Enno Poppe.Filz

Reden wir einmal nicht von Beethoven. Reden wir von Enno Poppe. 199 Jahre nach Beethoven geboren, macht er nicht mehr, aber auch nicht weniger, als Beethoven machte: Er verlässt gebahnte Wege. Und findet neue. Er fordert sein Publikum heraus, indem er ihm etwas, zwei Jahrhunderte nach Beethoven, offenbar schier Äußerstes zumutet, etwas, das er selbst dem Vernehmen nach seit frühester Jugend kennt: sich auf radikal Neues einzulassen.

Für Beethoven ergab sich das Neue in frühester Jugend aus der Bekanntschaft mit dem „Wohltemperierten Clavier“. Bachs schöpferische Erforschung der Polyphonie und der harmonischen Wirkungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Quintenzirkels bildeten im Schaffen Beethovens die Grundlage für, aus dem Neuen entstehende, neue Triebe mit immer neuen Abzweigungen und Knospen.

Die Pflanzenmetaphorik schlägt den Bogen erneut zu Poppe. Der liebt es, sich, wenn von seiner Musik die Rede ist, in naturwissenschaftlicher Idiomatik zu bewegen. Als jemand, der ein langes Musikstudium, unter anderem bei Gösta Neuwirth, hinter sich hat, kennt er sich natürlich auch im Quintenzirkel aus und ist problemlos in der Lage, eine Fuge zu komponieren. Er geht allerdings fundamental andere Wege – nicht ohne etwa im Mittelsatz des Titelstücks der neuen CD mit dem Ensemble Resonanz und Tabea Zimmermann auch eine in die neue Welt seines Komponierens übersetzte Fuge hören zu lassen.

Der Vater des 1969 im sauerländischen Hemer geborenen Komponisten war Lehrer für Musik und Mathematik. Poppe sei, liest man, schon in der Jugend auf Forschungsprojekte gestoßen, in denen versucht wird, das Wachsen und Verzweigen in der Pflanzenwelt in mathematischen Modellen zu erfassen. Am Beginn von „Filz“ jedenfalls, dem Titel- und Hauptstück der neuen CD mit drei Werken für Kammerorchester stellt das Ohr verblüfft fest: mit der Logik, der Art von Hören und Denken europäischer Musiktradition öffnen sich keine Türen zu Poppes Musik.

Das Bratschenkonzert „Filz“ beginnt mit einem Solo Tabea Zimmermanns. Der Ton schlingert – eine Reminiszenz an Arabien? – melismatisch durch die Luft. Das Ganze verwandelt sich in ständigen Wiederholungen, bleibt dabei in einer durch Dehnungen, Stauchungen, jähen Veränderungen der Lautstärke figurierten, glissando-artig durchgehenden Bewegung, die in ihrem Schlingern und Gleiten auch alles andere erfasst – Tonalität, Farben, Dynamik. Einzigartig, wie viele wie spontan erfundene Ausdrucksnuancen Tabea Zimmermann einem konzertanten Mauerblümchen wie der Bratsche zu entlocken vermag. Man muss diese Musik unbedingt mehrmals hören, auch schwierige Texte erschließen sich nicht beim ersten Lesen. Zum Lohn wird in den wilden Crescendi und Decrescendi, im jäh hingefetzten Abreißen und immer neuen Ansetzen mit jedem Mal deutlicher die Form auch in Poppes Komponieren.

Filz – I.

 Wie in der Natur wächst sich auch in ihm das Einfachste und Kleinste, sagen wir: Atome, Einzeller, Grashalme, zu großformatigen Molekülbildungen mit „Akkorden“ aus mathematisch errechneter Mikrotonalität, zu Klangtumulten und orchestralen Wirbelstürmen aus. Anders als bei Beethoven tritt in der Wahrnehmung von Kraft, Energie, Lyrik oder Depression aus dieser Musik allerdings kein diskursiv erfasstes Gesellschaftlich-Historisches oder intim Biografisches hervor. Aus Triumph oder Sieg, Anbetung, Tragödie, Katastrophe oder Paradies wird bei Poppe – naturhaft Elementares. Es bedeutet nichts, es ist, was es ist. Auch der Anblick keimender, wachsender, zerberstender oder in unerforschlichem Sog in ein Unendliches hinaufschießender Natur bedeutet nichts und löst doch spürbar vieles in uns aus.

Wer in all dem nur Kopfmusik vermutet, geht in die Irre. Spätestens beim ersten Erklingen der vier, in kontratiefer Schwärze auftretenden Klarinetten bemerkt das Ohr: in Poppes Musik gibt es Sinnlichkeit, Hördelikatessen. So sind die Klarinetten in all ihrer Klangschönheit in langanhaltenden Liegetönen die Unterlage, Poppe nennt sie im Interview scherzend die „Fußbodenheizung“ von „Filz“. Im Verlauf umschlängeln sie in hinreißendem Klangduett die hohe Bratsche, Poppe baut ins Denken seiner Musik umgerechnete Reminiszenzen an die Tradition in seine Musik ein, eins muss nur dranbleiben und zuhören.

Unglaublich, was er mit dem Streicherklang anstellt. Wie er Bratsche und „Tutti“ sich mutuell durchdringen lässt, sie im nächsten Augenblick in schneidende Klarheit entwirrt, wie sich die hohen Streicher am Ende des schnellen „Filz“-Mittelsatzes zum klanglichen Lazerstrahl aus fräsend-gleißenden Einzellinien vereinen, im nächsten Moment bilden sie nebelhafte Klangschleier aus irrwitzig fein gemischten Tonschichtungen. In Augenblicken oder länger, mutiert die Musik klanglich und auratisch, von der intimen, kaum kammermusikalischen Einzelheit zum kosmisch-orchestralen Ganzen und wieder zurück. Es ist unbeschreibbar viel, was da in einer, auch so etwas wie die Zeit noch relativierenden, Gedrängtheit vor sich geht. Ein Hörvergnügen eigentlich in allem, was Musik zu bieten hat. Es kommt dem gleich, was schon das Publikum der alten Musik hinriss und verzauberte. Nur entstammt es naturwissenschaftlich inspiriertem Denken, und auch in dieser Erscheinungsform wird großartige Musik daraus.

Mit dem Komponisten am Pult, dem Ensemble auf der Stuhlkante, für das die drei Werke der CD geschrieben wurden, und der wie immer einzigartig einfühlsamen, unendlich ausdrucksvariablen Tabea Zimmermann als Solistin hat diese Neuerscheinung die denkbar idealen Interpreten.  Junge Welt, Juni 2021

Enno Poppe: Filz. Stoff. Wald – Tabea Zimmermann, Ensemble Resonanz / Enno Poppe (wergo / Naxos)

CDREVIEWS

Mozart.Entführung.Jacobs.Akamu.

Wenn sich irgendwo einer der maßgeblichen Maestri wieder einmal einer der Opern des reifen Mozart annimmt, wird der Idomeneo zu Unrecht oft immer noch nicht mitgezählt. Aber den Idomeneo hat Renée Jacobs in seiner reichhaltigen Mozart-Diskographie bereits hinter sich. Er springt in der Chronologie hin und her: Zauberflöte und Clemenza di Tito sind bewältigt, alle drei da Ponte-Opern auch; sogar La finta giardiniera, eine Oper des 19-jährigen Mozart, liegt als CD-Box vor.

Nur die Entführung fehlte. Der geniale Wechselbalg aus den angesagten Nationalstilen und Genres der Mozartzeit, obendrein ein Deutsch gesungenes Singspiel mit gesprochenen, oft recht papiernen Dialogen, macht vielen Interpreten Probleme. Jetzt ist Jacobs’ Entführung da.

Zehn Takte Ouvertüre und man weiß: Da prallen Fortissimo und Piano aufeinander wie die üppige Kraft und die kindliche Zartheit der Jugend. Carl Maria von Weber meinte, Mozart habe nur eine einzige solche Oper schreiben können, unwiederholbar jünglingshaft blühend wie die Entführung. Die Akademie für Alte Musik Berlin stellt genau das mit viel Verve, Explosivität und Spielfreude dar. Wobei es üblich zu werden beginnt, dass der Geist des am Hammerflügel leitenden, spontan seine Kommentare einstreuenden Mozart sowohl zum geläufigen Teil des Ripieno wird, als auch zum sprechenden Continuo; so etwa begleitet der Hammerflügel bei Jacobs einen Dialog Bassa/Konstanze stimmig mit einigen Takten der c-moll Fantasie, er wirkt in der Dramatik der Leiter-Szene dann allerdings auch mal eher leicht überflüssig.

 Konstanzes Arie „Martern aller Arten“, jene wg. ihrer vielen Koloraturen und anderer Längen bisher stets zu schluckende Kröte der Entführung, hat bei Jacobs so viel Tempo und dynamische Kontraste, ihre Concertini sind so spannungsvoll eingebunden, Teile des Bassa-Dialogs konzertant über die Arie verteilt, was dito den Zeiteindruck verkürzt, und Robin Johannsen singt in der oft abnormen Höhe, die ihr Mozart abverlangt, derart sicher und sauber – dass die Arie glatt von der Marter zum Genuss wird. Der seinem Vater an Stimme und Textverständlichkeit vergleichbare Julian Prégardien hat leider nur die kleinere Rolle des Pedrillo. Er folgt allerdings wie alle anderen als Dialogsprecher einer Regie ohne Idee von den Absichten des Komponisten. Von den in Mozarts Musik entworfenen – und von Jacobs durchweg erfassten – Charakteren findet sich in den Dialogen nur ein alberner Abklatsch.  

René Jacobs

Nichtsdestoweniger ist das Wiederaufmachen fast aller Dialog-Striche aus 230 Jahren Entführungs-Tradition ein Plus: So wird klar, Mozart hat in seinen Opern nicht erst ab Figaro die aktuelle Politik kommentiert. Allein in der Wahl der Sprache – der aufgeklärte Despot Joseph II. hatte den allerdings längst überzeugten Mozart zum Deutschen gedrängt – lag ein Affront gegen den in der Oper ans Italienische und Französische gewohnten Adel. Keine sechs Jahre nach der Entführungs-Premiere begann 1788 der zur Zeit der Uraufführung bereits in der Luft liegende Türkenkrieg. Vertreter des Humanen, der Toleranz und Gesittung in der Entführung ist gleichwohl der muslimische Bassa Selim (er war in seinem früheren Leben Christ und Spanier). Die jungen Herrschaften aus Europa dagegen spielen samt Dienerschaft von Anfang bis Ende falsch; selbstherrlich stoßen sie eine chauvinistische Beleidigung nach der anderen aus. Vor allem der kindlich offene und heftige, pflichttreue und herzensgute Haremswächter Osmin fällt in seiner Gutgläubigkeit der christlichen Durchtriebenheit zum Opfer. Der Bassa aber, der durch den Vater seines europäischen Gefangenen vor langer Zeit alles verlor, „rächt“ sich an den Zumutungen des Abendlands wie Nathan: durch großmütiges Verzeihen. Er lässt die Christen ziehen (dort zu leben, wo sie herkommen, ist Strafe genug).

Mozart und mit ihm Jacobs und seine Musiker feiern in der Entführung solch aufgeklärt weises Verhalten eines zum Islam Konvertierten mit dem burlesken Lärm türkischer Musik (im Wien dieser Jahre grassierte eine der Kleidung, dem Kaffee und der Tonkunst des prospektiven Feindes nacheifernde Türkenmode). Im vielsagenden Kontrast zu den glanzvoll leierigen Koloraturen der herrschenden Klasse durchzieht das kraftvolle Alla turca die zu seinen Lebzeiten erfolgreichste aller Opern Mozarts wie ein frischer roter Faden.  Junge Welt, Oktober 2015

Mozart: Die Entführung aus dem Serail K. 384 – Johannsen/Eriksmoen/Schmitt/Prégardien/Ivashchenko/Obonya/Akademie für Alte Musik/Jacobs (Harmonia Mundi France).  

CDREVIEWS

Rauch über der Wiege

Ich gehöre einer Generation an, die in der Zeit nach dem 8. Mai 1945 gezeugt wurde. In meinem Fall an einem sonnigen Nachmittag, den Wilden Kaiser im Blick, auf dem hölzernen Balkon eines Hauses im bayrischen Reit im Winkel. Das bedeutet, in den Mitgliedern meiner Familie berührte sich die jüngere Zeitgeschichte mit meinem Leben. Poetisch verkürzt: Über meine Wiege zog noch der kalte Rauch aus Richtung Auschwitz.

Wie viele Male dachte ich schon, ich hätte es hinter mir. Aber Texte, Filme, Radiosendungen, eine zufällige Bemerkung von irgend jemand hatten es immer wieder in Erinnerung gerufen und mich in unterschiedlicher Intensität immer wieder darauf gestoßen. Ich habe es zwar meist mehr oder minder bald hinter mir gelassen, wie etwas, das man, über Bord geworfen, noch eine Weile mit den Augen verfolgt, wie es in den Wellen zurückbleibt und irgendwann, weit weg, im Wasser versinkt. Aber es kam wieder.

Das lag natürlich daran, dass ich nicht allein auf der Welt bin. Ich erinnere besonders deutlich das erste Mal, ich war um die fünfzehn. Wir saßen wie jeden Abend in den Ferien bei den Großeltern in Bremen im dunklen Wohnzimmer. Der Fernseher die einzige Lichtquelle. Er stand irgendwie sehr weit oben, das Bild schwarzweiß. Es war der Film von Alain Resnais.  Nacht und Nebel. Ich kannte den Namen des französischen Regisseurs damals sowenig wie den des österreichischen Komponisten Hanns Eisler, von dem die Musik ist. Der Abend kommt mir nach sechzig Jahren vor, als wäre er gestern gewesen.

Es war das erste Mal, dass ich die Bilder sah. Den Haufen nackter lebloser Menschenleiber, die wie schlotternder Müll von einem Bulldozer in eine Grube geschoben wurden. Dazu anonyme Lebendskelette in zu großen gestreiften Lumpen, die fremd wie Wesen von einem anderen Stern in die Kamera blickten. Ich sah den elektrischen Stacheldraht. Die Baracken mit den dreistöckigen Bettgestellen, aus denen hohle Augen in viel zu großen Köpfen mit gestreiften Mützen heraussahen.

Vielleicht ist „verwundert“ das richtige Wort. Ich war ganz gewiss weder schockiert noch etwa empört. Ich war einfach verblüfft, ich wunderte mich, dass es so etwas gegeben hatte und dass es von dem Land, in dem ich geboren bin, ausgegangen war. Dass die Bilder mich fürs Leben erreicht haben, sagt mir der Umstand, dass ich, nach sechzig Jahren, mitten in der Nacht wach bin und daran denke. Jetzt schreibe ich darüber.

Ich habe viele Nächte und Tage an diesen Abend denken müssen. An ihm geschah etwas für mich Besonderes. Denn wie auf ein unhörbares Kommando erhoben sich mitten im Film in seltsamer Bestimmtheit die Großeltern plötzlich aus ihren Fernsehsesseln und verließen schweigend den Raum. Die zum Geschehen auf dem Bildschirm in extremem Kontrast stehende Helligkeit, die in diesem Moment durch die von ihnen geöffnete Tür aus dem Flur jäh ins Wohnzimmerdunkel brach, blendete mich und meinen Bruder fast schmerzhaft. Weg waren sie.

Am Morgen darauf am Frühstückstisch. Das Erstaunen der Großeltern kann nicht größer gewesen sein, als mein Erstaunen, ja fast mein Entsetzen darüber jetzt: Warum um alles in der Welt haben wir Kinder die Großeltern damals nicht unverzüglich gefragt, was sie zum Inhalt dieses Films zu sagen und ob sie nichts von alldem mitbekommen hätten?

Wir kamen nicht einmal auf den Gedanken, sie zu fragen. Denn in den fünfzehn Jahren, die an diesem Morgen seit der Befreiung vom Alptraum des deutschen Faschismus vergangen waren, wurde in der Bundesrepublik Deutschland über die durch Deutsche verübten Weltverbrechen eisern geschwiegen. Entgegen der international verbreiteten Ansicht, die Bundesdeutschen hätten ihre Geschichte mustergültig aufgearbeitet, hatten die Erwachsenen meiner Jugend, konfrontiert mit ihrer Geschichte, sich uns Kindern gegenüber in diesen fünfzehn Jahren wortlos davongeschlichen, die komplette Öffentlichkeit, in der wir aufwuchsen, verhielt sich so.

Wir gingen damals am Frühstückstisch problemlos zur Tagesordnung über, weil es den Propagandisten der postfaschistischen BRD in den bis dahin verstrichenen fünfzehn Jahren glänzend gelungen war, uns Nachgeborenen und der internationalen Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, Auschwitz wäre die Tat „der Nazis“ gewesen, eine seltsame Horde, die während der Weimarer Republik irgendwie über die armen Deutschen gekommen waren.

Es war töricht und zugleich folgerichtig und selbstverständlich, dass diese harmlosen Großeltern, mit denen wir fröhlich Mensch-Ärgere-Dich-nicht, Monopoly oder Skat spielten, Ostereier suchten und an Sylvester Karpfen aßen und Blei gossen, für uns nur Unbeteiligte sein konnten. Denn die Nazis, das waren ja gleichsam Außerirdische gewesen (wir dachten damals selbstredend: „gewesen“). Was konnten die Erwachsenen mit den Raub- und Mordzügen dieser kurzgescheitelten, gestiefelten, mit rotgegründeten Hakenkreuzen und schwarzsilbernen Totenköpfen bedeckten Monster zu tun gehabt haben? Nichts. Der Großvater hatte dem Land treu als Offizier der Reichwehr, später der Wehrmacht gedient, hatte dabei den rechten Arm „verloren“. Die Großmutter, eine Fabrikantentochter der sächsischen Seifensieder-Industrie aus dem späteren Karl-Marx-Stadt, sorgte fürs Gesellschaftliche, stellte das Essen auf den Tisch, kochte Kaffee, die Kekse daneben, sie hielt die Konversation am Laufen.

Der diskrete Charme der Bourgeoisie hatte für mich vertraute und geliebte Gesichter. Bunuels Filmtitel fühlte sich in den 1970er Jahren, als wir, zu neuen Ufern aufbrechend, den Film im Kino sahen, schon wie ein Rückblick an, ein erstes Resümee. Das war es also, wozu ein distanziertes Verhältnis zu bekommen wir im Begriff standen.

Der Charme hatte Gründe für seine Diskretion; nicht grundlos leugnet das Bürgertum bis heute hartnäckig jede Geschichtlichkeit menschlichen Wesens und Treibens. Ich erlebte diesen Charme und alles, was Bunuel mit ihm charmant umschrieb, als Teil und Betroffener der Wirklichkeit dieser Klasse. Wenn ich es recht erinnere, widmet sich Bunuel vornehmlich den seltsamen Konventionen des Bürgertums. Dinge wie Geld und Eigentum kommen nicht zentral vor. Dieser „Charme der Bourgeoisie“, den ich in den Nachkriegsjahren in Elternhaus, Schule und Öffentlichkeit erlebte, sorgte dann mit dialektischer List dafür, dass ich, als ich erstmals per Zufall las, dass „die Bourgeoisie dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt“ habe, sofort anbiss. Ich wusste ja schon viel zu gut, was da gemeint war.

Die Großmutter und ich 1949

Im Großelternhaus ging es, zumindest äußerlich, gesittet und wohlhabend zu. Der Großvater verdiente gut, er arbeitete, so hieß es, in der Personalabteilung der Flugzeugwerke „Weserflug“ in Vegesack. Der Lebensstandard gehoben mittelständisch. Anders bei uns zu Haus. Mein Bruder und ich lebten, damals eine Seltenheit, beim von unserer Mutter getrennten Vater. Alles in beiden Familien, deren Teil ich war, hatte sich getrennt. An Weihnachten bestückten zu unserer größten Freude neben den Eltern vier Großelternteile den Gabentisch. Mein Vater war der Erstgeborene eines schlesischen Kalk-, Dolomit- und Marmorfabrikanten, der in erster Ehe mit der nachmaligen Bremer Großmutter verheiratet war. Unser Vater mit den zwei Söhnen lebte, ein Dreimännerhaus, in einer kleinen Zweieinhalb-Zimmerwohnung am Rand von Eimsbüttel. Unterer Mittelstand. Mein Vater fuhr mit seinem grauen kleinen VW als Großhandelsvertreter durch die Provinz. Es ging uns gut. Aber er hat den steilen Absturz vom Kronprinzen eines, sein schlesisches Dorf feudal ausbeutenden Fabrikherren zum gehobenen Klinkenputzer im Dienst eines schwedischen Büromaschinenkonzerns nie verwunden. Ein Feierabendalkoholiker. Das Liebenswerteste an ihm war, was ihm zugleich in seiner Klasse das Genick brach: Er war zu schwach für die Wölfe. Wir als seine Kinder waren den Schattenseiten seiner Schwäche ausgeliefert. Er war der Sohn der Bremer Großmutter, die mir aus ihrer Zeit als schlesische Fabrikantengattin vom spätfeudalen Treiben auf den Rittergütern der Umgebung erzählt hat, auf die übers Wochenende auch die Fabrikanten geladen waren. Sie ließ mich den Zwiespalt spüren, in dem sie lebte. Sie hatte, wie sie mir einmal erzählte, als Jugendliche abends heimlich unter der Bettdecke Fontanes „Effi Briest“ verschlungen. Die Momente ihrer Wahrheit, deren ich als ihr Lieblingsenkel in unvergesslich intimen Momenten teilhaftig wurde, standen in krassem Kontrast zu ihrem geradezu kadavergehorsamen Schulterschluss mit dem Großvater, als ich erste Zweifel an der gelebten großelterlichen Ethik anmeldete. Ich hätte gern gewusst, wie die Großmutter sich den Entdeckungen gegenüber verhalten hätte, die ich Jahrzehnte nach ihrem Tod gemacht habe.

Es begann damit, das mir irgendwann  klar wurde, der großväterliche Arbeitsplatz „Weserflug“ war damals der Ort, an dem die durch ihren Einkäufer Franz-Joseph Strauß berüchtigten US-amerikanischen „Starfighter“-Abfangjäger für die Bundeswehr „umgerüstet“ wurden, im Klartext: Sie wurden atomwaffenfähig gemacht und fielen, weil mithin viel zu ungelenk, in mörderischer Zahl vom Himmel. Hinter vorgehaltener Hand hatte man mir in der Familie bereits seine tatsächliche Funktion in der Personalabteilung des Flugzeugwerks zugetuschelt: Er prüfte die einlaufenden Personalakten neu zu Beschäftigender, hieß: Er hielt die Weserflug „kommunistenrein“. Für so etwas bundesweit zuständig war damals Reinhard Gehlen, eine der vielen braunen Eminenzen der Adenauerzeit. Als bester Freund des mächtigen CIA-Chefs Allan Dulles war dieser oberste Kommunisten-Jäger unter den Hitlergenerälen zum Schöpfer des Bundesnachrichtendienstes geworden. Der Dienst kümmerte sich offenbar nicht nur um die „demokratische“ Lupenreinheit „freiheitlicher“ Großbetriebe. Er sorgte zugleich wie aus einem Guss für die flächendeckende Existenzsicherung höherer Nazi-Offiziere. Mein Großvater – er arbeitete nur in den ausgesucht lukrativen Jobs zuverlässiger Agenten der alten Zeit in einer gefaket neuen – hatte nach 1945 komplett ausgesorgt.

Der Großvater

Der Kontakt zu ihm brach ab, nachdem meine Großmutter an Gallenkrebs gestorben war. Unsere Wege hatten sich ohnehin längst getrennt, denn zu diesem Zeitpunkt war ich, was dem immer noch bestens vernetzten Ex-Agenten sicher schon bekannt war, seit 1972 Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei

Die Sache ging mir nicht aus dem Sinn. Im Internet fand ich in den 2000er Jahren in einer Kartei ehemaliger Wehrmachtsoffiziere den Namen des Großvaters und die Beschreibung seiner Laufbahn. Er hatte, nachdem ihm Mutter und Vater viel zu früh verstorben waren, eine neue „Familie“ gefunden, die Freikorps. Noch nicht zwanzig, zog er mit den weißen Marodeuren gegen die Revolution zu Felde und lernte, Arbeiteraufstände niederzuschlagen. In der Reichswehr war er schnell Hauptmann, in der Wehrmacht im Afrikafeldzug Major im Generalstab Erwin Rommels. Auf dem Rückzug aus Afrika wurde ihm 1942 in Tobruk der rechte Arm weggeschossen, er wurde ausgeflogen. Ausgeheilt rückte der Einarmige ins Heerespersonalamt ein, wo er laut Karteieintrag am 15. 10. 1944 Chef der Abteilung P7 wurde. In Jürgen Försters „Die Wehrmacht im NS-Staat“ stieß ich in einer Fußnote auf Genaueres. Dort fand sich die doch recht erstaunliche Tatsache, dass die „erste Sofortmaßnahme“ meines Großvaters als P7-Abteilungschef darin bestand, dem SS-Führer Heinrich Himmler einen „Personalsachbearbeiter als persönlichen Ordonnanzoffizier“ zuzuteilen. Mir stockte, selbst noch 2014, als ich diese Entdeckung machte, der Atem.

Dieser Mensch hatte sich uns gegenüber als stets zu Scherzen aufgelegter Biedermann aufgeführt. Was es mit der „Nationalzeitung“ auf sich hatte, deren Abonnent er war, wusste ich damals noch nicht. Auch die Familienreise ins niederländische Apeldoorn, zum Schloss des dort seine Exil-Millionen wegliternden letzten deutschen Kaisers, erschien mir unverdächtig.  Die Bundeswehr beförderte den Einarmigen – bei der Nazi-Wehrmacht war er als Oberstleutnant ausgeschieden – zum Oberst der Reserve. Für die jungen Leutnants der bei Bremen stationierten Panzertruppen, die sich bei uns die Klinke in die Hand gaben, war er Held, Ratgeber und Vorbild.

Eine launige Großvater-Erinnerung, die mir einfällt, betrifft eine seiner Redewendungen beim Skat: War sein Blatt so gut, dass er zum entsprechenden Zeitpunkt mit allen Karten obenauf, also aller Stiche sicher war und damit der Gewinner, legte er seine Karten auf den Tisch und sagte in trockenem Freikorps-Deutsch: „Die Gewehre aufs Rathaus!“ Wir haben ihn auch nie nach der Herkunft dieser Formulierung gefragt.

Was waren das für Menschen, unter denen ich aufwuchs? In der Rückschau: Gespenster. Denn sie führten ein Doppelleben. Auch vor sich selbst. Neben dem von Bunuel gestalteten diskreten Charme hat Hannah Arendt in der Beobachtung des Jerusalemer Eichmann-Prozesses ein weiteres Charakteristikum der Bourgeoisie ans Licht gebracht, das ich in meiner Familie life erlebte: die Banalität des Bösen.

Mein Großvater liebte Eisbein mit Erbsenpüree. Er machte jährlich die traditionellen Kohl- und Pinkelfahrten der Bremer mit; musikalisch etwas einseitig, sammelte er internationale Marschmusikschallpatten; die Kultur war für ihn eher Damensache. Und dann kam in den 1960er Jahren einmal eine Postkarte aus Südafrika. Auf den Erzfrachtern der Firma Krupp konnten Firmenangehörige – der Großvater arbeitete damals für Krupp – kostenlos in aller Welt herumschippern, den Großvater zog es ans Kap der guten Hoffnung. Auf diese Postkarte hatte der Großvater in seiner krakelig steilen Neulinkshänder-Schrift mit Kugelschreiber die Worte gesetzt: „Hier ist die Welt noch in Ordnung“. Wörtlich. Es hat sich mir, als ich lernte, wer Nelson Mandela war, eingebrannt. Konnte er davon ausgehen, dass wir nicht wussten, was in Südafrika zu der Zeit vorging? Er konnte. „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ sagt Goya. Ich wuchs unter Ungeheuern auf, ich frühstückte und würfelte mit Monstern.

Wenn die 68er, zu denen ich mich freudig zähle, bis heute angefeindet und schlechtgeredet werden soweit sie nicht Außenminister geworden sind, dann im Kern dafür, dass sie den Schleier über den Menschheitsverbrechen des Hitlerfaschismus weggerissen und Frischluft hereingelassen haben in den erstickenden Mief der Bundesrepublik zur Zeit des Adenauerregimes. Zur „Toleranz und Offenheit“, mit der sich aggressivste Teile des bundesdeutschen Bürgertums noch heute vor der Welt schmücken, haben unter Polizeiknüppeln – für Benno Ohnesorg auch unter Polizeikugeln – mit unserem spontanen Überraschungsangriff aufs Schweigen wir 68er sie geradezu zwingen müssen. Dann erkannten sie, dass sich auch daran, wenn man es richtig einfädelte, gut verdienen ließ, die Jugendkultur entstand.

Der Großvater hatte, was mir erst später klar wurde, auch während meiner Bundeswehrzeit stets die Hand über mir. Als Soldat verhielt ich mich erstmals nicht wirklich familiengerecht. Ich war ein etwas schläfriger Wachsoldat, ich konnte den Mund nicht halten. Einmal fuhr ich sogar einen Kameraden, der es nicht mehr aushielt, eines so wolken- wie dienstfreien sonntags mit meinem DKW Junior nach Holland, von wo er nach Israel zu gehen gedachte. Beihilfe zur Fahnenflucht. Der MAD verhörte mich. Mit Sicherheit haben sie gewusst, wo ich war. Aber mir geschah nichts. Nur als wir nach drei Monaten von der Grund- zur Vollausbildung übergingen, kam ich zur Strafe für so viel Unbotmäßigkeit nicht in den für gymnasiale Zeitsoldaten obligatorischen Kompanie-Zug für die Reserveoffiziers-Anwärter (ich hatte mich familienwunschgemäß für zwei Jahre verpflichtet). Ich kam in einen der ausschließlich aus Wehrpflichtigen bestehenden drei „Kampfzüge“.

Da ich in der Bundeswehr bei den Pionieren war, geschah damit etwas für mein weiteres Leben sehr Wichtiges: ganz gegen die Absichten derer, die mich „zum Bund“ geschickt hatten, kam ich als Bürgersohn erstmals in meinem Leben auf diese Weise in engen Kontakt mit der Arbeiterklasse. Denn die Kampfzüge bestanden aus Handwerkern, Hafenarbeitern, Maschinenschlossern. Ihr Ethos, sie hätten das Wort nicht gekannt, faszinierte mich. Ich lernte von ihnen und sie – es bedeutete mir unendlich viel – mochten mich, sie nahmen mir den ewig schwatzenden Spinner, der ich war, nicht krumm. Auf diese Weise war ich noch nie gemocht worden. Ich lernte ein für mich neues Gemeinschaftsgefühl kennen, ich wurde Kompaniesprecher, schrieb für die Kameraden Dienstbeschwerden und trank mit ihnen Aquavit bis fast zum Dienstbeginn.

Am Ende der drei Monate Vollausbildung in der Kampfkompanie wurde ich zum Kompaniechef befohlen. Mit „hartem Hut“. Der Stahlhelm auf dem Kopf, wenn man zum Chef musste, bedeutete für uns damals die Alternative: Beförderung oder Knast. Aber es war etwas anderes. Wieder hatte mit Sicherheit mein Großvater die Hand im Spiel. Ich hätte die Flinte zu früh ins Korn geworfen, sagte der Kompaniechef. Ich wäre zwar undiszipliniert gewesen, aber auch einsatzfreudig und kurzum – ich solle meine Sachen packen und in den Block der Reserveoffiziersanwärter umziehen, am nächsten Tag ginge es ab nach München zum Fahnenjunker-Lehrgang, Schwamm drüber, wir sind ja gar nicht so. Er lächelte gnädig. Ich weiß bis heute nicht, woher ich die Veranlassung und die Sicherheit nahm, in diesem Moment genau zu wissen, was ich ihm antworten wollte. Dort, wo ich jetzt bin, sagte ich, gefällt es mir gut. Er wurde bleich. Es war mein erster Schritt vom Wege.

Das hätte der Großvater nicht gedacht! Er war machtlos. Ich hatte eine Weile die Gewohnheit, an passender Stelle zu verkünden, das sei das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe – meine Klasse zu verraten. Aber außer, dass das ein wenig dramatisch und pathetisch klingt, ist es vielleicht auch nicht ganz richtig. Ich habe meine Klasse nicht verraten. Ich habe im Bemühen, dabei zu helfen, die großen Ideen des Bürgertums endlich zu verwirklichen, nur die Reihen gewechselt. Ich schloss mich jenen an, die heute global und durchaus machtvoll und hochproduktiv für das eintreten, was die Bourgeoisie, als sie noch revolutionär war, Liberté, Ègalité, Fraternité nannte. Das ist es. Und was meinen Großvater angeht: Ihn ereilte die Höchststrafe. Sein Enkel ist seit 49 Jahren Kommunist – und Linkshänder seit Geburt. Junge Welt, Mai 2021

Printexte

Beethoven.Sinfonie Nr. 7.Von der Goltz.FBO

Schon wieder Beethoven. Es ist aber auch. Aber was kann einer, der CDs bespricht, in Zeiten, da immer noch eine neue, umwerfende Beethoven-Aufnahme auf den Markt drängt, anders tun, als reagieren.

Nun also die Siebte. Wieder beim Lable Harmonia Mundi France. Wieder besetzt mit dem fabelhaften Freiburger Barockorchester (FBO), diesmal indes weder unter Stabführung des spanischen Dirigenten Pablo Heras-Casado noch des Belgiers René Jacobs, sondern unter Leitung des ensembleeigenen Konzertmeisters Gottfried van der Goltz. Der leitete das FBO schon vor zwanzig Jahren vom Pult aus. Aber eben „nur“ Barock. Dann zögernd auch Haydn, Mozart. Er spielt NB die Geige so exzellent, dass eine maßstäbliche Aufnahme der Partiten und Sonaten Bachs aus seinen Händen vorliegt. Bei Haydn und Mozart traute er sich bislang eher nicht an die großen Brocken. Seine Aufnahme der ganz frühen Mozartsinfonien oder die Sinfonie Concertante der Pariser Jahre gehören für mich gleichwohl zum Besten, was ich von diesem Repertoire an Reproduktionen kenne.

Das größte Problem dieses Freiburger Ausnahmemusikers scheint zu sein, wenn ich das sagen darf, dass er sich sein beeindruckendes Niveau irgendwie nicht glaubt. Nun ist das vielleicht viel schwieriger, als sich das einer wie ich vorstellt. Von der Goltz macht seinen Job aber auch zu gut. Er verwandelt mit dem FBO das Wort „Klangkörper“ ins Erlebnis eines lebendigen Organismus aus Klangmaterie, Klangfarben und Bewegung. Der Klangkörper kann wunderbar atmen mit ihm. Atmen bei Beethoven?  Im Kopfsatz der Siebten entfaltet sich, bevor mehr und mehr der Rhythmus als das Bestimmende hervortritt, eine Haltung atmenden Umblicks. Von Tuttischlägen angestoßen, blicken nacheinander Oboe, Klarinette und Horn in langen Kantilenen über die Welt. Dann steigen von unten crescendierend in den von Beethoven offenbar geliebten Staccato-Tonleitern die Streicher herauf und bringen eine rhythmisch charakteristische Dynamik ins Spiel, die sich zu großer Kraft aufbaut. Atem und Kantilenen mischen sich immer wieder ein, sie sind die Antithese zur großen Kraft. Wenn die extrem lange und eigenständige Einleitung vorüber ist, leitet Beethoven faszinierend vertrackt ins schnelle Tempo eines, den ganzen Satz dominierenden, geradezu monorhythmischen Fanals über. Keine, wie Wagner meinte, „Apotheose des Tanzes“, ein eher – vom FBO so inszeniert – tänzerisches Stürmen auf etwas hin, so gewaltig, dass man mit Majakowski in diesem Fall über Beethoven sagen möchte: Er rührte in der Siebten an den Schlaf der Welt, als wollte er eine träge im Jetzt verharrende Mitwelt mitreißen ins Offene.

Auch das scharf skandierte Dahineilen stellen die Freiburger Musiker, inspiriert von von der Goltz, mehr feinnervig als, wie so oft, pompös dar. Die Tuttischläge der Streicher kommen wie Paukenschläge (und oft zugleich mit Pauken und Trompeten), exakt und druckvoll elastisch. Der klingende Körper des FBO dabei stets durchhörbar.

Die Siebte war bislang in der Reihe der „ungeraden“ Sinfonien Beethovens, seiner Weltanschauungs-Sinfonien, als die unspektakulärste angesehen. Auf eine feinsinnig mitreißende Weise machen Gottfried von der Goltz und die Seinen in dieser Neuaufnahme klar, dass auch die Siebte in die Reihe gehört. Der Katalog an Siebte-Aufnahmen ist riesig. Eins darf sich freuen auf alles, dem sich von der Goltz an größeren Brocken künftig noch zuwenden wird. Junge Welt, April 2021

Beethoven: Sinfonie A Nr. 7 op. 92; Die Geschöpfe des Prometheus op. 43 – Freiburger Barockorchester / Gottfried von der Goltz (Hamrmonia Mundi France)

CDREVIEWS

Erich die Erste.Erinnerung an Erich Fried.

A.R. zugeeignet

Es ist nicht viel, was ich über Erich Fried erzählen kann. Die Begegnung war kurz, eine Episode am Rand meines ersten Londonbesuchs. Sie fand, Moment, im kommenden September vor 53 Jahren, am Ende der Semesterferien 1968 statt. Ich hatte zwei Monate Arbeit als kraftfahrender Postbesorger und Verteiler bei der Redaktion der Zeit hinter mir (ein schlanker Helmuth Karasek, der kurz vom Schreibtisch aufsteht und blicklos den Poststapel entgegennimmt). Von dem, was ich damals dort in einem Monat verdiente, konnte ich drei Monate leben. Meine Freundin hatte vier Wochen zuvor einen Aupair-Job im vornehmen Londoner Stadtteil Hampstead angetreten, vier Wochen, ich musste ganz schnell zu Rebecca.

Ich fuhr mit dem Nachtzug gleich nach der Arbeit am letzten Tag. Morgens im Frühlicht in Calais. Der Seewind in der Nase und auf der Haut, ich war unausgeschlafen, aber offen für all das Neue vor mir. Mein erster Besuch auf der Insel. Unvergesslich, als ich aus langem Liegestuhlschlaf in der Morgensonne auf dem Achterdeck erwachte, der Anblick der Kreidefelsen mit einem schwarz-weiß gestreiften Leuchtturm oben überm gelben Dünengras. Das Wasser hatte ungelogen exakt die Farbe englischen Tees mit Milch. Von Dover nach Waterloo Station mit dem Zug durch ein uraltes Ladykiller-England, rußig rot und randvoll mit Tradition.

In meiner Reisetasche ein Zettel mit Frieds Telefonnummer. Während der Ferienarbeit hatte ich auf einer Lesung in Hamburg Ada Stons kennengelernt, eine junge Buchhändlerin, die als Lyrikerin hervorgetreten war und sich Erich Frieds kollegialer Sympathie erfreute. Der Dichter, bis dahin mehr als Übersetzer Shakespeares und Dylan Thomas‘ bekannt, wirkte damals mit seinem Gedichtband „und Vietnam und“ mitten hinein in die auf ihrem Höhepunkt befindliche Studentenrevolte; er war, wenn schon knapp keine Autorität, dabei, ein Promi unter den Antiautoritären zu werden. Die ganz unpolitische Ada hatte mir begeistert von ihm erzählt, ich solle ihn unbedingt besuchen, er würde sich bestimmt freuen, schönen Gruß von ihr.

Was ich auf diese Weise damals noch eben mitbekam, war der letzte Abendschein des alten Zentrums eines auf sehr stolze, stilvolle, geschichtsgesättigte Weise heruntergekommenen Empire. Die Stadt begann damals mit den ganz jungen Stones, den Beatles und Kinks, mit Miniröcken und Antonionis „Blow up“ zum Swingin‘ London zu mutieren. Mittendrin im Innenstadtgewimmel der roten Doppelstock-Busse und ehrwürdigen Londoner Taxen stieß ich auf eines dieser archetypischen Monumente britischer Geschichte, eine rote Telefonzelle. Ich holte den Zettel heraus, wählte die Nummer. Eine Frauenstimme, dann der Hausherr. Vieles von diesem Besuch habe ich vergessen, die Adresse, die er mir nannte, nicht: 22 Dartmouth Road.

Ich kannte solche typisch britischen Middle-Class Straßen aus hundert England-Krimis mit und ohne Alec Guiness. Häuschen an Häuschen, etwa alle fünfzehn Meter eine anders geformte Gartenpforte in den niedrigen Mäuerchen vor schmalen Gärten. Erich, ich darf ihn jetzt beim Vornamen nennen, denn man duzte sich damals blind, empfing mich in der Haustür. Im Innern gemütliche Enge. Erichs Arbeitszimmer hatte ein großes Fenster nach vorn hinaus. Wir setzten uns links an der Seitenwand vor eine kleine Schreibtischplatte voller Arbeitsutensilien. Ich wurde seiner Frau Cathrin vorgestellt, die, ein Tablett mit Teekanne und Tassen vor dem Bauch, freundlich hereinkam.

Hinweg über fünf Jahrzehnte erinnere ich Erichs Gestalt, ein gut in den gedrungenen Körper integrierter Bauch, weite Jeans, weiter Schmuddelpullover. Ich weiß bis heute nicht, was mich mehr beeindruckte: Das mähnenartig und, zum Mittelscheitel neigend, über der Stirn aufragende, strähnig schwarze Haar. Oder die, mir hinter dunkel gerahmten, dicken Brillengläsern sehr groß vorkommenden Augen, sprühend von Lebenslust und Witz. Vielleicht aber auch war sein großer, zum Lachen und Reden stets geneigter Mund mit den markanten weißen, von kleinen Lücken lustig skandierten Zähnen die Hauptsache, ich weiß es nicht mehr. Ein wienerisch getönter Bariton strömte aus diesem Mund. Der kaum fünfzig Jahre junge Erich Fried – wie ein intellektueller Bacchant kam er mir vor, ein, wie sich zeigen sollte, charmant ernsthafter Agitator.

Er wollte genau wissen, was wir in Tübingen, wo ich damals studierte, angestellt und erreicht hatten. Ich konnte stolz immerhin von einer Rektorats-Besetzung berichten, an der ich, ein damals frisch von der Bundeswehr gekommener Studienanfänger, teilgenommen hatte. Im von Antiquitäten verschönten Arbeitszimmer eines netten älteren Herrn erdreistete sich im Mai 1968 ein neben mir auf einem Biedermeier-Sofa sitzender Kommilitone, den Rektor der Universität am Nach-der-Polizei-Telefonieren zu hindern – wir zwei Studenten hatten die schwarze Bakelit-Gabel des rektoralen Fernsprechers sichtlich in Griffweite –, wir wollten keine Polizei, wir wollten diskutieren

Erich seinerseits hatte mir während zweier Kannen Tee Einiges zu sagen, schade, dass ich viel nicht mehr weiß davon. Natürlich war er, wie wir alle, begeistert von Rudi Dutschke. Der erschien uns in der lähmenden Kontenance der Adenauerzeit wie der rhetorisch geladene Ausbruch eines Vulkans. Ich glaube, ich habe Worte wie „Revolution“, „unterdrückte Klassen“ oder „Ausbeutung“, angewendet auf die Gegenwart meines Geburtslands, erstmals aus Dutschkes stets wild erregtem Mund gehört, er war der Geist aus der Flasche. Erich, Vater von sechs Kindern, erwies sich dem jungen Besucher aus Hamburg, einem wahren Greenhorn unter den Roten gegenüber als geborene Vaterfigur. Er warb für die Sache der Palästinenser, die ich bis dato nur aus der Bibel kannte. Heute wäre der vor den Hitlerfaschisten ins Londoner Exil vertriebene Wiener Jude Erich Fried, so, wie er mir die Sache der Palästinenser erklärte, ein von Hassbotschaften verfolgter „Antisemit“. Wir empörten uns gemeinsam über Vietnam. Auf die im toten Kennedy soeben noch einmal frisch geheiligten USA schimpfen? Gehörte damals zu den vielen ungewohnt lustvollen Novitäten eines sich plötzlich auch in meinem Leben explosionsartig ausbreitenden politischen Bewusstseins. Schließlich, unvergesslich, wie er mir ein dunkles, großformatiges Buch in den Schoß legte. Seine Augen blitzten erwartungsvoll, schau’s dir an! Schwarzweiße Fotomontagen. Hitler in verschiedenen Posen, der wahre Sinn des Hitlergrußes, ein sich riesenhaft vor dem zwergenhaften Ankläger Göring aufrichtender Georgi Dimitrov, eine kraftvoll beleuchtete Arbeiterfaust. John Heartfield? Nie gehört. Er freute sich mit mir über die Begeisterung, in die mich diese Arbeiten versetzten.

Mehr ist es leider nicht. Ich bin Erich danach noch einmal zum Frühstück bei Ada in Hamburg begegnet, dann nur noch in Talkshows und Kulturberichten auf dem Bildschirm. Er vertrat dort, soweit ich es mitbekam, standhaft bis zuletzt, die damals in den Medien durchaus noch nicht seltene Position eines linken Freigeists. Seine Übersetzung von Dylan Thomas‘ „Under Milkwood“ hat mir sehr gefallen, sein Band mit Liebesgedichten nicht minder. Junge Welt, April 2021

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Alfred Brendel und Peter Gülke tauschen sich aus.

Wenn zwei Berufene sich zusammen auf eine Bühne setzen und vor Publikum miteinander über Themen wie die Interpretation von Musik und zwei ihrer größten Komponisten reden, darf eins sich freuen, wenn die Gespräche – sie gehen pandemiehalber am Ende in einen Briefwechsel über – jetzt als Buch vorliegen: „Die Kunst des Interpretierens. Gespräche über Beethoven und Schubert“.

Alfred Brendel, am 5. Januar diesen Jahres 90 geworden, bis zu seinem Rückzug ins Privatleben weltweit gefeierter Pianist, sowie Peter Gülke, 86, erfolgreicher Dirigent, zugleich der philosophisch inspirierte Dichter unter den Musikwissenschaftlern, trafen sich, von der Schubertiade eingeladen, mehrmals in Schwarzenberg und sprachen miteinander.

Brendel (AB) macht mit einem Vortrag über Schuberts letzte drei Sonaten den Anfang. Das musste wohl schon aus Gründen ausgewogener Relationen so sein. Denn zusätzlich zu beider hauptberuflicher Tätigkeit als ausübende Musiker ist Gülke (PG) auch im Nachdenken, Schreiben und Reden über Musik im Hauptberuf tätig, seine Beiträge sind darum umfänglicher; Brendel publiziert seit seinem Abschied von der Bühne nicht mehr so ganz nebenberuflich, mit allerdings beachtlich anhaltender Resonanz.

Die Kapitelüberschriften am Beginn verleiten zu dem Irrtum, da würden Komplexe wie der Lied- und der Opernkomponist Schubert, Musik und Humor, Wiederholungen, Goethe und das Lied oder Schuberts Opposition gegen Beethoven, Punkt für Punkt bündig abgehandelt. Aber die Protagonisten bewegen sich so frei flottierend durch die Themenfelder, dass die Überschriften sich als Zwischentitel erweisen. Einiges taucht wiederholt auf. Beim Thema Liedinterpretation steuert AB in einem seiner Briefe aus London in der letzten Runde zu diesem Gegenstand sogar eine längere Liste von „Ratschlägen für Lied-Pianisten“ bei; die Frage, auf die er dabei kommt – warum gibt es „eigentlich kaum Lied-Pianistinnen“? – überrascht durch ihre Berechtigung.

Alfred Brendel

Mithilfe Schumanns vielzitierter Mäkelei an den „himmlischen Längen“ in Schuberts Kompositionen kommt AB auf einen in Schuberts Musik zentralen Punkt: Die selbst im Vergleich mit Beethoven oft extreme Dauer der Sätze seiner Sinfonien, Sonaten, seiner Kammermusik. Sie ist, per Uhr erfassbar, objektiv vorhanden. Aber schon das von vielen Zuhörenden bis heute beklagte Fehlen der gewohnten diskursiven Verläufe der Musik, die endlos erscheinenden Wiederholungen des gefühlt immer Gleichen, strapazieren die Aufmerksamkeit, lassen das Stück subjektiv länger erscheinen; Schubert verlangt offensichtlich nach einem anderen Hören, eines, das der Andersartigkeit solcher Musik gerecht wird und am Ende mit Glück vielleicht sogar in ihren Bann gerät. AB kennt Gegenbeispiele: in den „Moments musicaux“ oder der a-Moll Sonate D 784 kann Schubert „beispielhaft knapp sein“, sagt er und resümiert – „Schubert braucht Raum, um sich frei und sinnvoll bewegen zu können.“

Wozu das? Bei einem der Treffen hörte man sich auf der Bühne in Schwarzenberg gemeinsam die Aufnahmen des von drei Pianisten – Brendel dabei – vorgetragenen Beginns von Schuberts B-Dur Sonate an. Eine Musik, die nicht – wie dagegen meist bei Beethoven – zwei, sondern drei Themen hat und diese in einer Weise behandelt, für die das im wienerklassischen Sonatenhauptsatz gebräuchliche Wort „Durchführung“ eher unbrauchbar ist; Schubert geht mit seinen Themen deutlich anders um als die Wiener Klassiker. Ihn interessieren weniger die horizontalen Linien der Stimmen, ihre sich samt Tonartenmodulation in verwickelter Progression logisch auf ein Ziel hinbewegende Gedankendynamik – er sucht das freie Feld, den licht- und dämmerdurchfluteten Welten- und Himmelsraum von Melodien überspannter Harmonik. „Klassische Formen“, sagt AB, „stecken Grenzen ab. Der Raum, in dem Schubert sich bewegt, hat mit solchen Eingrenzungen nur mehr wenig zu tun. Mozarts Form ist ein ständiger Nachweis scheinbar zwang- und absichtsloser Vollendung. Bei Beethoven ist Form der Triumph der Ordnung über das Chaos, ein Triumph auch der Übereinstimmung mit dem, was ‚ausgedrückt‘ werden soll“. Schuberts Form aber ist „ein zu wahrendes Dekorum, ein ‚Flor der Ordnung‘ – wenn ich mein Lieblingswort von Novalis verwenden darf –, durch den das schönste Chaos schimmert, das man sich vorstellen kann.“  

Harmonien – in der Notenschrift sind sie die Vertikale – und Themen – sie sind die Horizontale – waren für Schubert, so PG, etwas fundamental anderes, als sie es für Haydn, Mozart und Beethoven waren: „Für Schubert und nicht nur für ihn, sind harmonische Räume Lebensräume, Themen bzw. Motive sind Lebewesen.“ AB fällt zum damit hergestellten Naturbezug – alles immer noch zum Thema: Schuberts Umgang mit dem Großvorbild Wiener Klassik – die moderne Naturwissenschaft ein. Für nicht wenige Naturwissenschaftler existiert Natur nicht nach einem geordneten Plan, strikt organisiert wie von einem Weltingenieur, sondern eher, „wie der Zellengenetiker Francois Jacob“ schreibt, „gesteuert, von einer Art ‘Bastler‘, der mit vorhandenen Komponenten operiert, so gut es geht.“ Schubert, folgert AB, könnte also in etwa so komponiert haben: „Er hält sich an das vorhandene Grundmaterial, das ihm meist schon der Beginn der Komposition in die Hand gibt, er ordnet, arrangiert, variiert, entwickelt oder kommentiert mithilfe von Spiel- und Arbeitshypothesen, die einen kleinen, aber wichtigen Freiraum offenlassen für die Würze des Zufalls, der Laune, des Laisser-faire.“

So lässt sich aus den Gesprächen ABs und PGs – allein im Erwägen dessen, was Schubert verglichen mit Beethoven nicht hatte und umgekehrt – viel über beide Komponisten erfahren. Gleichwohl ist Schubert, dieser unscheinbare Mensch mit dem Kraushaar und den kleinen runden Brillengläsern auf der Knollennase, der eigentliche Held dieses Buchs. Eins erfährt viel über seine drei letzten Sonaten, besonders über deren letzte in B-Dur. Im Hinblick auf Beethoven liegen Peter Gülke, Autor eines schwierig großartigen Standardwerks über Schubert, vorab zwei von dessen Spät- und Hauptwerke am Herzen, die große C-Dur Sinfonie und die As-Dur Messe aus dem letzten Lebensjahr; in ihnen stellt sich Schubert – voller Ehrfurcht und zugleich voller Ichstärke – der Größe seines Abgotts.

Zu betont diskret ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten kommt es bei Fragen wie der des Verhältnisses von „Leben und Werk“ – welche Verbindungen, wenn überhaupt, bestehen zwischen den Kompositionen und den persönlichen und historischen Umständen, in denen ihr Autor lebt? Für AB existieren zwischen Werk und Autor keine Schnittmengen, beide sind weder „kongruent noch kompatibel“, es handelt sich für ihn geradezu um „verschiedene Kategorien“. Man fragt sich an Stellen wie diesen, inwieweit die Positionen beider Gesprächspartner auch davon geprägt sind, dass der eine Schule und Hochschule in der Nachkriegszeit in Graz und Wien absolvierte, der andere in Weimar und Leipzig. Denn beim Thema „Werk versus Biografie“ kennt PG keine Unvereinbarkeiten. Ausweislich nicht zuletzt eines wunderschönen Hegel-Zitats auf Seite 142 erweist er sich als Dialektiker.

Den Beschreibern und Deutern keiner anderen Kunstgattung fällt es so schwer wie denen der Musik, sich ihrem Gegenstand und seiner „durch ihre ‘weltferne‘ Materialität begünstigte(n) Autonomie“ mit Hilfe des Worts zu nähern, so PG; keine ist dabei so sehr auf ein für Außenstehende weithin kryptisches „Fachchinesisch“ verwiesen. Mit dem Dichter Paul Valérie erinnert PG daran, dass dem veröffentlichten Werk „das Vorläufige und Nicht-Wiederholbare (…), das Augenblickliche und die Mischung von rein und unrein, Ordnung und Unordnung“ fehle. Insoweit sei die dem Urheber durch Veröffentlichung unerreichbar gewordene Arbeit – „das Werk“ – nach Valéry eine „Verfälschung“. Indes treiben in der Momenthaftigkeit einer Musik, in ihrem Schweben zwischen Ordnung und Chaos Urheber und Interpret ihr Wesen. „Die Person des Autors ist das Werk seiner Werke“, spitzt PG per Zitat aus den „Cahiers“ von Paul Celan diese Gedanken zu und fügt ihnen schelmisch ein launig aufgeklärtes Bonmot aus dem 18. Jahrhundert hinzu: „Jean Philippe Rameau sei so ausschließlich Musiker gewesen, dass, wenn er das Klavier zugeklappt habe, keiner mehr im Raum gewesen sei.“

Peter Gülke

Auch die mitunter komplizierte Dialektik von Kopf und Herz, von analytischem und empathischen Hören, ist Gegenstand der Erörterung. „Es macht Spaß“, sagt PG – und bricht dergestalt „eine Lanze für den ‚Musicus doctus‘! – über die Stücke, ihre Struktur und um sie herum Einiges zu wissen, es hilft auch dem emotionalen Verhältnis zu ihnen (…) Ich analysiere Musik doch nur, um sie noch schöner finden zu können, als ich sie sowieso schon finde.“ In der ausführlichen Diskussion des, neben der Großen Fuge op. 133, grundstürzenden Beethoven-Werks, der Hammerklaviersonate op. 106,  verbindet PG die normative Beschreibung seiner Arbeitsweise mit einer charmanten Verbeugung vor dem Pianisten: „Wie immer ich mich anstrenge, alle zu Gebote stehenden Instanzen des Begreifens bemühe, mich einzufühlen, zu analysieren und beides zusammenzubringen versuche – ich hole Sie nicht ein, der Beethoven op. 106 hundertmal oder noch öfter gespielt hat, beim Lesen der Noten virtuell in die Tasten greift, jeden Griff nachempfindet.“ Subjektive, nein besser: persönliche Einblicke in die unmittelbare Befindlichkeit und Empfindlichkeit dessen, der interpretierend in die Tasten greift und sich angesichts eines so oder anders gestimmten Publikums in diesem oder jenem Saal zu dieser oder einer früheren Zeit so oder so fühlt, gibt Alfred Brendel nun aber leider nicht.

Bei Beethovens Opus 106 kommen die Herren auf keinen gemeinsamen Nenner. Für PG in Weimar ist dieses Werk in seinen schroffen Klüften „ein Ungetüm von Sonate“; hätte Schubert sie hören können, mutmaßt PG, er wäre schockiert gewesen, er hätte womöglich Beethoven für jemanden gehalten, der sich in diesem Opus 106 „verstiegen habe“. Der andere, AB in London, nimmt solche Auslassungen „mit Vergnügen, wenn auch mit leichtem Entsetzen“ zur Kenntnis. Für ihn war Opus 106 weder technisch noch ästhetisch je ein Problem. Ihm gilt es als „Riesenwerk“, als „umfassendes Musikstück, nicht als halb Seelenmarter, halb Bravourstück, dessen Außensätze man mit zusammengebissenen Zähnen ins Publikum schleudert.“

Die beiden Außensätze, besonders der hintere, die berühmte Fuge, provozieren denn auch eine besondere Reibung zwischen den Diskutanten. „Ich habe deren zu Dutzenden in meiner Studienzeit gemacht“, sagte Beethoven über die Fuge im Allgemeinen, „aber die Phantasie will auch ihr Recht behaupten und heut‘ zu Tage muss in die alt hergebrachte Form ein anderes, wirklich poetisches Moment kommen“. PG, der wie viele andere offenbar Probleme hat, in dieser Fuge Poesie zu bemerken, hält dem, anfechtbar beethovenkritisch, entgegen: „Auf welche Weise wusste man sich damals ‚weiter‘ als Bach, hat man jenes ‚poetische Moment‘ auch bei ihm vermisst? Wie defizitär erscheint eine Form, der auf diese Weise aufgeholfen werden muss?“ Und AB nach einer feinen kleinen – freilich eindeutig vom modernen Konzertflügel her gedachten – Abhandlung zum Thema „Klavierklang“ antwortet aus London mit einem Bekenntnis: „Die harmonischen Vorgänge, die man immer noch hören sollte, die thematischen und motivischen Zusammenhänge, die tonale Konstruktion des ganzen Werkes (B-Dur: Tonart des Lichts, h-Moll: Beethovens „schwarze Tonart“ – Licht und Finsternis, Gut und Böse) – Opus 106 ist doch in den Außensätzen ein helles Stück, und das Fugenthema wie auch das Anfangsthema im ersten Satz mit seinen Dezimen und Terzen vermitteln mir nicht Krampf und Zwang, sondern Enthusiasmus.“ So wirkt der subjektive Faktor noch in den Seelen zweier, zu, praktisch wie theoretisch gegründet, höchster Objektivation fähiger Künstler.

Wenn AB uns den persönlichen Blick ins Tastenspielerhandwerk auch nicht gönnen will – aus dem pianistischen Nähkästchen plaudert er gelegentlich schon, wenn es sich ergibt. So vergleicht er Schuberts und Beethovens Art der Niederschrift: Schuberts Notation „war noch weitgehend altmodisch (…). Auf der anderen Seite ist seine Dynamik in ihrem Umfang utopisch. (…) Im Gegensatz dazu ist Beethovens Notation „modern und pragmatisch“. Allerdings „gibt es ein Paar schwer erklärbare Ausnahmen, Stellen, die, wörtlich genommen, unspielbar sind: im ersten Satz des C-Dur Konzerts die hinabstürzenden Tonleiter in Oktaven unmittelbar vor der Reprise oder der unmögliche Fingersatz im ersten Satz der Sonate op. 2 Nr. 2. Es scheint, als hielte der Schöpfer der Eroica uns hier zum Besten.“ Hammerflügel-Spieler, das ergab mein Anruf bei einem befreundeten Spezialisten für das Spiel auf alten Instrumenten, melden da Widerspruch an.  Aber hinsichtlich der alten Instrumente lässt sich AB auf Debatten nicht ein; zu Offenheit oder gar Verständnis für die Hammerflügel und Pianoforte, auf denen Beethoven und Schubert selbst ihre Musik erdachten und spielten, mag er sich nicht durchringen.

Die „exemplifizierende Musik“ – so nennt PG, wenn ich es richtig verstehe, die Eigenschaft der Musik, Mitteilung zu sein, Botschaften, Bilder zu übermitteln und Assoziationen zu wecken – jene „exemplifizierende Musik“ sei „mit der Wahrnehmung von Inhalten noch längst nicht am Ende (…), die das ‚denotierende‘ Wort dank hartherzig konturierter Begrifflichkeit längst erledigt hat“. Ein wunderschönes Beispiel dafür, wie er selbst so ewig ungenügende wie bezaubernde Lösungen für das Problem findet, Musik in Worte zu fassen, gibt PG mit einem großen Mitweimarer, dem Herrn von Goethe: Im von Schubert vertonten Gedicht Suleika I aus dem West-östlichen Diwan geht Suleika der Mund über, wenn sie vom Geliebten spricht, „die doppelstrophige Ordnung – zwei Textstrophen in einer musikalischen – wird verlassen, mit der Nennung des ‚Vielgeliebten‘ erreicht die Musik in einer emphatischen Kadenz die Tonart Fis-Dur, sie wird sie in 44 verbleibenden Takten nicht mehr aufgeben. Suleika redet sich (…) in die Einsamkeit derer hinein, die mit ihrer Liebe allein sein wird, sie redet, wenn auch von ihm, nur noch mit sich selbst, rettet ins zugleich sich zurücknehmende Singen, was verloren gehen wird, und versinkt in ihm, verdeutlicht in zunehmend tiefen Lagen. Welch vorausahnende Hellsicht angesichts dessen, was lebensgeschichtlich zugrunde lag – die poetisch-erotische Begegnung Goethes mit Marianne von Willemer, von der das Gedicht stammt; hiervon konnte Schubert nichts wissen.“

Ein Verzeichnis der meist verstreut erwähnten und mit klugen Gedanken, teils mit Analysen und Anekdotischem  bedachten Musikwerke im Anhang, wäre ein Gewinn für das Buch gewesen; es ließen sich darin – auch wenn es eher kurz ausfiele – vor dem Anhören erwähnte Werke nachschlagen

Trotz der Menge an Kostproben: Ich habe nicht zu viel verraten, nur einen Bruchteil aus der Fülle eines anregenden Gedankenaustauschs in Buchform. Ein letzter Ausschnitt mit einer launigen Pointe: PG stellt die Frage, was denn wohl gewesen wäre, hätte der 1797 geborene Schubert länger als 31 Jahre gelebt? und antwortet selbst: „Er hätte bloß 75 Jahre alt werden müssen, um ‚Tristan‘ zu erleben. Wer weiß, ob Wagner den Tristan dann so komponiert hätte, Schumann seine Sinfonien, Brahms seine frühe Kammermusik! Schubert war nur wenige Tage älter als Kaiser Wilhelm I., der bis 1888 regiert hat. Wie sehr immer Spekulation, was die Entwicklung des Komponierens angeht: Eine Überlegung ist’s wert, schon, um (…) zu ermessen, was für eine Katastrophe dieser frühe Tod für die Musik gewesen ist, am ehesten vergleichbar den Toden von Purcell und Mozart. Sie, Herr Brendel haben mal gesagt, sie seien wütend ob dieses frühen Todes.“ – AB: „Oh ja, es gibt Dinge, die ich nicht verzeihen kann.“ Junge Welt, Februar 2021

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Mordor Country.Lisa Neugebauers & Rezos Podcast

„Heimat ist da, wo die Rechnungen ankommen“, zitiert Heiner Müller seine Frau. Ein guter linker Witz über einen in der Linken höchst umstrittenen Begriff. Er kommt in der gerade online gegangenen neuen Folge von Lisa Neubauers Podcast hegemonial oft vor. Lisa Neubauer, deutsche Frontfrau von Frydays for Future (FFF), fast ein Kind aus Sicht eines älteren Menschen, eine junge Frau, deren Zukunftshorizont unendlich weiter ist als der meine und die dafür auf eine Art kämpft, die mich beeindruckt und zuhören lässt.

Für die neueste Folge ist sie mit dem Influencer Rezo 45 Autominuten von dessen Zuhause nach Mordor gefahren, wo sich apokalyptisch weit und tief der Riesenkrater des Tagebau Garzweiler 2 in die schöne Landschaft bohrt. Rezo war zum ersten Mal dort. Neubauer, von Musik und dramatischen Baggergeräuschen unterlegt, klärt ihn und die Podcast-Gemeinde auf. Das Braunkohlerevier in Nordrhein-Westfalen ist die größte CO2-Schleuder Europas, ihre Auswirkungen aufs Klima sind global. Nach dem Weltkrieg, sagt sie auf Rezos Frage, war die Enteignung ganzer Dörfer gesetzlich geboten, weil objektiv ein allgemeiner Energiebedarf zunächst nicht anders gedeckt werden konnte. Das ist, wissenschaftlich belegt, längst anders. Neubauer und Rezo benutzen das Wort Heimat auf die einzig legitime Weise: sie stellen es in Zusammenhang mit dem Eigentum. So wird einer sechsstelligen Zahl von Bewohnern unfassbar vieler Dörfer, acht davon liegen buchstäblich immer noch direkt am Abgrund, die Heimaterde allein aus Profitgier von Riesenkonzernen wie in diesem Fall RWE direkt unterm oft seit Generationen bewohnten Heim weggebaggert. Wenn wir, schlussfolgern die beiden in dem mit 67 Minuten recht langen Stück, eine Demokratie wären, müsste es aufseiten der Politik irgendwo institutionelle Kräfte geben, die sich dagegen wehren. Es gibt sie nicht. Es gibt eloquent geldstrotzende Lobby-Netzwerke, die für die Zerstörung unserer Heimat und damit für die Zerstörung der sich aus vielen Heimaten vieler verschiedener Völker und Menschen zusammenfügenden Welt sorgen. Die beiden lassen mit Barbara eine junge Mutter zu Wort kommen. Als Mitglied der Initiative „Alle Dörfer bleiben“ kämpft sie zum Wohl ihrer Kinder für den Erhalt ihrer Heimat als dem Ort der eigenen Geschichte. Denn Heimat, das ist nichts anderes als die sozial, historisch und politisch zu ende gedachte, auf die eigne Biografie heruntergerechnete Umwelt. Ziviler Ungehorsam, so Neugebauer, wird zur ersten Staatsbürgerpflicht.

welt.de

Das in Deutschland so hochwertige Wort „konservativ“ erweist sich – „konservare“ bedeutet schließlich „bewahren“ – angesichts der extrem egoistischen Umweltignoranz sogenannter „Konservativer“ als komplett hohl. Das Wort „christlich“ gibt sich angesichts der realen Untätigkeit der Kirchen als frömmelnde Phrase zu erkennen. Und wenn die alten und die neuen Nazis von „Heimat“ reden, riecht es nach Blut und Boden, nach Osterweiterung. Gewalt ist der Urschleim dieser Dumpfbacken, Gewalt gegen Natur – uns Menschen eingeschlossen – und Heimat. Die alten Nazis legten unsere Welt in Schutt und Asche. Die neuen machen wieder mit beim globalen Krieg gegen Menschheit und Natur, sie werden finanziert von exakt denen, die diesen Krieg renditehalber entfesseln.

Das alles, im Wortgebrauch der jungen Leute: krass ungerecht und falsch. Sie beginnen sich zu wehren, sie lernen, wie man das organisiert machen muss. Sie benutzen und nutzen dabei betont das alte, mit so widersprüchlichen Inhalten aufgeladene, von den Faschisten global misshandelte und besudelte und gleichwohl unzähligen Menschen unermüdbar höchst Wertvolles bedeutende Wort Heimat. Neubauer und Rezo knüpfen daran positiv an auf eine Weise, die zum Missbrauch nicht taugt, weil sie die Frage aufwirft, wem allein die Heimat am Ende einzig gehört. Der großen Mehrheit derer, die drin wohnen, wie Brecht sagt. Neugebauer und Rezo wissen, wie nötig wir Ermutigung haben. Sie besetzen den Heimatbegriff wie sie Wälder und Tagebaue besetzen. Sie überlassen die Welt nicht den Kriegern. Sie übernehmen die Sache selbst, das macht Mut für alles, was jetzt kommt. Junge Welt 2020

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ZEICHNUNGEN

Beethovens Welt.Reinhard Goebel. Münchner RO.

„Beethovens Welt“ steht versal über Reinhard Goebels Projekt einer Serie von CDs mit Musik der Beethovenzeit. Beethovens Welt bestand zwar sicher aus mehr als nur aus Musik. Aber einmal zu hören, was, während der im Winter 1792 aus Bonn Zugereiste zum Maß aller Dinge heranwuchs, in Wien noch so komponiert wurde – auch nicht übel.

Das Eröffnungsstück der neuesten Folge stammt von Beethoven selbst. Den 1792 komponierten, Fragment gebliebenen Satz eines Violinkonzerts hat er noch in Bonn komponiert. Wer das Stück hört, fragt sich allerdings, ob das ephemere Frühwerk 1879 vom Wiener Dirigenten und Geiger Joseph Hellmesberger nicht etwa nur „vervollständigt“, sondern auch bearbeitet wurde. Es klingt im Orchester öfter nach einer Ästhetik, die erst im 19. Jahrhundert Hellmesbergers entstand, nicht am Ende eines 18. Jahrhunderts, in dem der junge Beethoven aufwuchs.

Möglich aber auch, dass dieser Eindruck mit Reinhard Goebels Entscheidung zusammenhängt, die Idee historisch informierten Musizierens nur noch mit konventionellen Sinfonieorchestern zu verwirklichen, die vom Orchesterklang und von der großen Besetzung des „romantischen“ 19. Jahrhunderts geprägt sind. Allerdings wurde Beethovens früher Versuch eines Violinkonzerts und alle weiteren Werke dieser CD mit der durchweg nicht mehr als um die 25 Musiker umfassenden Hoforchesterstärke der Jahrhundertwende im Sinn komponiert. Goebel als einer der bedeutenden Pioniere historischen Musizierens in der alten BRD tut seit Jahren, was vor ihm schon andere Protagonisten dieses inzwischen hegemonialen Konzepts taten: Er bereichert die auf modernen Instrumenten und in Besetzungsgrößen von mindestens 50 Musikern spielenden Sinfonieorchester um die Durchhörbarkeit, Präzision, die Lebendigkeit und die Sorgfalt historischen Musizierens.

Das gelingt ihm. Er hat komplette Solisten zur Verfügung, allen voran die junge Geigerin Sarah Christian mit kraftvoll geschmeidigem Ton, frischem Vibrato, beeindruckend sicherer Intonation. Der in Goebels Projekt gewollte Vergleich der Musik Beethovens mit der Produktion zeitgenössischer Kollegen hebt die Fortschrittlichkeit, des rheinischen Wiener Klassikers deutlich von seinen musikalischen Zeitgenossen ab. Denn die anderen, mit Ausnahme des zwanzig Jahre nach ihm geborenen, zwei Jahre vor ihm gestorbenen Böhmen Jan Václav Vorisek, sind – auf oft durchaus hörenswerte Weise – über Haydn (1732-1809) und Mozart (1756-1791) nicht hinausgekommen.   

Zum Solo für Horn und Orchester Antonin Reichas ließe sich bedauernd feststellen: es klingt, wenn auf einem Ventilhorn geblasen, verschenkt, ein Instrument, dessen Eigenart Beethoven chronologiebedingt nicht kennen konnte. Und überhaupt verlieren sich die Proportionen des wienerklassischen Orchesterklangs im opulenten Klang eines – zu – großen Sinfonieorchesters. Etwas geschieht da, vergleichbar der Wirkung klassizistischer Staatstempel des 19. Jahrhunderts: Deren Erbauer meinten offenbar, die Ästhetik des im Original faszinierend kleinen Parthenon der Athener Akropolis zu steigern, wenn sie seine Dimensionen steigerten. Goebel arbeitet, wissend was er tut, in diesem Fall an der Quadratur des Kreises.

Über Voriseks Grande Rondeau in der Besetzung eines Tripelkonzerts könnte eins mit Goebels Booklet-Gedanken allerdings ins Grübeln kommen: Hat Vorisek die konzertante Besetzung nicht tatsächlich, wie Goebel meint, besser in den Griff bekommen als Beethoven in seiner Version des Tripelkonzerts? Goebels Booklet-Text ist wie immer eine Meisterleistung. Man möchte ihm indes wünschen, dass – bei aller Belesenheit und Detailkenntnis – sein unermüdlicher Kampf mit der Parenthese lektoral mutiger unterstützt würde. Aber sonst? Ein feiner, wenn auch verspäteter Beitrag zum Beethovenjahr.

Beethovens Welt. Concertos von Beethoven, Wranitzky, Reicha, Vorisek – Münchner Rundfunkorchester / Reinhard Goebel (Sony Classical)

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Mozart.Sinfonien.Adam Fischer.Harnoncourt

Jenen Nachmittag vergesse ich nicht. Adam Fischer probt mit seiner österreichisch-ungarischen Haydn-Philharmonie auf der Bühne des barocken Esterhazy-Schlosses in Eisenstadt. Die Musik hört plötzlich auf, hinten im Saal wird es unruhig. Das Raunen und Munkeln der Leute dringt bis nach vorn. In New York, kriege ich mit, sollen soeben zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centre gerauscht sein.

Dass sich der 11. September 2001 bei mir auf ewig mit Adam Fischer verbindet, passt zu diesem weltbesten aller unbekannten Dirigenten. Denn so unscheinbar der kleine Ungar wirkt, so bedeutend ist er als einer jener wenigen großen Musiker, die sich Politik und Geschichte gegenüber nicht taub stellen. Von Adam Fischer hörte ich eines heißen Sommertags an den altmodischen Marmortischen des kleinen Café gegenüber der ungarischen Staatsoper in Budapest zum ersten Mal davon, dass nicht wenige Ungarn sich während des zweiten Weltkriegs an den faschistischen Hetzjagden auf andere Ungarn beteiligten, nur weil diese jüdischen Glaubens waren.

Weil er so etwas nicht für Vergangenheit hält, überreichte Fischer im Frühjahr 2011 in Brüssel – Ungarns Faschodemokrat Viktor Orban präsidierte der EU gerade als Vorsitzender –  eine mit den Künstlerkollegen András Schiff und György Konrad verfasste Petition gegen Ausgrenzung und Rassismus in Europa. Weniger als zwei Jahre nach seinem Dienstantritt hatte Fischer 2010 gegen das Orban-Regime mit der Kündigung seines Traumjobs als Musikdirektor der ungarischen Staatsoper protestiert.

Fischer galt lange als idealer „Einspringer“; kaum ein berühmter Dirigent, den er, wenn nötig, nicht irgendwo auf der Welt kurzfristig vertreten hätte. Inzwischen allerdings gibt es von Met bis Scala, von Wiener Staatsoper bis Bayreuth keinen Wallfahrtsort klassischer Musik, an dem er nicht so viele Male auch schon erste Wahl war, dass es mir ewig ein Rätsel bleibt, warum Adam Fischer nicht längst zu den Weltstars seines Metiers gehört.

Fischer liebt Gesamtaufnahmen. Es muss mit seiner Fähigkeit zu lebenslangem Lernen zusammenhängen, dass es ihm gelungen ist, die singuläre musikalische Entwicklung, die Wolfgang Amadé Mozart in Genres wie Oper, Konzert, Klaviersonate gleichzeitig und auf Höchstniveau bewältigte, nun auch in seinen Sinfonien vor Ohren zu führen.

In den frühen, an Italien orientierten Werken betont der Ungar nicht das höfisch Galante, er lässt auch die Strenge und Klarheit barocker Form walten. Hörbar bei Fischer überall auch Mozarts Spaß daran, zu zeigen, was er konnte; nicht zu vergessen seine Herzigkeit, die Schwärmerei und manche Dunkelheiten der Pubertät. Ohne den jungen Mozart zum Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Epigonen, zum Fast-schon-Beethoven zu verbiegen, bricht sich bei Fischer, kammermusikalisch transparent und rhythmisch straff, von K. 183 an auch Mozarts Berührtsein vom in seiner Zeit überall wuchernden Sturm und Drang. In K. 201 dann erste Spuren reifen Satzgefüges, späte Frucht dessen, was Mozart bei Padre Martini, dem Altmeister des Kontrapunkts, in Bologna gelernt hatte. Dynamisch feinstabgestimmte Hochspannung und Dramatik hier, empathische Lyrik da – Fischers Orchester bewegt sich bis hin zu den letzten drei großen Sinfonien im Schatten Bachs und Händels stets in der frischen Luft uneitel souveränen Musikantentums.

Unüberhörbar Fischers Orientierung an historischer Aufführungspraxis. Nikolaus Harnoncourt, er hat in einer Neuaufnahme gerade selbst Mozarts letzte drei Sinfonien  zum ersten Mal auf alten Instrumenten präsentiert, hat einen starken Eindruck in ihm hinterlassen. Die mehr denn je faszinierende Widerborstigkeit und unverstellte Radikalität des Altmeisters sind Fischers Sache allerdings weniger. Fernab jeden Kompromisslertums verbinden sich bei ihm im voluminöseren Klang moderner Instrumente kantig schlanke Wahrheitsliebe mit sensibler Eleganz zu einem einzigartigen Mozarterlebnis. Auch eingedenk ihrer mit knapp 50 Euro im allerbesten Sinn demokratischen Preisgestaltung seien die 12 CDs allen Mozartfreund(inn)en ans Herz gelegt.

Mozart: Die Sinfonien – Dänisches nationales Kammerorchester / Adam Fischer (Dacapo/Naxos); Mozart: Sinfonien K. 543, K. 550, K. 551 – Concentus Musicus – Harnoncourt (Sony Classical)

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Beethoven Violinsonaten.Isabelle Faust/Alexander Melinikov

Es gibt Klassikstars, die die Branche – oder vielleicht auch nur die eigene Karriere – dadurch retten möchten, dass sie neben dem Spielen von Brahms, Beethoven oder vielleicht Chopin Wölfe züchten. Andere verkleiden sich für ihre CD-Covers als Hiphopper und posieren vor trostlosen Beton-Szenerien. Oder entdecken noch in hohem Alter eine lebenslang offenbar unterdrückte Begeisterung für Tango oder Jazz. Isabelle Faust macht den Eindruck, als habe sie, wenn überhaupt, andere Probleme. Sie bereitet sich, wenn das in ihrem Kalender steht, auf Beethoven vor und spielt ihn, wenn es soweit ist, so gut es ihrer bis dahin erarbeiteten Perspektive auf Beethovern entspricht. Punkt.

Zweihundert Jahre wurde Beethoven präsentiert “wie immer”. Mit freilich immer wachsender technischer Perfektion, mal schneller, mal langsamer, mal ausdrucksvoller, mal langweiliger. Im Zweifel aber immer orientiert an dem, was die Klassikwelt lange als Essenz Beethovens begriff. Das war, egal, ob seine Musik vollgriffig fortissimo oder kleinlaut gefühlvoll daherkam, der Sockel unter den Füßen des Titanen, den man unbedingt hören musste, mit jeder Note.

Isabelle Faust geht der Ruf voraus, ihr fehle, was man in der Klassik einen „großen Ton“ nennt. Das Gemisch aus Edelklangdesign und Premiumgefühlen im Ohr, mit dem, allen voran, ihre Kollegin Anne-Sophie Mutter aufzutrumpfen pflegt, möchte man allerdings nie aufhören, diesen vermeintlichen Mangel Fausts zu preisen. Denn in Isabelle Fausts Neuaufnahme der Violinsonaten  dreht diese Geigerin den Beethovenspieß um, sie stellt Beethoven vom Sockel auf die Füße.

Ihr war vermutlich aufgefallen, dass Beethoven und vieles andere in der „alten“ Klassik gewohnheitsmäßig gespielt wurde in einer Dynamik, die sich vom Breitband-Mezzoforte bis zum mehr oder minder beeindruckenden Fortissimo erstreckte. Hört eins Isabelle Faust und Alexander Melnikov Beethovens Violinsonaten spielen, tun sich bis dahin weitgehend nie bemerkte, wahrscheinlicher aber: selten oder nie so präsentierte Seiten dieser Musik auf.

Meine im Februar 2011 für die Junge Welt geschriebene Rezension dieser meines Wissens ersten großen Zusammenarbeit der beiden Künstler genügt, stellte ich beim Wiederlesen im Frühjahr 2021 fest, meinen aktuellen Maßstäben so sehr nicht mehr, dass ich sie neu schreibe. Bis hierihin bin ich bislang gekommen…… bald gehts weiter.

Beethoven: Die Violinsonaten – Isabelle Faust, Alexander Melnikow; Harmonia Mundi France (3 CD).

Faust/Melnikov: Mozart Violinsonaten

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Dolce Versuvio

Unter Verweis auf ältere Beispiele großer Belletristik beklagte unlängst der Autor Jan Decker in dieser Zeitung den Zustand der in der Bundesrepublik für bemerkenswert erachteten aktuellen deutschen Literatur. Als jemand, der sich zuletzt mit Sarah Kuttners Roman „Kurt“ langweilte, darf ich mich kleinformatiger anschließen.

Mir fiel ein kurz vor Corona in dem nicht eben für große Literatur bekannten Verlag Harper Collins erschienenes Buch in die Hände. „Dolce Vesuvio“ steht in Lippenstiftrot mit einem Herzchen statt Pünktchen über dem i auf dem Titel. Es kommt wie ein im Stil der 1950er Jahre für Italien werbender Lore-Romane daher. Hat man die etwas verwirrende Exposition hinter sich, stellt man allerdings beglückt fest: Es ist ein auf ganz verblüffend unlorehafte Weise für Italien werbender Liebesroman.

Denn welcher Lore-Roman hätte je eine Ich-Erzählerin zur Heldin gehabt, die, Anfang zwanzig, hübsch und nicht auf den Mund gefallen, ihr Glück einen Sommer lang als angehende Archäologin in den Ruinen des alten Pompeji suchte? Die Autorin Astrida Wallat hat in Italien Romanistik studiert, sie hat sich offensichtlich, wenn wohl auch nicht in Alessandro, den Angebeteten ihrer Hauptfigur Carlotta, so doch ins Land verliebt, wo die Zitronen blühen.

Wallats Buch entführt per flott und intelligent geschriebener Prosa auf gänzlich unpädagogische Weise in die Welt der italienischen Antike, der literarischen mit Autoren wie Ovid, dem Schwarm der Heldin oder Vergil und in die Welt der architektonischen Antike mit dem in der Asche des letzten großen Ausbruch des Vesuv 79 n.u.Z. untergegangenen alten Pompeji.

Die Autorin macht nicht nur, schön aufgelöst in eine im Verlauf des Buchs immer turbulentere Handlung, erstaunlich kenntnisreich mit dem  antiken Italien bekannt (ihr Mann ist Archäologe). Auch das sommerliche Neapel der Moderne und einige für das Land typische Menschen werden komödienhaft stilisiert, lebendig und humorvoll erzählt.

Astrida Wallat

Ein Sommerbuch. Nichts fehlt. Nicht die durch die Straßen lärmende Tram Circumvesuviana, benannt nach dem titelgebenden, monumental und gelegentlich ein wenig drohend immer wieder auftauchenden neapolitanischen Vulkan am Mittelmeer; nicht eine feine Speisenfolge aktueller wie antiker italienischer Rezepte, zubereitet von Anna, der gewesenen Opernsängerin und nunmehrigen Zimmervermieterin Carlottas, genannt Lollo. Frau und man wohnt, so exakt wie kurzweilig beschrieben, den Ausgrabungen, ihren Komplikationen wie Triumphen bei. Die Liebesgeschichte zweigt zeitweilig in Ausgrabungen der Familiengeschichte ab, die im Zuge einer Capri-Reise ihre Tochter in Pompeji besuchenden Eltern Lollos geraten in überraschende biografische Verwicklungen mit dem italienischen Grabungsleiter, dem Professore Pappalardo. Im Verlauf der gekonnt mit der Leidenschaft für die Archäologie verwobenen Lovestory mutiert Carlotta von der muffelig zickigen Verteidigerin femininer Autonomie zum anschlussfähig selbstbewussten Gesellschaftsmenschen. Gegen Ende eine finale festa antica mit Feuerwerk, reichlich Spumante und üppigen Buffets. Die Protagonisten verwandeln sich per Kostümierung in mythische Götter und Nymphen. Bevor alle Herzen den passenden Widerpart finden, schreibt Astrida Wallat, Carlotta in der dritten Person erzählend, einen so verblüffenden wie großartigen Showdown, nichts Näheres davon, bitte selbst besorgen.

Ein Buch wie gemacht für Urlaubszeiten in Zeiten der Pandemie. Fern die Ferne, nah die Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Ausgespart, was sie im Großen verhindert. Es muss ja nicht ewig die Wallstreet und Blackrock sein. Kampanien, Neapel, Pompeji und ein dolce Vesuvio sind auch mal sehr schön. Junge Welt, September 2020

Astrida Wallat: Dolce Vesuvio. Harper Collins. 318 Seiten. 10 Euro.

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