alte Mann steht fest auf dem Podium. Er löst spielend gestisch, körperlich kaum reduziert, Impulse aus, er dämpft Wirkungen, bringt ins Scherzo und den Finalsatz den nur Schubert eigenen rhythmischen Spirit ein. Da ist – in dieser Form undenkbar bei Beethoven – das ungemein tänzerische, swingende, wie das gut geölte Uhrwerk freudiger Ungeduld kreiselnde zweite Thema des letzten Satzes. Auf eher still vergnüglichen Wegen hat es beim alten Blomstedt die ewigjunge Herzenstanzbarkeit Schuberts.

Der lässt danach seiner Beethovenverehrung freien Lauf: wörtliche Erinnerungen an Takte des Freudenthemas geistern, mehr variiert als zitiert, durch die Partitur – der perfekt verschuberte Beethoven. Am Vorbild interessierte Schubert kein großer Atem, kein Appell. Der Zug ins universell Humane bei ihm ist zurückgenommen in etwas, das nicht aufhören kann zu tänzeln. Dann aber doch. Es wird am Ende laut und groß auch bei Schubert. Den Höllenschluss im Don Giovanni streifend, Durchbruch und Zusammenbruch sind zum letzten Mal in dieser Sinfonie dichtebei, steuert Schubert das Werk zum Triumph.

Man hört das alles bei Blomstedt nur, weil er die enormen Kontraste, die Schubert im Kampf mit dem Titanen aufbietet, nicht im Augenblick schafft, in dem sie erklingen. Bei ihm entstehen sie im Zusammenhang ihrer Vorgeschichte und ihres weiten Umfelds. Herbert Blomstedt hat nicht nur nicht zu knapp Musikantenblut in den Adern, er hat den Überblick. Eine Frage offenbar nicht nur biblischen Alters. Junge Welt, November 2021

PRINTTEXTE

Brahms.1.Klavierkonzert.Melnikov.Bolton.

Nicht jedes Eigenschaftswort eignet sich dazu, Hauptwort zu werden. Im Fall der großen Klavierkonzerte des 19. Jahrhunderts liegt es indes nahe, das subjektivierte Adjektiv noch per Superlativ in eine Hierarchie zu bringen. Denn die Konzerte fürs Soloklavier von Schumann, Grieg, Tschaikowski und Brahms – alle in Moll – machen sich zwar gegenseitig den Ruf des Populärsten und Meistgehörten streitig. Das Schlachtrossigste aber ist ohne Frage das Werk des Russen. Geht es allerdings darum, welches am ungewöhnlichsten ist und zumindest im ersten Satz auch am sperrigsten und längsten, zudem dasjenige, das am schwersten einleuchtet, ist das d-Moll Klavierkonzert von Johannes Brahms unschlagbar.

Ivor Bolton

Die neue Aufnahme mit dem Pianisten Alexander Melnikov und dem von Ivor Bolton geleiteten Sinfonieorchester Basel beantwortet die genervte Frage, warum denn aber bei der Unmenge an vorhandenen Aufnahmen nun noch eine? von Beginn an. Denn die vielen Extremkontraste des Eröffnungssatzes, das ungewöhnliche Changieren zwischen Moll und Dur und die sich daraus ergebenden Strecken harmonischer Unklarheit, sogar der fast aufdringlich sinfonische Auftritt und die sich bald 25 Minuten hinziehende zeitliche Ausdehnung leuchten dem Rezensentenohr von 2021 endlich einmal ein, warum?

Als der junge, noch unbekannte Brahms Anfang 1854 eine Sonate zu vier Händen für sich selbst und Clara Schumann zu schreiben begann, fügte sich die Arbeit nicht, er versuchte, eine Sinfonie daraus zu machen, der Sinfoniker Beethoven saß ihm im Nacken, Brahms traute sich noch nicht. So wurde es ein Klavierkonzert. Dass das Werk in dieser Aufnahme so plausibel klingt, muss an der Fähigkeit des Dirigenten Bolton liegen, die musikalischen Folgen jener Selbstzweifel – die vielen, oft eben harmonisch nicht recht zusammenklingenden Orchesterteile und konzertanten Bläser, der zu groß wirkende sinfonische Anzug, die Länge – auszubalancieren und die vermeintlichen Schwächen der Partitur in die Tugend einer über weite Strecken kammermusikalisch anschaulichen Stimmenvielfalt zu verwandeln. Vielleicht aber auch liegt es am historisch-kritisch ausgedünnten Basler Orchesterklang oder – ganz besonders – am Blüthner-Flügel aus der Brahmszeit, den der Pianist Alexander Melnikov in diese Produktion mit- und einbrachte? Es liegt natürlich an allem zugleich.

Die Folge: das alte Pianoforte mit seinem geringeren Volumen, seiner, sich aus Farbigkeit und Transparenz ergebenden Charakteristik, ist zwar, wenn es die gewichtigen Orchesterpassagen begleitet, gut vernehmbar. Umgekehrt lässt es freilich selbst in seinen lyrisch zurückhaltenden Solo-Partien auch den Orchestersatz gut hören.

Sasha Malnikov

Melnikovs erstes Hervortreten im Takt 91 wirkt nicht, wie in vielen anderen Aufnahmen, selbstbewusst maestoso. Stattdessen verwandelt sich der im gewaltigen ersten Thema dem Tempo wie ein Klotz am Bein hängende 6/4-Takt mit Eintritt des Klaviers unter Melnikovs Händen in ein tänzerisch leichtes Ostinato. Aber dieser Pianist bleibt, außer in den vollgriffigen Fortissimo-Passagen, den hochschwierigen Oktavtrillern, selbst an beschwingten Stellen nachdenklich, zurückhaltend, wie umschattet. Er beherrscht die Kunst einer – per fließender Zurücknahme von Tempo oder Dynamik am Anfang oder Ende einer Phrase oder eines Motivs erreichten – Verstärkung des Eindrucks.

In den choralisch langen Noten des Adagio schwelgen Orchester und Klavier in dieser Dialektik klangvoll intensivierter Abschattierung. Boltons Streicher hüllen sich in ein, durch Non-vibrato mögliches, zart durchsichtiges Piano, wie es unter historisch-kritischen Musikern immer üblicher wird. Melnikov stellt die sich reibend modern dahinpurzelnde Harmonik des an Schumann erinnernden solistischen Piano kontrastierend dagegen. Großartig, wie organisch sich dann die leise Notturno-Stimmung in ein hymnisches Tutti-Fortissimo auswächst und wieder zurückfällt in eine, extremer als vorher, in Dunkel und Pianissimo getauchte Wärme. In sie hinein träumt zweimal der unbegleitete Hammerflügel, immer knapp überm Stillstand der Bewegung und wie sich die Augen reibend, kindlich vor sich hin, für mich die schönste Stelle dieser Aufnahme.

Im Rausschmeißer, dem Rondo, zeigt Melnikov, wie gut er auch fetzig kann. Wie schon im ersten Satz, dort allerdings herausragender, tritt das Horn hier noch einmal so prachtvoll aus dem Tutti hervor, dass eins doch bedauert, dass man in Basel noch keine Naturhörner besetzt. Hineinhören. Es lohnt. Junge Welt, November 2021

Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll op. 15, Cherubini: Èliza, ou le Voyage aux Claviers du Mont Saint-Bernard (Ouvertüre) – Sinfonieorchester Basel / Ivor Bolton (Harmonia Mundi France).

CDREVIEWS

Heiner Goebbels. A House of Call.

Dirigent Vimbayi Kaziboni und Heiner Goebbels

Ich dachte immer, ich wüsste, wie Schiffe aussehen. Aber neulich saß ich am Hafenrand und sah etwas, das ein Schiff sein musste, schon weil es in einem Trockendock lag. Irgendwo oben im einzig erkennbaren Aufbau eine Fensterreihe, die an Kommandobrücken erinnerte. Aber sonst? Direkt vor der Kommandobrücke auf schrägen Stahlstützen eine Hubschrauberlandeplattform. Auf Stelzen hoch in der Luft glänzend weiße Metallkörper, wie man sie im Weltraum vermutet. Wo war der Bug, wo das Heck?

So ähnlich geht es mir oft mit der zeitgenössischen Musik. Links, nicht weit überm grau geriffelten Wasser, die Elbphilharmonie. Dort hatte ich tags zuvor im großen Saal Heiner Goebbels‘ neuestes Orchesterwerk gehört, A House of Call. my imaginary notebook.  Es wirkte auf mich wie dieses „Schiff“.

Goebbels‘ (nicht verwandt und nicht verschwägert mit dem Nazigiftzwerg gleichen Nachnamens) oft bis ins Politische eingreifende Kunst in Musiken und Musiktheaterwerken wie „Eisler Material“, „Black on White“ oder „Songs of wars I have seen“, auch seine Vergangenheit als einer der Gründer des legendären „Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters“ im Frankfurt der Spontizeit deuten auf einen eher links zu verortenden Komponisten. Einen wie Goebbels zu verorten, ist allerdings heikel. In einem Radio-Interview antwortet er 2020 auf die Frage, was ihm Beethoven bedeute, eher ausweichend: Er habe sich an Komponisten wie – in dieser Reihenfolge – Bach, Schubert und Eisler orientiert, hinzuzufügen wäre John Cage, den er bei dieser Gelegenheit unerwähnt ließ. In House of Call tauchen zwei weitere, für Goebbels wichtige Namen auf: im ersten Teil Heiner Müller, im Finale Samuel Beckett, zwei Champions der literarischen Avantgarde unserer Zeit.

Das Stück hatte seine ersten Aufführungen im September in den Hochburgen der BRD-Klassik, das sind Berlin, München, Köln und Düsseldorf, seit der Elbphilharmonie – dank ihrer gläsernen Hochgestalt, ihrer exquisiten Programme – gehört auch Hamburg dazu. Komponiert hat Goebbels das Werk fürs Beethoven-Jahr 2020, pandemiebedingt fand die Berliner Uraufführung 2021 statt. A House of Call ist in vielen Workshops in Koproduktion von Goebbels und dem Ensemble Modern entstanden. Goebbels arbeitet seit dessen Gründung 1986 mit dem Frankfurter Elite-Klangkörper zusammen, er hat A House of Call für die Magnum-Version, das Ensemble Modern Orchestra (EMO) komponiert.

Ensemble Modern

Vier Teile, 15 „Sätze“ für großes Orchester und „Stimmen“. Nichts davon lässt sich, wie etwa Schostakowitschs aus 11 Sätzen bestehende 14. Sinfonie, im Sinn tradierter Klassik als Sinfonie in Sätzen verstehen. Heiner Goebbels waren die „standardisierten und akademischen Formen (…) immer suspekt“. Er setzt den vielen Üblichkeiten seines Metiers das Attribut „eigentümlich“ entgegen. Seine Musik ist ohne Frage so „eigen“ wie kaum eine sonst. Goebbels‘ Avantgardismus wirft ständig neue Fragen auf, deren Antworten in wieder neuen Fragen bestehen. Jede Note, jedes Wort, jeder Farbton wird umgedreht, es bleibt kein Stein auf dem anderen, erst aus vermeintlichen Trümmern entsteht wirklich Neues.

Seit Beginn der Moderne hatte die politische linke Avantgarde, soweit an der Macht, massive Probleme mit den Avantgarden der Kunst. Die künstlerische Avantgarde der Oktoberrevolution – Künstler wie Tatlin, El Lisitzki, Rodtschenko, die im Westen in ihrer ästhetisch weltrevolutionären Bedeutung bis heute nicht wirklich wahrgenommen worden sind – fiel gegen Ende der 1930er Jahre dem Stabilitätsbedürfnis der von allen Seiten existenzbedrohten Sowjetunion zum Opfer. Und so nachvollziehbar etwa Georg Lukacs’ historisch-materialistische Literaturtheorie hinsichtlich der klassisch-realistischen Vergangenheit bis heute scheint, so weitgehend unbrauchbar ist sie in ihrer anti-avantgardistischen Haltung für Gegenwart und Zukunft.

Ging Goebbels Mitte der 1970er Jahre mit seiner Musik ihrer politischen Wirkung halber noch direkt auf die Straße, hat sich der heute Siebzigjährige in den Zeiten von A House of Call anders eingerichtet. Künstler brauchen ihren Ort, sie haben sich zur Gesellschaft der Zeit zu verhalten, in der sie leben. Auch Hanns Eisler, Goebbels erster musikalischer, bis heute leuchtender, Fixstern, hat in den finsteren Jahren der faschistischen Triumphe vor der Stalingrader Wende nicht ununterbrochen an Kampfliedern gearbeitet. An der Pazifikküste Kaliforniens, unweit des Hauses Bert Brechts, der sich damals in den „Hollywoodelegien“ und im „Kaukasischen Kreidekreis“ auch nicht gerade dem Agitprop hingab, arbeitete Eisler an einem seiner tiefsten und schönsten Werke, dem „Hollywood Liederbuch“. Darin, neben vor allem Texten Brechts, Gedichte von Eichendorff, Hölderlin und Möricke, Pascal, Goethe und Rimbaud, durchweg gearbeitet in der damals avantgardistischen (elitären), vom Eisler-Lehrer Arnold Schönberg erfundenen Kompositionstechnik, der Dodekaphonie.

Heiner Goebbels

Wer den Stand von Goebbels‘ politischem Bewusstsein und zugleich den der ihn umgebenden politischen  Realität ermessen wollte, sollte seine „Stuttgarter Rede“ lesen: die genaue Zustandsbeschreibung des bürgerlichen Musikbetriebs, eine kühle Abrechnung, zugleich ein lichter Blick in die musikalische Zukunft. Wie die in der Bundesrepublik Deutschland realiter aussieht, erhellt aus der Situation am 13. April 2013 in der Stuttgarter Staatsgalerie: Goebbels trägt dort sein wahrhaft kulturrevolutionäres Manifest vor – und in der ersten Reihe sitzt ein alter Sponti-Genosse, der Herr Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Der Untertitel von A House of Call lässt Nähe vermuten, skizzenhaft subjektive musikalische Aufzeichnungen; „Notebook“, das bedeutet ja sowohl Notizbuch als auch Notenheft. Expertengeschädigt, erwarte ich bei so etwas also eher kammermusikalische Darbietungen, ich stelle mich auf Intimität und Versenkung ein. Aber die Bühne der Elbphilharmonie an diesem Abend ist rappelvoll mit den Instrumentalisten des EMO: Kontrabässe, eine E- und eine akustische Gitarre, jede Menge Streicher, fünf Schlagwerker, ein Konzertflügel, Saxophon, Harfe, Flöten, Fagotte, Oboen, ein Hackbrett (Cymbalon), ein Akkordeon, Trompeten, Posaunen, eine Tuba, es fehlt an nichts. Das Orchester sitzt quer zum Publikum, Vimbayi Kaziboni, der kraftvoll-präzise namibische Dirigent, steht rechts außen.

Die Stimmen in A House of Call stehen nicht wie in der Oper oder im antiken Drama einem Chor gegenüber, der an diesem Abend das EMO sein könnte. Das Stück, verrät das Programmheft, ist ein “Zyklus mit Rufen, Anrufungen, Beschwörungen, Gebeten, Gedichten und Liedern für großes Orchester. Aber nicht das Orchester ruft, sondern es ist mit Stimmen konfrontiert; es präsentiert, unterstützt, begleitet sie, antwortet oder widerspricht ihnen“. Die Stimmen haben kein Gesicht, sie sind – bitte googeln – „akusmatisch“. Für Hörende, die vorab weder das Programmheft, noch das zu diesem Werk erschienene, reichhaltige Buch mit Materialien zu A House of Call kennen, haben sie nicht einmal einen Ort, ja sie haben, da die Stimmen nicht selten in fremden, unbekannten Sprachen erklingen, nicht einmal eine Bedeutung, eins versteht die Worte nicht.

Unter „Stimmen“ versteht Heiner Goebbels ohnehin keineswegs die akademisch ausgebildeten Kehl-Laute konventioneller Klassikvokalisten. Seine „Stimmen“ sind die „rauen, ungeübten, fehlerhaften, weichen, differenzierten, gehauchten“ jungen und alten Stimmen von „Rauchern und Nichtrauchern“; senegalesische, iranische, griechische, brasilianische, flämische, vielleicht auch deutsche Stimmen von Menschen, die Passanten sein können oder Goebbels‘ Kinder, „dokumentarische Stimmen“, die „auch von Zikaden, Fröschen, Hunden und Vögeln“ ausgehen, „die Stimmen in den Geräuschen der Dinge natürlich – der Klaviere, Steine, Rohre, Metallplatten und des Wassers“. Auf eine noch nicht sehr verbreitete Art und Weise ist Heiner Goebbels ein musikalischer Universalist.

Alles ist sehr technisch angelegt an diesem Abend. Es gibt eine Lichtregie (Hendrik Borowski); ohne die Klangregie ginge es nicht (Norbert Ommer), denn über zwei riesige Lautsprecher werden die „Stimmen“ eingespielt, sie sind Teil der Hauptsache, sie interagieren mit dem Riesenorchesterklang. Intimität in A House of Call kann eins ergo über weite Strecken vergessen, obschon auch intime, gefühlt sogar zu Herzen gehende Momente vorkommen.

Im Begriff des „Introitus“ geht Goebbels weit zurück auf die lateinischen Anfänge mittelalterlich europäischer Musik.  Allerdings füllt er ihn mit einer kurzen Hommage an „Répons“, Pierre Boulez‘ epochemachendem Stück; hörspielartig geht ein akustisches Gewitter über die dunkle Bühne, die Stimme Heiner Müllers, von aggressiv-bigbandartigen Einwürfen der Blechbläser mehr konterkariert als begleitet, trägt dessen Sisyphos-Text vor, danach „Stein Schere Papier“. Heiner Müller ist ein weiterer Wegbegleiter und Wegweiser Goebbels‘ gewesen.  

Ganz im Sinn des späten Müller wendet sich die zweite Abteilung „Grain de la Voix“ der Rauhheit der Stimme zu, den biografischen, soziologischen, historischen, auch den syntaktischen Spuren in ihr – unabhängig davon, wie und ob überhaupt eins die Bedeutung der Worte versteht.  Sie wird damit zu etwas Musikähnlichem, wenn nicht zur Musik selbst, einer Musik, die nicht mehr sein will, als nur sie selbst; Müller hat in der Sprache am Ende, die Semantik über Bord werfend, nur noch die Syntax gelten lassen. Außerhalb von Klang und Form kennt dieses Denken keinen Sinn mehr.

Das ist modern. Es führt nicht immer in die Irre. Es lässt nur eben die geschichtliche Realität für eine Weile außeracht und kümmert sich ausschließlich um die Entwicklung der, nennen wir sie: ungeschichtlichen, für Musik und Kunst ebenso lebenswichtigen Parameter – ewig im Dienst nur von Inhalt und Überbau, da fehlte Entscheidendes.

Heiner Goebbels inspiriert die Wahrnehmung des ungeschichtlich Wortfreien auf radikale Weise. Zugleich siedelt er alles, was sich im akusmatischen Notizbuch seiner Imagination vorfand, an ganz bestimmten Orten an, er gibt im begleitenden Materialbuch den Orten und Menschen Namen und Geschichte und geht damit den letzten Schritt bürgerlicher Avantgarde nicht mit: Er gibt den Inhalt nicht preis, ganz, wie er über dem Klang, der ihn als Komponisten ausmacht, die Struktur nicht vergisst. Befreit von allem, was für bald dreihundert Jahre das Sinfonische war, löst sich Goebbels Orchester in so freien wie tätigen Klang auf. Dieser Klang – man sieht es bisweilen mehr, als dass man es hört – nimmt in ständigem Wechsel, in ständiger Transformation Strukturen in sich auf, er reichert sich mit der Musik ferner Kulturen an, lässt Melodien ahnen, spaltet sich auf oder verdichtet sich erneut wolkenartig und so weiter.

Im dritten Teil „Wax and Violance“ wird die Wachsmatritze der frühen phonografischen Aufnahmen englisch aliterativ mit der Gewalt in Verbindung gebracht, die sie hervorbrachte. Goebbels fordert sein Publikum dazu heraus, sich zunächst einmal und vor allem nur dem Klang der in eine kratzig knisternde Aura vergangener Zeiten getauchten Stimmen hinzugeben. Inhalt und Bedeutung zu vergessen. Eins soll einfach nur wahrnehmen, was geschieht, wenn die Worte weg sind. Das Orchester begleitet diesen Prozess mit Anregungen, es treibt ihn voran, durchkreuzt ihn, indem es per Stimmung oder bis ins Banale gehenden Anleihen bei früherer Musik dann doch auch wieder zur Stellungnahme herausfordert. Denn da klingen Stimmen, von 1906 her, aus den blutigen Zeiten deutscher Kolonialherrschaft in Südwest-Afrika herüber. Es ertönt das Organ des „Wissenschaftlers“ Hans Lichtenecker, der 1931 sein Mikrofon vor die Nachfahren der von Deutschen im ersten Genozid des 20. Jahrhunderts getöteten Herrero und Nama aufbaute und sie „Nun danket alle Gott“ singen ließ.  Den dabei zu hörenden Stimmen Afrikas, so Goebbels, wohne „eine subversiv widerständige Kraft“ inne. Darüber kann man nachdenken, man kann versuchen, es zu hören, sein Orchester hilft dabei.

Eine parteiliche Musik. Eine offene Musik. Auch im letzten Teil, über dem ein Text Samuel Becketts steht, des Superhelden der Absurdität: When Words gone. Frei übersetzt: Jenseits der Worte. Darauf – wollte man den dahinter stehenden Nihilismus einmal ausblenden und weglassen, ihn einfach positiv wenden – scheint mir hinauszulaufen, was Goebbels, was Musik überhaupt will: Dass zwischen den Wahrnehmenden und der Welt (Natur, Gesellschaft, Musik etc.) keine Worte mehr sind, nur noch unmittelbare Wirkung – der Kunstgenuss als Aufgehen im Wahrgenommenen, im werweiß Einssein. Eine Utopie. Kleist hat sie den „Stand der Unschuld“ genannt, von außen betrachtet: die „Grazie“ der Bewegung, etwas, das erst im höchsten Stadium des Bewusstseins entsteht, in seiner Auflösung. Aber halt – nicht bürgerlich, nicht statisch, sondern dynamisch, Auflösung – siehe Marionettentheater – als ein Bewegungsmoment des Bewusstseins neben anderen.

Den Stimmen zu lauschen und gleichzeitig dem, was das Orchester machte, ist mir an diesem Abend im ersten Anlauf nicht gelungen. Ich hatte mich nicht genügend vorbereitet, mir waren die Stimmen, bis auf die Heiner Müllers, unbekannt, auch ihr historischer Hintergrund, die Sprache, kein Anhaltspunkt. Ich hatte nur den Klang. Das Orchester bespielte derweil mein Unterbewusstsein.

Was ich dann aber im Materialbuch etwa über das „bakaki“ erfuhr, ein Dialoggesang zweier Stimmen im vierten Teil von A House of Call, war beglückend erstaunlich. Goebbels hat die Aufnahme von einer seiner vielen Reisen durch die Welt mitgebracht, in diesem Fall aus Kolumbien. Ein anonymer Take von zwei Stimmen, die den Frankfurter Komponisten über Jahre nicht losließen. Er brauchte zwei Jahrzehnte, um herauszufinden, wer die Sänger waren und um was es ging: Ein uralter Ritus, in dem die Indigenen des Regenwalds sich auf lebenswichtige Tätigkeiten wie etwa die Salzgewinnung aus tropischen Pflanzen vorbereiten. Der Wechselgesang vollzieht sich in den Wendungen der Ahnen, er bereitet die Arbeitenden auf die technischen Abläufe, die Probleme und Freuden dessen vor, was sie erwartet, er richtet ihren Blick auf das Arbeitsergebnis, kurzum, er fokussiert und motiviert sie im Geist selbstbestimmter Arbeit. Wie da die Musik den ethnologischen Blick bekommt, wie die Kunst begreiflich wird als dienstbar aus Arbeit entstanden, der Anteil der Musik an der Kunstwerdung der Arbeit sozusagen, all das erzählt das Orchester – freilich, ohne die Lektüre dazu, das ist bei Beethoven, Josquin, Lachenmann nicht anders, hätte ich es nicht gehört und in mich aufgenommen.

bakaki – das war im Regenwald des Amazonas auch getanzte und gesungene Orientierung in der Welt. Der Vorsänger fungierte vor allen anderen auch als Vorbild und Vormacher, er singt in empathischen Formulierungen, wo es lang gehen muss, wenn es allen dienen soll. „Aus diesem Grunde“, singt er, „habe ich mich bereits vor Euch verändert, damit auch ihr euch verändern und Hass und Rache beiseitelegen könnt. Wir werden über Dinge sprechen, die uns behagen.“ All das gesprochen im geistig-praktischen Hinblick auf die Arbeit.

Brecht hat die Musik seines Freunds Eisler als eine Art kostbaren Bernsteins beschrieben, der seine Lyrik einfasse und haltbar und kostbar mache wie ein seltenes Insekt. Es ist zwar kein Bernstein, dem Goebbels Musik gleicht, aber er hat die Stimmen seines imaginären Notizbuchs in der Musik von A House of Call im selben hegelschen Mehrfachsinn aufgehoben, wie es Eisler mit Brecht gelang. Und nicht nur die Stimmen, auch, was sie sagen bis hin zur bald hundertjährigen Mutter des Komponisten, die er bewog, ihm Eichendorffs wunderbares „Schläft ein Lied in allen Dingen“ vorzulesen, auch die Wahl gerade dieses Lieds ein Hinweis auf die universelle Perspektive dieses Künstlers.

Das Schiff gegenüber im Trockendock. Es hat, kommt eins dank Elbphilharmonie einmal richtig nah heran, einige Überraschungen auf Lager. Zuviel für einen Abend. Fast eine Lebensaufgabe. Was Goebbels angeht: es klingt alles, als sei es ihm zugeflogen. Aber ein Goebbels würfelt nicht. Er lässt nichts unbeachtet, sein Leben scheint buchstäblich immer zugleich ein work in progress. Es lohnt zuzuhören, wie er uns die Menschenwelt über die Ohren zieht. Seltsam, was Schiffe so anrichten. Und sage bitte niemand, Kommunisten dürften nicht schwärmen, dafür sei der Kommunismus viel zu ernst. Sie dürfen. Junge Welt, Oktober 2021

A House of Call. My imaginary notebook. Materialausgabe. Projekt am Forschungszentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) der Justus-Liebig-Universität Gießen. Neofelis Verlag. 2021. 9 Euro.

PRINTTEXTE und GESPRÄCH MIT HEINER GOEBBELS IM ONLINE-MAGAZIN VAN

Sofie Abraham.Brothers.

Heute mal was anderes. Oder vielleicht doch nicht ganz so anders. Normalerweise schreibe ich über klassische Musik, eine mit Ausnahme der Neuen Musik ziemlich fest umrissene Sparte. In ihr geht es tonal durchweg einheitlich zu, man kann von Gregorianik und Barock bis Bruckner und Mahler alles schön auseinanderhalten. Auch geografisch ist die sogenannte klassische Musik – wie sie bei uns nun mal in Pflege ist – weitgehend beschränkt, nämlich auf Europa, den alten Kontinent.

Nun aber Sofie Abraham aus Österreich. Soll man sagen, sie spielt Cello? Ja, soll man. Aber wie sie es spielt!  Welchen Sound – der Anglizismus in diesem einzigen Fall angebracht – in welcher Pluralität sie dem, aus dem Barock überkommenen Instrument entlockt! Sie zupft und schlägt die Saiten des „großen Stücks Holz“ (Anner Bijlsma) – als wäre es eine Gitarre. Sie streicht und streichelt sie, per Flageolette pfeift sie auf ihnen, all das elektrisch verstärkt in dem Sinn, dass sie nicht die hergebrachte Spielweise nur akustisch potenziert – sie nutzt die Spezifik der elektronischen Übertragung, es entsteht etwas neues, sie bringt es spielend, singend, sprechend, flüsternd und als Komponistin der neuen CD „Brothers“ zu Gehör.

Sofie Abraham

Sie ist mit allen Wassern aller Cellosuiten von Bach gewaschen. Aber zugleich berührt vom Geist Jimi Hendrix‘, von orientalischen Wendungen, von den Loops der Minimal Music oder einfach von grandios inszenierten Szenarien im Grenzbereich des Kitschs, es ist einem egal. Die Geschichten, die Sofie Abraham, sich vielfach selbst begleitend und im Studio elektronisch bearbeitet, erzählt, sind nie langweilig, sie sind fast so lang und beinahe so abwechslungsreich wie ein gutes Leben.

Weight of snow (Brothers)

Auch die Videos auf Youtube zu einzelnen Titeln: spielerisch romantische, auf tiefere Bedeutung, nicht auf Witz verzichtende Bilder von einer Musik, die erfindungsreich und kraftmusikalisch auf alles setzt, was passt, egal ob Elegie, Folkloroides, Jazz, Songs, Rock, klassische Passagen, Anklänge an Fernöstliches, an die Karibik, an Flamenco. Sie lehnt sich immer nur an, erinnert an irgend etwas, ohne es auszufüllen, sie füllt es mit sich. Und bleibt immer schön im Rahmen klassisch-romantischer Harmonik und Tonalität, nur eben rhythmisch, tänzerisch, poppig zugespitzt, ohne an einer einzigen Stelle wirklich Pop zu sein.

Zuordnen wäre schwierig, es muss auch nicht sein. Sofie Abraham spielt hochvirtuos, egal, was sie spielt, sie singt unangestrengt. Es passiert tatsächlich das in der Musik Wichtigste: Eins hört einfach nur gern zu.

Sofie Abraham: Brothers (Cracked Anegg Records. Galileo)

CDREVIEWS

Ein Weimarer Mozart.Klenke Quartett und Stephan Katte.

Neben der Menschenstimme und der Flöte steht das Horn am urgeschichtlichen Anfang aller Musikinstrumente. Es dauerte lange, bis es sich im Barock über den Dienstleistungsbereich der Jagd in den der Hofmusik entwickelte und schließlich sogar solistische Prominenz erlangte.

Haydn bedachte es mit mehreren Werken, Beethoven komponierte eine eigene Sonate fürs Horn, er ließ es später die berühmte Arie der Titelfigur seiner einzigen Oper begleiten. Mozart, wenn er nicht für sich selbst komponierte, wählte die Solo-Instrumente seiner Konzerte nach den Virtuosen seines großen Freundeskreises. Zwei Resultate dieser Verfahrensweise präsentiert das Klenke Quartett auf einer neuen Mozart-CD. Das Klarinettenquintett gäbe es nicht ohne Anton Stadler, Erfolgs-Klarinettist im Wien des Fin de Siècle. Und das Hornquintett wäre nicht entstanden ohne Mozarts lustige Beziehung zu Joseph Leitgeb, dem führenden Hornvirtuosen der Wiener Mozartzeit.

Die vier Streicherinnen aus Weimar demonstrieren auf der Neuerscheinung einmal mehr, wie historisch informiertes Musizieren – erst recht natürlich, wenn sie, wie in diesem Fall, derart glücklich gehandhabt werden – auch auf modernen Instrumenten großartig funktioniert. In Nicola Jürgensen im Klarinettenquintett allerdings treffen sie auf eine Partnerin, die ihr Instrument weniger im Sinn einer musikalisch stimmigen Lebendigkeit und Authentizität einsetzt, als mehr im Dienst einer geradezu digital perfekten Technik und Luzidität.

Stephan Katte

So ist das eigentliche Ereignis dieser CD der Weimarer Hornist Stephan Katte. Der spielt das Hornquintett auf einer von ihm selbst gebauten Kopie eines aus der Mozartzeit herüberklingenden ventillosen Horns des älteren Anton Kerner. In Kattes Spiel ist jeder Ton Atem, seine Lippen zwingen die Luft in die Naturtonreihe des Horns; derweil sorgt Kattes Hand im Schalltrichter mit der kurz vor der Mozartzeit erfundenen Stopftechnik für bis in chromatische Nuancen reichende Abstufungen.

Liefert Jürgensen, etwa in den kleinteilig verschlungeneren Partien des Klarinettenquintett, glasklare Muster mozartischer Verzierungen – so steigen aus Kattes Horn wie auf barocken Himmelsbildern in kunstvoll unklarer Schärfe und Gebrochenheit leuchtende Wölkchen einer Melismatik auf, die sich reizvoll dem Geschmack des 19. bis 21. Jahrhundert verweigert.

Mozart: Hornquintett Es K. 407 – Allegro

Der naturhafte Ton des ventillosen Horns passt sich dem Streichersatz klanglich und formal ungezwungen gerade in K. 407 besonders gut an. Die konzertant imitatorischen Dialoge zwischen Horn und Streichern im ersten Satz klingen, als habe ein sich selbst als zweiter Bratschist statt der zweiten Geige (Beate Hartmann) in die Noten hineinkomponiert habender Mozart sich und Freund Leutgeb die Vorlage liefern wollen für augenzwinkernde Dialoge launiger Hausmusik. Im Andante zeigt Katte, dass er auf dem Horn fließend und besonders schön singen kann. Auch knifflige Stellen wie den Sprung über zwei Oktaven (c‘ bis c‘‘‘) in Takt 60 f. meistert er mühelos.

Der Finalsatz erinnert in seiner munteren Aufgeräumtheit an die Schlussrondos der vier Hornkonzerte Mozarts. Auch hier das konzertante Hin und Her zwischen dem Solisten und dem Vierer-Tutti. Kompositorische Mühe bemerkt man in Mozarts Musik allenfalls, als die Partituren des alten Bach ihm spät im Leben begegnen. In den mittleren Wiener Jahren aber, der Zeit des Figaro, der Klavierkonzerte und auch des Hornquintett, lief alles bestens, die Musik klingt wie zum Spaß hingeschrieben. Die Klenkes und Stephan Katte lassen das hören. Just so. Junge Welt, Oktober 2021

Mozart: Hornquintett Es K. 407 – Stephan Katte, Naturhorn / Klenke Quartett (Accentus Music / Naxos)

CDREVIEWS

Klenke Quartett.Mozart

Der Begriff „Vollendung“ kommt einem beim Anhören der Neuaufnahme von Mozarts Streichquintetten durch das Weimarer Klenke Quartett in den Sinn. Denn schöner, klangvoller, dabei dynamisch abgefederter, präzise und innig artikulierter als es die fünf Solisten mit Mozarts allein satztechnisch großartigen Quintetten hinbekommen, kann man es kaum spielen. 

Und doch, auch Vollendung hat ihre Dialektik. Es gibt so etwas wie den Luxus in der klassischen Musik als Qualitätsstufe und Markenstatus, ein Luxus, wie er von Musikerinnen wie Anne-Sophie Mutter in vollendeter Langeweile vorgeführt wird. Und es gibt den Luxus als Inbegriff verschwenderischen Überflusses von etwas für sich genommen höchst Erstrebenswertem, so etwa verhält es sich mit dem Klenke Quartett.

Nach Kant ist Vollendung Ziel und Sehnsucht menschlichen Erkenntnisdrangs. In der Vollendung rundet sich etwas und findet in die endlich positive Aufhebung von Widersprüchen. In der Vollendung kommt mit Glück etwas Volles an sein Ende, Fausts Schlussmonolog wäre ein wunderbares Beispiel. Jedes gelungene Kunstwerk ist subjektiv zwar vollendet in dem Moment, da es sein Autor als fertig aus der Hand gibt. Objektiv aber vollendet es sich insofern nie, als es im Publikum weiterlebt. Das vom Autor losgetrennte Werk folgt aus sich selbst heraus dem Geist der Zeiten, der es versteht.

Aber es ist die Kunst großer Musikinterpret:innen – und ihnen darf eins die Klenkes wohl getrost zurechnen –, in die Perfektion ihres Vortrags auch das Unvollendete, das momenthaft Unvollkommene einzubringen, das, was das Werk lebendig macht. Sparsam im Vibrato, meist scharf in den Kontrasten, bleiben die Klenkes auf Distanz zum überkommenen Mozartidiom. Es hat im g-moll Quintett K. 516 auch auf modernen Instrumenten die nötige Sprödigkeit für ausreichend fahles Licht auf Mozarts metaphysisch getönte Chromatik. Dank souveräner Beherrschung der Instrumente gelingt es den Weimarer Streicherinnen, die Musik über weite wunderschöne Strecken hin gegen die Verlockungen der Perfektion offen zu halten.

Das inzwischen außerhalb seiner Landesgrenzen leider kaum mehr bemerkbare britische Ensemble „Hausmusik London“ um die Geigerin Monica Hugget muss sich darum im selben Stück nicht eigens bemühen. Es ergibt sich in ihrer Aufnahme von 1993 aus der kratzigen Farbigkeit ihrer Barockinstrument wie von selbst. Darmsaiten und Diminuendo-Bögen legen straffes, zügiges Spiel einfach nahe. Zum Exempel das von kontrapunktisch veredelter Volkstümlichkeit überfließende Menuett des D-Dur Quintetts K. 593, besonders sein arkadisches Trio. Auch die Weimarer Damen bleiben dem bukolisch aufgeladenenen Zauber dieses Stücks nichts schuldig. Im Vergleich zu „Hausmusik“ legen sie in ihren Vortrag allerdings schon hier und erst recht im abschließenden Finale weniger Nachdruck, ein gerade beim gefühlvollen Mozart wünschenswertes Espressivo kommt nach meinem Eindruck bei ihnen etwas zu kurz, Espressivo nicht als romantischer Überschwang, mehr als kräftiger Atem vorwärts drängender Form im Sinn Sebastian Bachs, der in den reifen Wiener Mozart eingeschlagen war wie ein Blitz. „Hausmusik“ bleibt durch seinen bachfundierten Ansatz von vorn bis hinten in derselben Erzählung. Den Engländern kommt der strenge Kontrapunkt gerade recht, um die aufgeladene Verworrenheit der Zeit unmittelbar vor der französischen Revolution deutlich zu machen.

Beide Formationen rücken auf je eigene Art Mozarts letzte, mit beethovenartigen Durchführungspartien schon in der Exposition gesegnete Kammermusik für Streicher ins rechte Licht. Das Klenke Quartett vielleicht noch mehr für ein an traditionelles Hören gewöhntes Publikum. Das Ensemble „Hausmusik“ mehr für an risikobereites, abenteuerlustiges Hören Gewöhnte. Auf beglückende Weise mozartaffin sind unbedingt beide. Junge Welt, 2018

W. A. Mozart: Die Streichquintette – Klenke Quartett/2. Bratsche Harald Schoneweg (Accentus Music/SWR/Naxos). Mozart: Streichquintett D-Dur K. 593 und Es-Dur K. 614 – Hausmusik (EMI/Warner nicht mehr im Katalog; bei Spotifiy: https://open.spotify.com/album/6x8iLmdh6XTvjuOqef5lND?si=Ok4oqkSCSGWiDSAqquqgCw)

CDREVIEWS

Tobias Koch mit dem Beethoven der späten frühen Periode.

Der Hammerflügel-Liebhaber Tobias Koch hat das vergangene Jubeljahr zum Anlass genommen, die letzten Sonaten der sogenannten „frühen Periode“ Beethovens aufzunehmen, allen voran deren zwei wohl bekannteste, die Pathétique und die sogenannte Mondscheinsonate. Beide Male, beim cis-Moll-Werk mehr als bei der Pathétique, stehen einem beim ersten Hören die Ohren zu Berge. Koch bürstet gegen den Strich, das ist so seine Art, er meint es nicht böse, er ist kein Provokateur. Mögen Generationen von Bürgerleuten im ersten Satz der cis-Moll-Sonate den Inbegriff tief empathischen Hörens erleben – Koch spielt das Stück, wie in der Erstausgabe vermerkt, alla breve, das heißt, doppelt so schnell wie gewohnt: Mit dem romantischen Mondschein eines in der neuen Sachlichkeit der Digitalisierung mehr denn je zu gefühligen Auslegungen von Musik neigenden Publikums hat sich’s mithin.

Auch in der Pathétique betont er die Vorschläge der Akkorde deutlicher als die meisten anderen und auch etwa Brendel oder Barenboim machen Pausen, die andere nicht machen. Aber Koch kann sie bis ans Äußerste dehnen. Die 64stel-Skalen am Ende der beiden langsamen Anstiege des Grave-Themas am Beginn der Pathétique klingen bei ihm weniger gestochen-glatt, als spielerisch-lebendig; die zwei Fortissimo-Einschübe knallt er nicht effektvoll heraus wie viele andere, er integriert sie sorgsam. In der Mondscheinsonate erinnert er gleich am Anfang daran, dass es sich bei diesem Stück nicht um eine Orgie musikalischer Subjektivität handelt, sondern um eine mit auf ganz bestimmte rhythmische und harmonische Weise zusammengefügten Noten spielende und arbeitende Musik. Die Tonart cis-Moll bleibt auch bei Koch megadüster, die Melodie, sie steigt plötzlich, wie nicht erwartet, aus den Triolen auf, ist so wunderschön, so trauermarschtraurig wie eh und je. Beethovens Anordnung, das Stück solle ohne Dämpfung gespielt werden – modernen Instrumenten unmöglich – führt im geschwinderen Tempo auf dem alten Instrument Kochs zu einer besonders finsteren, fahlen Beleuchtung. Und doch wird das Mainstream-Publikum bei dieser Mondscheinsonate aller Voraussicht nach unter schweren Entzugserscheinungen leiden, es wird, im Namen einer nur durch endlose Wiederholung beglaubigten Konvention, böse sein auf Tobias Koch. Der mag sich einfach nicht an die große Verabredung halten, der sich, bei aller individuell verschiedenen Ausprägung, die große Mehrheit der Pianistinnen und Pianisten verpflichtet hat.

Er hat freilich Anhaltspunkte. Nicht Carl Czerny, den Meister- und Musterschüler Beethovens mit seiner dem 19. Jahrhundert verpflichteten Klavierschule. Sondern Carl Philipp Emanuel Bach, der Älteste des Thomaskantors, der, nicht nur mit seinem Buch über „Die Wahre Art, das Clavier zu spielen“, Haydn und Mozart und über die beiden auch noch Beethoven inspirierte. Carl Philipp Emanuel brachte, neben neuartigem Feuer in die Sinfonie, in Form der Klavierfantasie auch bis dato unbekannte Möglichkeiten in die Musik ein, den festgeklopften Regeln älteren Komponierens zu entrinnen.

op. 13 I. Grave – Allegro di molto e con espressivo

Bevor es nach langem Anstieg in den Skalen des Pathétique-Anfangs abwärts geht, verzögert und verdünnt Koch die, von der linken Begleithand alleingelassene, nach unten sich orientierende Melodie, ein Hauch von Rezitativ kommt auf, eine Ahnung von Fantasie. Die Mondscheinsonate und ihr Schwesterwerk, das Opus 27 Nr. 1, so der Tonsetzer, seien beide als „quasi una fantasia“ zu spielen.

op. 27/2 Adagio sostenuto (Tobias Koch)

Durch Kochs Deromantisierung des Adagio sostenuto der Mondscheinsonate wirkt der Beginn dieses Werks um Tonnen leichter. Das Scherzo in der Mitte wird als tänzerisch ambivalentes Intermezzo erkennbar. Und der Finalsatz erweist sich als Hauptsache und Ziel. Koch spielt dieses Presto agitato unerbittlich und anhaltend schnell, die Leittöne bersten krachend durch den fast maschinenhaft in Sechzehntel-Arpeggien durch die Zeit rollenden Ablauf. Man sieht den Tonsetzer am Klavier vor sich: er hat wiederholt Klavierhämmer zerbrochen im rasenden Ingrimm solcher Musik.

Tobias Koch ist es nicht recht, dass solche Werke auf repräsentativen Hochglanzsockeln virtuos verkümmern, Werke, in denen Beethovens Genius erstmals die – zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch – revolutionäre Seite bürgerlicher Individualität zum Ausdruck brachte. Der Tonsetzer war ums Jahr 1800 mit Opus 13 und auch mit Opus 27 Nr. 2 noch nicht auf den von ihm annoncierten „neuen Wegen“. Die innere Urgewalt im Grave der Pathétique und im finalen Presto agitato der Mondscheinsonate wurden gleichwohl von seinen Zeitgenossen als etwas Beunruhigendes, nie Dagewesenes gehört.

Ganz in diesem Sinn lässt Koch selbst dem Mainstream derart vertraute Stücke befremdlich klingen. Sein Publikum soll nicht immer gleich wissen, was kommt. Koch hat nicht die Absicht, zu verfremden. Er will die in jedem Stück Musik angelegten unendlichen Möglichkeiten des Ausdrucks, des Klangs, der verschiedenen Farben und Stimmungsnuancen mit jedem Mal anders ausleuchten. Bevor er beginnt, wünscht er sich im Bewusstsein seines Auditorium die Reset-Taste: Zurück auf Los, die Devise, weg mit Vorurteilen und vorgestanzten Begeisterungen, Schluss mit allem, was der Neugier im Weg steht.

Es gibt zweifellos falsche Beethoven- Interpretationen: So, wenn der Tonsetzer wie ein musikalischer Dienstleister der zu seiner Zeit Herrschenden klingt. Oder wie der akustische Chefdesigner der Regierenden in der Zeit Herbert von Karajans. Den „richtigen“ Beethoven gibt es nicht. Der Tonsetzer selbst spielte seine Musik – im Rahmen ihres, nennen wir es: Gehalts, ihrer inneren Haltung – bei jeder neuen Aufführung, wie ihm gerade war, also immer anders. Pathétique und Mondscheinsonate klingen unter den Händen Tobias Kochs wie eben erfunden. Das hieß im Fall Beethovens in den Schaffensperioden, in denen er auf Neues setzte, immer: überraschend – Kochs Schlüsselwort. Mit ihm knackt er Gewohnheiten. Er öffnet Türen ins Glück unerwarteter Erfahrungen. Junge Welt, September 2021

Beethoven: Auf der Suche nach neuen Wegen (die mittleren Sonaten auf 3 CDs: I. op. 13, 14/1, 14/2 – II. op. 26, 27/1, 27/2, 28 – III. op. 31/1 bis 31/3) – Tobias Koch, per drei Sorten Hammerflügel (CAvi/Harmonia Mundi France)

Jürgen Kesting verzweifelt am Don Giovanni

(C) Salzburger Festspiele

Einer der Höhepunkte der im August zu Ende gegangenen Salzburger Festspiele war einmal mehr Mozarts Oper aller Opern, der „Don Giovanni“. Das wäre in der Stadt, die Mozart mehr als irgendeine gehasst hat, nicht weiter erstaunlich gewesen, die Welt hätte es wohlwollend zur Kenntnis nehmen können, in Salzburg findet bekanntlich seit mehr als einem Jahrhundert jeden Sommer für zwei Monate große Bühnenkunst statt, Mozart nicht selten darunter – aber den „Don Giovanni“ 2021 inszenierte der italienische Regisseur Romeo Castelucci, für die Musik ist Teodor Currentzis verantwortlich. Es gab ergo Wirbel.

Die Reaktion des getesteten und geimpften Publikums war enthusiastisch, ein Riesenerfolg. Das muss nicht unbedingt etwas heißen bei Leuten, die in der Lage sind, mindestens vierhundert Euro für einen Mozartabend hinzublättern. Wer allerdings das Ereignis bei Arte in der Mediathek nachverfolgt, gibt ihnen, wie ein Großteil der Kritik, einfach recht.

Dafür, dass nun aber auch das Publikum nicht mehr zählen soll, sorgte in seinem Premierenbericht einer der Altmeister des Musikjournalismus, der in Sachen Gesang unbestreitbare Fachmann Jürgen Kesting. Ihn kostete es den halben Nachtschlaf; eine seltsame Mischung aus Trauer und Zorn beunruhigte ihn, das Gefühl, womöglich außen vor zu sein. Da war doch tatsächlich einmal mehr Mozart – zur Begeisterung auch noch nicht weniger Menschen – nicht im Entferntesten so aufgeführt worden, wie es Leute seines Jahrgangs seit langem für richtig halten.

Richtig oder falsch, dem für klassische Musik im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zuständigen Redakteur kam Kestings Zustand zupass. Denn für Jan Brachmann gibt es kein roteres Tuch als Teodor Currentzis. Und wenn diesem Letzteren, einem nach Kesting „von medialem Weltruhmesglanz verstrahlten Egomanen“, nachgesagt wird, er verachte in Wahrheit – in Kestings Wahrheit – sein Publikum, dann strahlt in Wahrheit Brachmann, er ist der Schmock der Zunft.

Kesting reagiert so aggressiv wie je einer, den das Unerwartete schockt. Er nennt die Produktion, noch ganz unverschwurbelt, einen „ästhetischen Terroranschlag“, eine „Orgie der Zerstörung“. Zerstört werden in Castelluci-Currentzis‘ „Don Giovanni“ aber nur die Parameter der „romantischen“ Klassikinterpretation zweier Jahrhunderte. Deren viele Matadore waren nebenbei, allen voran der von Kesting zustimmend zitierte Richard Wagner, Gigastars der Egomanie, das kann das Problem nicht sein. Aber schließlich nennt Kesting die große Zeit der Böhms und Karajans in einem nietzscheanischen Wortungetüm von nun tatsächlich gipfelnder Schwurbeligkeit „die Ära des Absolutismus aus dem Geist der human-demokratischen Nivellierung als Inkarnation von Macht“. Boing! Wie von Brachmann geklaut. Was immer das sein soll, Kesting will, dass es bleibt.

Anders als die von Kesting und Brachmann vermissten Klassik-Größen der Vergangenheit, würden Currentzis und Castelluci mit ihrer Kunst nie faschistischen Machthabern huldigen, das macht den Unterschied. Und fürs „Regietheater“, mit dem eins solche Inszenierungen leicht verwechseln könnte, ist nach meinem Eindruck dieser bildmächtige, die Musik szenisch kontrapunktierende Salzburger „Don Giovanni“ von 2021 an vielen Stellen zu stimmig. Was sich da auf der karajanbreiten Bühne des Festspielhauses vor Augen und Ohren tut, kommt Mozarts Musik in ihrer Klangfülle, ihrem erregenden, beunruhigenden Inhalt, in Farben, Bewegung und Semantik auf, zugegeben, ungewöhnliche Weise entgegen. Im Bühnenbild, extrem reduziert, fehlt nichts, es fordert und fördert die Fantasie ebenso wie es die poetischen, oft malerischen Metamorphosen des Bühnenlichts tun. Dass diese Produktion durchaus Inhalte hat, gibt dann angesichts Casteluccis Einfall, im zweiten Teil 150 Originalsalzburgerinnen als Schwestern, Mütter, Töchter und eben Leidensgenossinnen Elviras über die Bühne zu bewegen, schließlich auch Kesting zu, einer wie er hat selbst in dieser Verfassung noch Format.

Zentraler Stein des Anstoßes der „Romantiker“: wenn Currentzis samt Sänger und Orchester“ aus dem Graben hochfahren und im Strobelight-Gewitter das berühmte „Fin ch’han dal vino hinfetzen. Mozart wäre damit so einverstanden gewesen, wie er mit den Feuer- und Wassermaschinen, den durch die Luft schwebenden drei Knaben und den vielen Tieren auf der Bühne der „Zauberflöte“ absolut einverstanden war.

Ins Schwärmen – der Kenner lässt sich vom gekränkten Traditionalisten dann doch nichts vormachen – gerät Kesting anlässlich des US-Baritenors Michael Spyres als Ottavio; stimmlich nicht minder beeindruckend Nadezhda Pavlowas Donna Anna und alle anderen Singenden. Nur mit den zur Mozartzeit rundum üblichen Spontan-Verzierungen und Fiorituren, zu denen Currentzis die Sänger animiert, kommt Kesting nicht klar.

Vom Orchester redet er nicht. Es ist trotzdem großartig, was die Musikerinnen und Musiker des MusicAeterna Orchesters und Chors auch in dieser Produktion wieder, komprimiert leidenschaftlich und dynamisch hochkonzentriert, an Farben und Akzenten aufbieten.

Allein, was die Seccorezitative an launigen Freiheiten bieten – einmal gar ein Fetzen aus der Leporello gewidmeten Nummer 22 der Diabelli Variationen – macht Spaß. Die beiden, im Graben vom Hammerflügel synchronisierten, von den Sängern auf der Bühne nur zum Schein gespielten Tasteninstrumente sind, nachdem sie wie vieles andere von oben auf die Bühne fielen, kaputte Rest-Torsen. Alles in dieser Inszenierung deutet auf die Endzeit einer Macht, die nur noch Zerstörung, Missbrauch und schließlich Tod hervorbringt. Zur Mozartzeit die Macht der Feudalklasse. Sie hat ihren Nachfolger. Der „Don Giovanni“ wird mit jedem Tag aktueller. Junge Welt, September 2021

Brachmann 2017

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Opi Bobby

Die zweite der Großvatergeschichten

In meiner Altersgruppe, als wir Kinder waren, hatten nicht wenige keinen Großvater. Die meisten haben zwei, so ist es vorgesehen. Aber die Großväter meiner Generation, wenn sie, wie dieser eine meiner drei Großväter, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geboren wurden, hatten in zwei Weltkriegen und in der Weimarer Gewaltperiode dazwischen reichlich Gelegenheit, umzukommen.

Für die Familie meiner Mutter trifft das in besonderem Maß zu. Denn der Vater meines Hamburger Großvaters, ein im westpreußischen Bromberg geborener Getreidehändler, hatte den schönen Vornamen Israel. Sein Sohn – er wurde Robert Friedrich getauft, wir nannten ihn „Opi Bobby“ – hätte die sich daraus im Lauf seines Lebens ergebenden Schwierigkeiten auch gehabt, wäre die Familie in Westpreußen geblieben. Da sie aber, wie man mir erzählte, 1870/71 im Krieg gegen Frankreich durch die Belieferung des preußischen Heers mit größeren Mengen westpreußischen Weizens, unverhältnismäßig wohlhabend geworden war, packte Urgroßvater Israel seine Sachen und zog noch in den 1870er Jahren mit Kind und Kegel  nach Hamburg. Dort ließ er sich mitten im vornehmen Pöseldorf eine dreigeschossige Villa bauen. In ihrem Hintergarten, der zu meiner Zeit infolge der Umwandlung des für Pferde und Equipagen vorgesehenen Gebäudes in eine Garage mehr und mehr zum Hinterhof wurde, stand ein schlanker schöner Pflaumenbaum. Nach vorn hinaus, vor der verglasten Holzveranda, prunkte der Stolz meiner Großmutter, eine Nadelholzhecke mit einem kleinen, eckigen Springbrunnen aus Granit in der Mitte, davor ein Rosenbeet mit weißen Rosenstöcken, davor ein Stück Rasen auf dem – wir Kind liebten sie – im Frühling eine Unzahl lustiger Gänseblümchen blühte.

Der Ort meiner Kindheit. Ich war mütterlicherseits Teil einer bürgerlichen Großfamilie, die aus unerfindlichen Gründen, denn sie war gut assimiliert, in der deutschen Gesellschaft als „jüdisch“ galt. Sie wohnte, als ich mit meiner Wiege dort einzog, seit siebzig Jahren in dem dunklen alten Gründerzeithaus, unangefochten, weil steinreich, aber nie wirklich aufgenommen in Hamburgs Oberschicht.

Ich erzähle die Geschichte des zweiten meiner drei Großväter, weil sie von einem Teil des Bürgertums handelt, der sich von dem des an anderer Stelle beschriebenen Bremer Großvaters deutlich unterscheidet. Opi Bobby gehörte nicht wie jener zu den Tätern. Er war eines der Opfer. Aber es half ihm am Ende, wie sich zeigen sollte, dann doch, dass er als erfolgreicher Unternehmer unterm Strich doch auch zu den Tätern zählte.

Wie an der Mutter meines Vaters, erlebte ich auch an Opi Bobby, dass Großeltern, zumindest im Bürgertum, einen Hang zu haben scheinen, ihren Enkel*innen sich und ihr Leben zu offenbaren. Er hatte sich in den 1950ern nach dreißig Jahren Ehe von meiner Großmutter getrennt und eine seiner Angestellten geheiratet. An einem Sonntagvormittag bat er mich während eines unserer Besuche in seiner neuen Familie im Prachtneubau am grünen Rand der Stadt ganz unvermittelt in sein Arbeitszimmer. Im Kern dessen, was er mir erzählte, ging es um den Moment, als sein geliebter älterer Bruder während eines Familienurlaubs in den Südtiroler Bergen auf einer Klettertour der beiden abstürzte; Bobby war hinuntergestiegen und hatte, auf einem Felsvorsprung neben ihm hockend, das Sterben des Bruders erlebt. „Meine Jugend war beendet“, sagte er, mir unvergesslich, in einem seltsam tonlosen Ton. Er war dreiundzwanzig, als er in Chemie promovierte, danach gleich noch der Diplomingenieur. In der Familie war seine Intelligenz legendär. In dem Betrieb, der ihn nach Kanada holte, wurde der junge Mann aus Deutschland, ein brillanter Techniker, anstelle eines nichtvorhandenen Sohns in die Eigentümerfamilie aufgenommen. Im August 1914 landete er gleichwohl über Nacht als feindlicher Ausländer hinterm Stacheldraht eines kanadischen Holzfällerlagers. Zu den vielen, über ihn in der Familie kursierenden Legenden gehört die nicht gar so unwahrscheinliche, dass er, ein eher kleiner Mann, von massigeren Männern mehrfach missbraucht wurde.

Zurück in Deutschland, verdiente er mit der trickreichen Verwertung der Eingeweide toter Kriegsgeräte ein Vermögen. Er heiratete die Mutter künftiger Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, reiste mit seiner jungen Frau auf Luxusdampfern bis nach Guatemala und vergaß darüber keinen Tag, den Reizen der in seiner Firma beschäftigten Frauen nachzugehen, Näheres darüber erfuhr ich viel später überraschend aus den Akten der Gestapo. Der Großvater wollte nach all den Schrecken offenbar endlich aufholen und wahr machen, was unaufholbar ist, weil es seine eigene Wahrheit hat.

 Die Zerrissenheit infolge seines tiefen Verlustschmerzes, auch das gehört wohl zum gesellschaftlichen Sein des Menschen, wirkte auf je verschiedene Weise bis in die Seelen und Biografien seiner Nachkommen, mich eingeschlossen. Besonders betraf das seinen Sohn, meinen Onkel, und es betraf seine beiden Töchter, von denen er der jüngeren, meiner Mutter, so hat sie es der Frau meines Bruders anvertraut, irgendwann tatsächlich dasselbe antat, was man ihm in den kanadischen Wäldern angetan hatte.

Am Ende der 1920er Jahre mochte er endlich das Gefühl gehabt haben, er könne auf seine Art das Lebendigsein vielleicht doch noch irgendwie herbeizwingen – da griff die Zeitgeschichte in Gestalt des Hitler-Faschismus zum zweiten Mal in sein Leben ein, er hatte sich auf die „Rassentheorie“ der Nazis einzustellen, die Anführungszeichen doppelt bedeutsam, denn es gibt unter den Menschen weder Rassen, noch haben die Nazis je so etwas wie eine Theorie gehabt.

Von seiner in den USA lebenden Schwester besorgte er sich für viel Geld gefälschte Papiere, die ihn als „Halbjuden“ auswiesen. Seine Kinder, da meine Großmutter in der Vulgärzoologie der Rassisten „arischer“ Abstammung war, wurden mithin zu „Vierteljuden“ (ich selbst wäre – frei nach Hans Globke – gegebenenfalls als „Achteljude“ eingruppiert worden).

Als der Großvater 1938 denunziert, am 21. April ins Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis eingeliefert und wegen „Rassenschande“ angeklagt wurde, blieb zunächst unklar, wie die Nazi-Richter den Wahrheitsgehalt jener US-Papiere bewerten würden. Ich begreife bis heute nicht, warum ich von der Fortsetzung der großväterlichen Offenbarungen aus erster Hand nichts mehr wissen wollte, nachdem das Mittagessen, das sie unterbrach, beendet war. Ich entnahm Opi Bobbys weiteres Schicksal erst viele Jahre später fünf schweren Aktenordnern, in die mich zu vertiefen, mir das Hamburger Staatsarchiv gestattete.

Darüber, was ihm während des dritten Reichs widerfahren war, existierten in der Familie mehrere Versionen. Alle gingen davon aus, er sei als „Rassenschänder“ nach Verbüßung der Haft im Zuchthaus Fuhlsbüttel am Tor von der Gestapo abgeholt und umgehend ins Konzentrationslager Neuengamme überstellt worden. Aber während die einen meinten, er sei dort in den Wirren der englischen „Terrorangriffe“ 1943 geflohen und habe, versteckt im Kirchturm eines Pastors in Niendorf, überlebt – erzählten die anderen, er sei auf dem Transport von Neuengamme nach Auschwitz bei einem Angriff polnischer Partisanen befreit worden und habe in deren Obhut das Kriegsende in den polnischen Wäldern begrüßen dürfen, ja, man munkelte, er habe bei dieser Gelegenheit seinen späteren Schwiegersohn kennengelernt, den Mann der Schwester meiner Mutter. Der war mitsamt der Tante nach dem Krieg nach Paraguay ausgewandert. Das Warum wird deutlich, wenn man erfährt, dass er ein Mensch war, von dem in der Familie erzählt wurde, er habe unter den bewundernden Blicken seiner Frau stets mit einem Revolver unterm Kopfkissen geschlafen; seine Beziehungen zur polnischen Exilregierung in London dürften exzellent gewesen sein.

Der Prozessbeginn war für den 1. September 1939 anberaumt. Merkwürdigerweise beschied das Gros der zumeist in Führungspositionen beschäftigten Zeugen das Gericht vorab so umständlich wie nebulös dahingehend, dass sie just an diesem Tag wie zufällig anderweitig unabkömmlich waren. Der Prozess musste verschoben werden. Denn am 1. September 1939 waren die Herren allesamt mit etwas beschäftigt, das ihr Führer mit Blick zunächst auf Polen „Zurückschießen“ nannte.

Man verhandelte anfangs wegen „Rassenschande“. Den Akten lagen umfangreiche, mit Blaustift korrigierte und sorgfältig gelochte Altpapierblätter bei, die Gestapo hatte die Verhöre der weiblichen Angestellten des Angeklagten minutiös aufgezeichnet. So detailliert hätte ich über das Sexualleben meines Großvaters gar nicht unterrichtet sein wollen, es war skurril. Die Frage der US-Papiere, die, wären sie anerkannt worden, den Hauptteil der Anklage ihres Gegenstands beraubt hätten, blieb weiter in der Schwebe. Bis der Großvater sich eines Tages eines guten Freundes entsann, der im Gründerzeithaus in Pöseldorf fleißig verkehrte, weil er ein Auge auf meine Großmutter hatte, ein Anwalt und Geschäftsmann namens Gerd Bucerius. Keine Ahnung, was da lief, ich war ja noch nicht da. Aber die Art, wie er ihr den Hof gemacht haben muss, hat meine Großmutter, noch als „Butz“ als ZEIT-Verleger längst außer Reichweite war, zu Worten aufrichtigen Entzückens hingerissen.

Wie auch immer. Bucerius übernahm die Verteidigung und sah mit einem Blick, was zu tun war. Im Moment, da er dem Gericht klarmachte, dass der Großvater nicht nur Sekretärinnen nachgestellt, sondern hauptberuflich für die Firma Rheinmetall gearbeitet hatte, wurden die US-Papiere anerkannt, die Stimmung im Gerichtssaal kippte. Man verhandelte „nur“ noch wegen des ursprünglich zweiten Delikts: Opi Bobby hatte all die Jahre, mit Wissen und Einverständnis des Reichswirtschaftsministeriums – seine Art von Lebensversicherung? – in Mittelamerika für die Firma Rheinmetall Granatwerfer und Mörser verkauft.  Das war zwar selbst für nichtarische Kaufleute legal. Aber man war ihm draufgekommen, dass er die Gewinne zu großen Teilen nicht in Hamburg, sondern in New York versteuert hatte – ein in der Welt des Eigentums unverzeihliches Devisenvergehen.

Ist es nicht erstaunlich, wie bis in Einzelheiten die allgemeine Geschichte ins Leben weitgehend unscheinbarer Durchschnittsmenschen hineinzureichen vermag? Und als wie undurchschnittlich bei näherem Hinsehen sich sehr viele Menschen* erweisen?   Auf Anfrage teilte mir in den Nullerjahren ein hilfreicher Staats-Archivar mit, dass die Haft meines Großvaters, die „mit einer Strafhöhe von 2 Jahren und 6 Monaten, bis zum 19.02.1943 dauern sollte“, verkürzt worden sei. „Ein Gnadenerweis ließ ihn am 25.09.1940 vorzeitig aus der Haft frei, nachdem sein Anwalt Gerd Bucerius unter Mithilfe namhafter Fürsprecher sich für seine Entlassung unter Zahlung einer nicht unerheblichen Kaution eingesetzt hatte. Nach dem Krieg wurde die Haftstrafe offiziell auf die bereits abgesessene Strafzeit reduziert, jedoch nicht völlig aufgehoben.“ Auf die Frage, wie es ihm die knappen vier Jahre nach der Haftentlassung ergangen sei, erfuhr ich: „Seine erhalten gebliebene und hier ebenfalls verwahrte Entnazifizierungsakte weist nach seiner Entlassung aus der Haft die für viele Personen jüdischer Herkunft erzwungene Verpflichtung zur Verrichtung von Zwangsarbeiten nach, die auch Ihr Großvater für Oktober 1944 angab. Ob in der Akte doch noch Hinweise auf Flucht oder Verstecken, wie in Ihrer mündlichen Familiengeschichte erwähnt, enthalten sind, können Sie oder eine beauftragte Person durch eine sorgfältige und persönliche Einsichtnahme sicher leicht feststellen.“

Das habe ich. Von Flucht und Verstecken nirgends eine Spur. Die Sache hatte, was das Bürgertum angeht, eine kleine Pointe. Denn Opi Bobby war in der Wahl seiner zweiten Frau an die Unterklasse geraten, sie war ein Arbeiterkind. Robust und realistisch, hatte sie, wenn wir zu Besuch waren, bei aller Unsicherheit, stets einen spöttischen Zug um den Mund. Das muss es gewesen sein, was ihn auf seine alten Tage reizte. Seine Gattin und noch viel mehr die im Haushalt der Tochter untergekommene Schwiegermutter, eine alte Arbeiterfrau im geblümten Kunststoffkittel wie von Brecht erfunden, nahmen ihn nicht ernst, sie lachten ihn aus. Sie lebten von ihm und durchschauten ihn zugleich und erreichten auf diese Weise, ohne sich zu verstellen, einfach sein Herz.

Aber Opi Bobby wäre nicht bis zuletzt er selbst gewesen, hätte er der Pointe nicht noch eine weitere hinzugefügt. Seine eigentlich schon deutlich jüngere zweite Frau fand, als sie während eines ernsten Krankenhausaufenthalts Bobbys in dessen Arbeitszimmer aufräumte, ein Tagebuch. Sie erfuhr auf diese Weise, dass er seit Jahren einer noch viel Jüngeren eine Eigentumswohnung, einen Sportwagen und sonst noch einiges geschenkt hatte, um sie regelmäßig aufsuchen zu können. Damit konfrontiert, als er wieder Zuhause war, geriet er in einen so großen Zorn, dass er sich den Sommerhut griff und in der nicht nur für sein Alter enormen Sonnenhitze so lange durch die Landschaft marschierte, bis eintrat, was seinem Dickkopf vermutlich vorgeschwebt hatte: ein letzter tödlicher Schlaganfall. Er verstarb achtzigjährig exakt im heißen Sommer 1968. Junge Welt, August 2021

Rauch über der Wiege. Die erste der Großvatergeschichten (2021)

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BEETHOVEN.TRIPLE CONCERTO AUS FREIBURG.

Beethovens Triple Concerto op. 56 gehörte bislang nicht zu den Beethovenwerken, die das Publikum von den Sitzen reißen. Zu Beethovens Zeit stand diese Konzertform, in der nicht ein, sondern mehrere Solisten zugleich vorm Orchester hervortreten, in Blüte, bevor sie urplötzlich – Ausnahme Brahms‘ Doppelkonzert – totalverwelkte. An den Solisten, die sich an dem Stück versuchten, lag es gewiss nicht. Die Oistrakhs und Menuhins, die Casals‘ und Rostropowitschs, Barenboims und Swjatoslaw Richters unter der Ägide aller Karajane der Vergangenheit versuchten es – vergeblich. In einer Neuproduktion unternehmen die Geigerin Isabel Faust, der Cellist Jean Guyen Queiras und am Fortpiano Alexander Melnikov einen weiteren Versuch.

Dreierlei Zutaten hat sich Beethoven für dieses Werk ausgedacht: Eine Solisten-Trias, die zweitens zugleich ein Klaviertrio bildet, sowie ein Orchester. Er halste sich auf diese Weise das Problem der Integration dreier dynamisch und räumlich extrem unterschiedlicher Erscheinungsformen der Musik auf: Instrumentalsolo, Kammermusik und Sinfonie, eine Quadratur des Kreises.

Bisher galt: der große Beethoven – leider gescheitert. Der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado führt nun aber das Freiburger Barockorchester (FBO) auf der neuen CD auf eine Weise mit den, mal einzeln, mal als Trio auftauchenden, Solisten zusammen, dass man den Eindruck haben kann, Beethoven vergriff sich auch in Opus 56 durchaus nicht.

Für Georg Lukács in seiner Ästhetik muss jedem, über seine Zeit hinaus wirksamen Kunstwerk sein „hic et nunc“ eingeschrieben sein – das Hier und Jetzt Beethovens im Moment der Arbeit in diesem Moment seines Lebens plus sein geschichtlicher Hintergrund müssen mitschwingen, wenn die Mondscheinsonate, die Neunte oder eben das Triplekonzert ertönen. Dazu, was im Musikerlebnis an, den ästhetischen Eindruck beeinflussenden, Momenten alles zusammenkommt, gehört über Jahrhunderte hinweg auch das Hier und Jetzt der Rezipienten,  die Wachheit und psychische wie soziale Verfassung jedes Einzelnen in ihrem und seinem privaten wie geschichtlichen Moment. Und es gehört dazu die Größe und Atmosphäre des Aufführungsraums, mit der der Komponist bei der Arbeit zu rechnen und auf den sich sein Publikum einzustellen hatte.

1803 ist das Werk entstanden. Der 33-jährige Beethoven befand sich im Anflug auf die Eroica, die Apassionata, Scheitelpunkte im Schaffen des sich auf der Höhe seiner Ideale bewegenden Komponisten (ein Jahr später wird sich zu seinem großen Ärger Napoleon die Kaiserkrone aufs Haupt drücken). Das Triplekonzert ist voller Schwung und Entschiedenheit. Auch der langsame Satz kein Bruch, mehr Idyll. Der letzte Satz bietet, ungewöhnlich für ein Finale, einen heroisch aufgeputzten Volkstanz á la Polacca.

Dass das Stück bei der Uraufführung in Leipzig 1808 wenig zu gefallen wusste, könnte an der Größe des Gewandhauses gelegen haben. Kammermusik war damals eine gänzlich private, in kleinen Salons stattfindende Sache, ein Trio – auch als Bestandteil der Konzertform – hatte in einem Sinfoniekonzert schon aus Gründen der Saalgröße weder ästhetisch noch akustisch etwas zu suchen. Die aus Gründen konkurrenzgetriebener Akkumulation immer größer werdenden Säle verlangten immer lautstärkere Instrumente, immer größere Klangkörper. Aus zarten Barockgeigen, Holzflöten und mit Kalbfell bespannten, mit Holzschlägeln traktierten Pauken wurden Instrumente, die noch in japanischen Dreitausendplätze-Hallen beeindrucken. Auf Kosten der Charakteristik, der Aura und – beim Triplekonzert besonders wichtig – der Balance und klanglichen Trennung zwischen Orchestergruppen und Solo-Instrumenten.

Wie das funktionieren kann, führen Heras-Casado, die drei Solisten und das wie immer fabelhafte, klein dimensionierte FBO vor. Queiras hat am Cello noch die meisten Gelegenheiten, seine auch auf dem Barockcello immer sensibler genutzten solistischen Fähigkeiten zur Geltung zu bringen. Ansonsten sind sich die drei Stars an den Soloinstrumenten nicht zu schade, zusammen mit dem Orchester auf dieser Aufnahme nicht mehr, aber auch nicht weniger, als ein dynamisch und strukturell beglückend „natürliches“ Klanggefüge herzustellen. Vermutlich, wäre zu ergänzen, hat auch der Tonmeister dieser Produktion, Martin Sauer, delikateste Arbeit geleistet; er stellt mit seinen Mikrofonen einen imaginären Saal von genau der richtigen Größe dar und steuert die Disproportionalitäten des Triplekonzerts in ein ungekünsteltes Klangbild aus.

So fließt das friedvoll schöne Largo des mittleren Satzes in ein von Skalen von unten nach oben präludierendes Aufzählen gebrochener Akkorde aus, Klavier, Geige und Cello sind allein; sie wechseln sich als Klaviertrio, immer leiser und deutlicher werdend, ab, man vergisst indes darüber das pausierende Orchester nicht, der große musikalische Zusammenhang dieses besonders leichten und duftigen Beethoven-Werks bleibt auch atmosphärisch gewahrt. In der Exposition des ersten Satzes dagegen spielt das Orchester nicht, wie sonst in Solisten-Konzerten üblich, auf den Beginn des ersten Solo zu. Als wären keine Solisten da, tritt das FBO – für mein Ohr sinnvoll – vollrohr sinfonisch auf. Das Largo endet Attacca in der Quinte über dem Grundton C des vom Cello mit dem, in höchsten Lagen und vogelgleich unbeschwert vorgetragenen, Thema des folgenden Rondo alla Polacca. Flageolettefahl und frisch scheint da ein junger Frühlingsmorgen zu erwachen, bevor es losgeht mit dem finalen Volkstanz-Rausschmeißer.

Das Triplekonzert als Hörvergnügen! Es geht immer weiter nicht nur mit der Musik. Je vertrauter sich die Musiker mit der Vergangenheit machen, desto mehr Zukunft haben sie. Und je mehr Zukunft wir alle hätten, gehörte die Welt erst denen, die sie (sich) erarbeiten, je mehr Big Data wir – nicht die Internetkonzerne und imperialen Geheimdienste – zur Verfügung hätten, desto gründlicher könnten wir am Ende zurückschauen, entdecken und nutzen, was die Menschheit an lebenswertem, menschengerechtem Wissen bereits angehäuft und genossen hat. Junge Welt, April 2021

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Peng! Kollektiv.Jean Peters.

Als ich mich Anfang Mai mit Jean Peters zum Gespräch traf, konnten wir nicht wissen, was zwei Monate später geschehen würde. Drei „Kernmitglieder“ des von Peters mitgegründeten Peng!Kollektiv, so lauten die Meldungen Ende Juni, seien ausgestiegen. Der Vorwurf: Peters habe sich mit seinem Buch (es war auch der Anlass zum WE-Gespräch der Jungen Welt) zulasten der Kollektivität selbst zu sehr in den Mittelpunkt gestellt. Ein seit langem schwelender Konflikt. Alle Beteiligten betonen, das Konzept sei erfolgreich gewesen, es würde von den ausgestiegenen Einzelnen und vom weiter bestehenden Peng!Kollektiv weiterhin praktiziert, selbstverständlich kollektiv.

Jean Peters gehört als „gelernter Clown“ zur Sorte Künstler, die, immer ohnmächtig und darum immer auch komisch und – offen oder subversiv – kritisch und handlungsfähig, die Verhältnisse von unten kritisieren. Ging der mittelalterliche Gaukler, der feudale Hofnarr nur eben durchweg als Einzelkämpfer vor, sind moderne Spaßvögel wie Peters, voll digitalisiert und verbündet mit unkorrumpierter Wissenschaft und Politik, als solidarisches Team unterwegs, in Peters‘ Fall mit dem 2013 gegründeten Peng!Kollektiv.

Peng! war zwar mit seinen Aktionen auch schon im Museum und wurde mit Kunstpreisen bedacht. Eigentlicher Ort ihrer Schöpfungen sind gleichwohl alle möglichen Bühnen, die ihnen – meist ungewollt – Wirtschaft und Politik zur Verfügung stellen. Dort inszenieren sie mediale Aufdeckungen herrschender Heuchelei, Gesetzesbrüche und Verbrechen.

Bei allem Spaß, den es ihnen und ihrem Publikum macht, etwa Beatrix von Storch unter der Headline „Schuld und Sahne“ vor laufenden Kameras eine Torte in die Adelsvisage zu knallen, meint Peng! es durchaus ernst. Das Kollektiv sieht sich als kämpfende Kolonne. Es unterstütze, heißt es in seinem 2018 veröffentlichten „Critical Campaigning Manifesto“, den Kampf „für die Rechte der Unterdrückten, Marginalisierten und Machtlosen“. Spaß muss sein, aber „die Critical Campaigner*in verwendet Mittel der Emotionalisierung und Reduktion nur in Verbindung mit differenzierten und komplexen Informationen“.

Per schier selten kreativ, gründlich und perfekt vorbereiteten Fake-Coups, gibt da der mediale David den allmächtigen Goliath homerischem Gelächter preis. Und enthüllt zugleich dessen Schandtaten, erinnert zumindest, die sie schon kennen, einmal mehr daran, dass sie, egal, wer gerade das Kanzleramt besetzt, einfach nicht aufhören. Den Untergrunddenkern gelingt es immer wieder, all das spektakulär witzig und Aufsehen erregend in sozialen wie Mainstream-Medien unterzubringen.

Normalerweise kommen mir solche Typen nicht auf die Festplatte, dies die tortale Ausnahme

Jean Peters hat keine Clownsnase im Gesicht, keine Perücke auf dem Kopf, als er bei uns in der Wohnungstür steht, die Schirmmütze auf seinem Kopf scheint Alltag. Er ist eines der wenigen Realgesichter, die das Peng!Kollektiv der Öffentlichkeit zeigt. In die getortete AfD-Versammlung gelangte er, das Backwerk auf den Händen, als Clown geschminkt und ein fröhliches „Happy Birthday“ trällernd, mitten hindurch durch eine erwartungsfroh schmunzelnde Rassistenschar, bis unmittelbar vor die Zielperson.

Unser Gespräch dreht sich durchweg um die Gesellschaft, in der wir leben. Ihm stinkt sie. Er holt sich den Tee selbst, wird den persischen Mürbteigkeksen gerecht, die auf dem Tisch stehen. Das System, über das wir reden, hat sich im Wesentlichen nie verändert. Es hat nur immer noch besser gelernt, immer neue Varianten des Aufbegehrens gegen seine Verkommenheit zu integrieren.

Die Leute von Peng! scheinen das zu wissen. Sie wissen, wen sie vor sich haben, wenn sie an die nächste Aktion gehen. Fakend überlisten sie immer wieder Leute, die ihrerseits – nur mit dem entgegengesetzten Ziel, Kriege zu rechtfertigen und die Menschheit in Angst und Schrecken zu versetzen – immer durchtriebenere Fakes in die Welt setzen.

Es ist eine der sympathischen Seiten des Bürgertums, immer wieder auch Menschen wie die Mitglieder des Peng!Kolllektiv hervorzubringen. Im „Die Hoffnung“ überschriebenen Vorwort seines Buchs formuliert Peters, und spricht damit für viele andere, die sich mit so etwas nur eben allesamt nicht in den Massenmedien wiederfinden: „Es ist für mich kaum zu ertragen, dass ich Glück habe und andere nicht“.

Woher kommt der Spaß an so etwas?

 Ich hatte immer was Antiautoritäres. Bei Autoritäten Menschen, die qua Amt dominieren, nicht qua Argument, funktioniert es recht gut, sie zu ärgern, sie leben vom Ernstgenommenwerden. Verweigert man es ihnen, werden sie fast immer lächerlich. 

Haben Sie Abitur?

Ja, ich habe danach noch zwei Master gemacht. Das Akademische hat mir immer sehr viel Spaß gemacht. Und irgendwann hatte ich auch begriffen, dass es strategisch Sinn macht. Den autoritären Uni-Betrieb kann man aber natürlich auch aufmischen. Ich erinnere mich, wie Anwesenheitslisten eingeführt wurden. Ich habe mich als Clown verkleidet, habe sie geklaut und dem Professor angeboten, sie auf Ebay zu ersteigern. Das war mein Auftritt, sorry für das billige Wortspiel, als Listenklaun.

War das schon kollektiv organisiert oder waren Sie mehr Einzelgänger?

Da haben Kommilitonen mitgemacht, war aber kein Kollektiv. Ich war Gruppen gegenüber immer ein bisschen misstrauisch, auch politischen Gruppen gegenüber. Es gab auch nie eine Gruppe, wo ich gesagt hätte, boah! das ist es. Wenn es irgendwo dogmatisch wurde, war’s sowieso aus bei mir.

Was ist „dogmatisch“?

Wenn man die Möglichkeit nicht zulässt, dass das, was man sagt, falsch sein könnte. Dogmatik gibt’s auch in postmodernem Gewand. Auch in der Frage „Möchtest Du einen Mercedes, einen BMW oder einen Golf kaufen?“ steckt Dogmatik, auch wenn das Ganze so scheinbar offen daherkommt.

Das traditionelle linke politische Kabarett, Leute wie Gerhard Polt, Georg Schramm, Volker Pispers…

Gerhard Polt kenne ich nicht. Schramm finde ich wunderbar, der hat eine grandiose Rede zum Erich Fromm Preis gehalten. Und von Pispers ist meine Freundin ein großer Fan.

Diesen Künstlern scheint, nachdem sie auf Youtube und bei den Öffentlich-Rechtlichen eine letzte Großverbreitung gefunden haben, die Lust vergangen, sie sind im Ruhestand oder haben resigniert. Peng! geht andere Wege. Das Kollektiv wäre ohne das Internet aufgeschmissen.

(lacht) Stimmt – die sozialen Medien bringen uns Verbreitung.

Worum geht es Ihnen?

Um sozialökologische Gerechtigkeit.

Ein sperriges Wort.

Es hat sich entwickelt. Politisches Bewusstsein ist ja nicht plötzlich und statisch da. Da wächst man auf und merkt zum Beispiel irgendwann, mit zehn oder fünfzehn Jahren: hey, da gibt’s ja so was wie das Patriarchat, was ist denn das eigentlich? Und dann merkt man, ach Scheiße, ich bin als Mann ein wichtiger Teil eines Unterdrückungsapparats, das hatte ich als Junge irgendwie übersehen. Dann sieht man die Klimakrise, die gibt’s nicht erst seit gestern. Warum machen die nicht endlich was dagegen? Und was hat das mit dem Kapital zu tun? Es bildet sich ein politisches Selbstbewusstsein. Ich reflektiere, wo bin ich, was ist meine Position in der Gesellschaft? – und versuche, mir die vielen Unerklärbarkeiten zu erklären. Es gibt ja Einiges, was überragend unerklärlich ist.

Zum Beispiel? 

Wie die Menschheit so viele Katastrophen kollektiv anzetteln und dabei gemütlich das Barbecue anschmeißen und fröhliche Lieder pfeifen kann.

Für mich wären das eher Einzelne, die Katastrophen anzetteln und damit ein bestimmtes System praktizieren.

Aber die sind Teil der Menschheit, sie sind ja keine Aliens.

Die absolute Mehrheit dessen, was Sie „Menschheit“ nennen, will unbestritten keinen Krieg.

Warum geht sie dann nicht in den Widerstand?

Es gibt weltweit seit mehr als hundert Jahren riesige Friedensmanifestationen. Gehen Sie in den Widerstand?

Ich denke schon, dass das, was wir machen, subversiver Widerstand auf der medialen Ebene ist.

Das Problem für uns alle ist doch, dass die für die Katastrophen Verantwortlichen jahrhundertelange Erfahrung darin haben, die Menschen immer neu in ihr menschheitsfeindliches System einzubinden. 

Richtig, die Menschen bewegen sich dauernd im engen Korridor des Zurechtkommens in der Welt. Aber immer mehr fragen sich trotzdem: Wie sind wir nur an diesen verzwickten Punkt gekommen? Beispiel Autoverkehr, Wohnungsnot, Klimakatastrophe. Dafür sind am Ende für mich nicht die bösen Gauner „da oben“ verantwortlich, sondern ein Gesamtkomplex an sozial-ökologischen Verhältnissen. Nennen wir ihn behelfsweise „das System“.  Und ich frage mich schon, warum es nicht mehr Leute gibt, die sagen – ey, ganz offen – ich würde dieses System gern stürzen.

Das würden Sie gern?

Ich allein mit Sicherheit nicht. Aber sonst: gern. Ich habe natürlich Sorge vor dem Machtvakuum, das dann entsteht und vor den neuen Rechten, denen das möglicherweise in die Hände spielt. So richtige Revolutionen sind dann doch oft viel blutiger als man sich das romantisch so vorstellt.

Haben Sie eine positive Vorstellung davon, was dann kommen könnte?

Ich habe keine Vision, keinen Plan, auch keine fertige Geschichte, mehr eine Art Flickenteppich.

Was ist zu tun?

Wo wir auf jeden Fall ranmüssen: wir müssen das Patriarchat zerschlagen, wir müssen Rassismus bekämpfen und wir müssen weg vom kapitalistischen Ressourcenverbrauch, der heizt den Klimawandel bis ins Unendliche an; wir müssen den Begriff des Eigentums neu denken und juristisch neu verankern.

Sie zeigen in Ihren Aktionen mit dem Finger auf besonders skandalöse Zustände, Institutionen und deren Exponenten, die von den Mainstream-Medien oft minimal bis gar nicht herausgestellt werden.

Die Medien sind oft gar nicht mal das Problem. Nehmen wir das Beispiel der Waffenindustrie, auch wenn es sehr spezifisch ist. Darüber wird oft sehr kritisch berichtet. Siebzig Prozent der deutschen Bevölkerung ist ohnehin konstant gegen Waffenexporte. Und doch, so scheint es mir, ändert sich nichts, im Gegenteil, der Waffenexport steigt.

Dafür darf man alle vier Jahre sein Kreuzchen machen.

Dieses spezielle Wirtschaftsfeld Waffenindustrie ist eine Bedrohung für das Vertrauen in die Demokratie. Das hat mit dem hohen Grad an Intransparenz zu tun, die wiederum eine beeindruckende Verbreitung von Korruption ermöglicht. Ich würde mir also verschiedene gesellschaftliche Felder stets unter diesem Blickfeld ansehen: wie hoch ist der demokratische Rückhalt der politischen Steuerung im Verhältnis zur dabei erzeugten sozial-ökologischen Gerechtigkeit. Ist beides so niedrig wie bei der Waffenindustrie, haben wir ein gravierendes Problem.

Mit Ihren Aktionen bauen Sie politischen Druck dagegen auf, auch dies Interview gehört in gewisser Weise dazu.

Lesen die politisch Verantwortlichen die Junge Welt? Liest die überhaupt irgendwer?

Allen voran gehört der Verfassungsschutz zu unseren treuesten Lesern. Das würde er wohl nicht machen, wenn uns sonst niemand lesen würde.

Dann lassen Sie uns doch kurz über den Verfassungsschutz reden.

Gern.

Wir haben ihn in Köln besucht und haben die Verfassung auf sein Eingangstor plakatiert, um Bilder davon zu haben, wie der Verfassungsschutz mit der Verfassung umgeht. Sie waren erwartbar dumm. Kamen rausgestürmt und haben die Verfassung in Stücke gerissen. Also der ganz normale Alltag dort. Aber wir sind noch viel weiter gegangen: mit intelexit.org haben wir für sie über einige Monate eine Aussteiger*innenplattform angeboten. Die deutschen Geheimdienste sind international nicht sehr ernst zu nehmen, eine Gurkentruppe. Aber gerade aus den USA und Russland haben sich einige Agenten gemeldet, die zurück in die Demokratie wollten, weil sie es in diesen paranoiden Machoschuppen nicht mehr ausgehalten haben. Das war eine sehr spannende Zeit.

Vor der Pandemie hatten Sie den Plan, die Lesungen mit Ihrem Buch zu nutzen, die verschiedenen, gegen die Zerstörungen des Kapitalismus ankämpfenden Einzelgruppierungen zusammenzuführen.

Wir bieten auch immer wieder Workshops für Leute an, die in ihrem Bereich auch Widerstand leisten möchten. Solange der Kapitalismus noch da ist, hoch dotiert, versteht sich (lacht).

Sie sehen die Notwendigkeit, Menschen hinter das zu versammeln, was Sie für richtig halten?

Hinter das, was die Menschen für richtig halten. Es geht ja um soziale Kämpfe, um die Menschen, die sich in kleinen oder größeren Gruppen organisieren und bei Ryan Air streiken oder in den Krankenhäusern oder fürs Klima und die ja eigentlich alle das Anliegen haben, bestimmte Machtstrukturen aufzubrechen. Eine unserer Ideen war von Anfang an, andere darin zu unterstützen, dass sie in Aktionen voneinander lernen, sich solidarisieren und inspirieren – ein IG Metaller bekommt durch einen Klimastreik ja vielleicht auch mal eine andere Perspektive – und sich insgesamt eben alle miteinander verbünden, das würde ich gern nach wie vor machen.

Auf diese Weise wollen Sie das System verändern?

Den Satz würde ich so nie sagen, das ist mir zu narzisstisch. Mir ist es enorm wichtig, Teil eines kollektiven Prozesses zu sein, in dem wir das System sprengen, umbauen, stürzen – nennen Sie mir ein radikales Wort, ich nehm’s – und ich merke auch, dass meine Generation (auch die davor) sehr zaghaft ist in solch radikalen Aussagen. Ich habe mir gerade viel Punk der 1980er Jahre angehört. Alle singen von „Revolution“ und „Umsturz“. Der Moment, wo man einen Stein auf ein Polizeiauto warf, war damals in seiner Gestenhaftigkeit ein Mosaiksteinchen im revolutionären Kampf. Heute, nach dem Zusammenbruch der verschiedenen politischen Zusammenhänge 1989, ist der Stein nur ein blinder Wutausbruch. Er wird nicht mehr im Zusammenhang gesehen, weil die Leute die Fronten zwischen real gelebtem Kapitalismus und real gelebtem Sozialismus  nicht mehr erleben können. So kaputt beide Systeme sind und waren, es ist damit auch die Illusion einer greifbaren Utopie abhandengekommen. Daher müssen wir um so mehr Orte schaffen, an denen Utopien vorstellbar werden, so sehr sie auch immer im Werdungs-Prozess bleiben werden.

Welche Utopien wären das?

Im Westen nichts neues. Eine Welt, in der unsere Beziehungen nicht auf Ausbeutung basieren. Weder zwischen Geschlechtern, noch zwischen rassistisch konstruierten Kategorien, auch nicht zwischen globalem Norden und Süden, Peripherie und Zentrum – und natürlich nicht zwischen den sozialen Klassen, wenn sie sich auch extrem gewandelt haben. Aber auch die Utopien haben sich geändert. Vor 100 Jahren hat kaum jemand von einer Welt geträumt, in der keine Ressourcen mehr verbraucht werden. Das ist eine neue Dringlichkeit.

Der Club of Rome hat schon 1972 sehr deutlich darauf hingewiesen.

Aber weder Realkapitalismus noch Realsozialismus haben das ernstgenommen.

Der chinesische Sozialismus geht heute anders damit um.

Puh, ich weiß, dass Sie auf China stehen, aber ich will nicht in einem Land leben, in dem man nicht frei sprechen darf. So misantrop bin ich dann doch noch nicht. Und was die Umwelt angeht: die setzen doch voll auf Atomkraft, oder?

Keineswegs ausschließlich.

Ja, massiv auch auf Kohle. Aber ganz ehrlich: ich kenne mich, was China angeht, nicht genug aus, um da was Belastbares sagen zu können.

Sie haben scheint’s sehr intensiv mit dem Jetzt zu tun, die Zukunft ist für Sie sehr weit weg?

Nach meinem Eindruck leben wir in einer Zeit, in der die Zukunft ständig ins Jetzt reinkracht. Und zwar in Form von Angst vor dem, was kommen mag. Eine der großen Aufgaben der Kunst und der Medien wird es sein, konstruktive, aber vor allem überzeugende, Zukunftsbilder zu schaffen, um nicht in autoritäre Gesellschaftsformen abzudriften. Junge Welt. Juli 2021

Jean Peters Jahrgang 1984, ist Publizist und Aktionskünstler. Er hat Politikwissenschaften studiert und ist Mitgründer des »medientaktischen« »Peng!«-Kollektivs, mit dem er regelmäßig Pressekonferenzen von Konzernen unterwandert. Auf der »Re:publica« 2014 hielt er vor etwa 3.000 Besuchern eine Rede als angeblicher Manager von Google. 2018 war er Mitbegründer der NGO »Seebrücke« und begab sich 2019 undercover in die Klimaleugnerszene.

Aktuelle Buchveröffentlichung: Jean Peters: Wenn die Hoffnung stirbt, geht’s trotzdem weiter. Geschichten aus dem subversiven Widerstand. 2. Auflage. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 256 S., 21 Euro

PRINTEXTE

Schubert.Winterreise.Schäfer.Koch

„Das Wesen des Frühlings erkennt man erst im Winter“, sagt Heinrich Heine, „und hinter dem Ofen dichtet man die besten Mailieder.“ Es funktioniert aber auch umgekehrt. Denn eine, bei näherer Betrachtung eigentlich sensationell andere Wege gehende, Neuaufnahme von Schuberts „Winterreise“ erscheint exakt im Anfang eines sich von der Pandemie versuchsweise befreienden scheint’s saft- und kraftvollen Sommers 2021.

Wer über Schuberts, mit der „Winterreise“ geleistete Schaffung des modernen Kunstlieds redet, kann Wiederholungen kaum entgehen, denn es wurde darüber schon so viel Gutes und Richtiges geschrieben. Die „Winterreise“ scheint ausgedeutet. Die Neuproduktion beim kleinen Qualitätslabel AvI allerdings widerlegt derlei Annahmen. Denn der Tenor Markus Schäfer singt derart textverständlich und eigensinnig, der ihm zur Seite erklingende Hammerflügelspieler Tobias Koch „begleitet“ nicht, er inspiriert. Sänger und Zuhörende können sich dem Wortlaut in einer Weise widmen, die eigenproduktiv neue Gesangs- und Hörweisen ermöglicht.

Womit, stärker als gewohnt, der Urheber des Wortlauts der „Winterreise“ in den Fokus gerät, der Dichter Wilhelm Müller. Der handelte sich als unermüdlicher Propagandist der Sache des bereits zur Schubertzeit für seine Freiheit kämpfenden griechischen Volks im anti-freiheitlichen Deutschland den Spottnamen „Griechen-Müller“ ein. Er galt der deutschen Literaturkritik lange als, wie es im Booklet heißt, „durchschnittlicher Feld-Wald-und-Wiesen-Romantiker“.

Der junge Heine indes war von der Panerotik des älteren Dichterkollegen, von dessen Indienstnahme des Volkslieds für aktuelle politische Aussagen hellauf begeistert. Auch, dass der, seinerseits im Ansehen der Fachwelt erst sehr spät auf die ihm angemessene Höhe Beethovens und Mozarts erhobene Schubert nicht zufällig seine zwei liederzyklischen Meilensteine anlässlich Müllers Dichtung hervorbrachte: was kratzte es seit bald anderthalb Jahrhunderten den deutschen Musikprofessor.

Koch und Schäfer nehmen sich Freiheiten. Sie gehen mit Schuberts Text – spiegelverkehrt – wie das immer noch zuverlässig inhaltophobe Regietheater um. Sie provozieren den kritischen Blick auf den Buchstaben sowohl des Texts wie der Musik. Beide Künstler arbeiten im Geist historisierenden Musizierens. Ihr freier Umgang mit dem Text verdankt sich gründlichem Quellenstudium. So fand Markus Schäfer im Anhang einer alten Schubert Ausgabe eine Bearbeitung der „Gesänge des Harfners“. Der Schubert-Förderer und Starbariton, Johann Michael Vogl, hatte sie sich für gemeinsame Auftritte mit Schubert eigens eingerichtet; in den Noten von seiner Hand: ein verblüffendes Maximum an eigenmächtiger Anverwandlung des „originalen“ Schubert. Freilich gab es auch beim mit Vogl auftretenden Schubert keine originalen Noten. Ungeachtet seiner eigenen Partitur, passte auch er nachweislich das, was er auf dem Pianoforte spielte, seinen Schöpferlaunen und der Stimmung im Moment der Aufführung an.

Markus Schäfer und Tobias Koch (l.)

So stellt diese Neuaufnahme nicht nur die heute gängige Aufführungspraxis infrage. Sie hinterfragt nachdrücklich auch das moderne „Konzertsaalgeschehen“, so Tobias Koch in seinen Booklet-Ausführungen. Im Konzertsaal des 21. Jahrhunderts gehe es, sagt er, oft immer noch „objektiv“ zu und betont „sachlich“.

Aber Musik aufseiten aller Beteiligten ist – im Moment ihrer Entstehung wie in ihrem Bühnenleben – etwas zutiefst Subjektives. Was die Musikwissenschaft sehr lange als „Urtext“ festhielt und heiligte, ist, so Theodor W. Adorno, nichts als „die Kopie eines nicht vorhandenen Originals“.

Die frische Kopie Schäfers und Kochs, das darf nicht unerwähnt bleiben, ist bei allen wichtigen Überlegungen für den Kopf, auch ein Viersterne-Menü für die Ohren. Der Sänger wird dem selbstgestellten Anspruch gerecht, wie er selbst zu klingen, wie der, sich gerade so oder anders fühlende, Interpret Markus Schäfer. Er klingt in ungekünstelter Tonschönheit, in bescheiden tief empfundenem Sinn, nach einem atmend singenden Menschen, nicht nach Idol, nicht nach tönender Absicht. Und Tobias Koch? Ein unaufdringlich meisterlicher Großvirtuose des pianistischen Moments, der Schrecken des „Urtexts“. Der dritte im Bund: das Pianoforte der 1830er Jahre aus Kochs Instrumentensammlung, hergestellt von einem unbekannten Klavierbauer, Gott hab ihn selig. Sein Instrument, wie gemacht für den Aufführungsmoment, passt sich, als wisse der Spieler nichts davon, naturhaft der Menschenstimme an. Das alte Klavier kann aber auch dramatisch. Der Dezibelzahl nach vielleicht gar nicht einmal so besonders laut oder leise, bringt es fortissimo, wenn angesagt, die klanglich gestische Gestalt des intensiv Bedrohlichen hervor. Oder pianissimo – es hat ein drittes Pedal für so etwas – die des dämmrig durchsichtig Verwunschenen. Wie kann man Schubert überhaupt guten Gewissens auf einem modernen Konzertflügel spielen, wenn man nicht ausnahmsweise, sagen wir, Alfred Brendel heißt, Artur Schnabel oder – ! – Maria Judina. Der moderne Konzertflügel ist Gleichmacherei auf je individuellem Höchstniveau. Glaubt niemand*? Es wäre an dieser Neuaufnahme zu überprüfen! Junge Welt, Juni 2021

Schubert: Die Winterreise D 911 – Markus Schäfer, Tobias Koch (AvI/Helikon Harmonia Mundi France)

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