In dem den Cembalisten der Gegenwart zugedachten Schuhkarton meines Wortschatzes ist es das Attribut „originell“, das, neben Größen wie Andreas Staier, Christine Schornsheim, Pierre Hantai, vorab den jungen Franzosen Jean Rondeau schmückt.
Einen wie ihn, er heißt übrigens wirklich so, kann sich kein Turbospitzenmarketing zusammenbasteln. Ob mit kunstvoll geföhnter Hochfrisur oder wildlangen Haaren mit Vollbart, ob im Glitzerjackett oder bequemen Baumwollhemd: Rondeau wirkt so authentisch wie kindlich verspielt. Selbst die große Wahrscheinlichkeit, in einer alles irgendwie Verwertbare verscherbelnden Geldwelt als Kunstprodukt vermarktet zu werden, scheint er spielerisch zu integrieren.
Dabei ist er einfach nur ein verdammt guter Musiker. Und dass er sich für die berühmte Aria, das Thema der Goldberg-Variationen von Bach, rund eine Minute mehr nimmt als der große Rest seiner avancierten Kollegen, ist bei ihm eben nicht manieriert oder ein Markenzeichen (wie beim seligen Claudio Arrau) oder vielleicht nur etwas verschlafen – es ist originell.
Hatte Glen Gould Bachs Ausnahmewerk vor vierzig Jahren durch quasi protestantische Eleganz und eloquente Kargheit gegen den bis dahin gewohnten Strich gebürstet und hatte der feingliedrige Kanadier dieses erste große Variationen-Werk der Klavierliteratur damit zum Welthit gemacht, dehnt es Rondeau nun nicht etwa oder verschleppt es gar – er integriert die Melismatik aufs Delikateste, spielt die Vorschläge und Verzierungen als überleitende, verbindende Teile der fließenden, tänzelnden Melodie. Das Ganze gerät in einen Schwebezustand latenten Wechsels zwischen Spannung und Relaxation auch, weil er es so überaus präzise timt und artikuliert und bis in die Details ausformt und genau nimmt und darstellt.
Im weiteren Verlauf die gewohnten Tempi. Rondeau demonstriert gleich in der zweistimmigen 1. Variation und kurz darauf in der schlanken fünften, in welcher das Cembalo überm schnarrenden Bass spitz wie eine E-Gitarre, dann im Diskant wie eine Orgel klingt, wie genau und glashart er auch in der extremen Geschwindigkeit spielen kann. In der 4. Variation baut er, wie einst der singuläre Jazzpianist Thelonius Monk, ein unmerklich kunstvolles Schlingern und Stolpern in den rustikalen Ablauf ein.
Die den zweiten Teil festlich punktiert und schön französisch eröffnende Ouvertüre lässt Rondeau fetzig funkeln. In der folgenden 17. Variation verschränkt er die beiden Stimmen auf eine Weise, die qua metallisch baumelndem Klang des Instruments an die Momente der Kindheit erinnert, da beim Betreten alter, holzgetäfelter Läden das Klingen der Metallstäbe über der Tür im noch menschenleeren Raum den Kauf von etwas unbekannt Wunderschönem verhieß. Rondeau wird auch – wieder hebt er das Stück durch ein extrem in die Stille gebreitetes Tempo hervor – dem fahlen Ernst der solitären 25. Variation in g-Moll gerecht. Aber ob das heilige Quodlibet an dreißigster und vorletzter Stelle vor der Aria da capo, ein ferner Blick Bachs auf seine Adoleszenz und die zu Fuß von Lüneburg nach Lübeck bewältigten Besuche beim bewunderten Meister Buxtehude, derart extrem und in Momenten schon choralnah verlangsamt gespielt sein darf? Es handelt sich um zwei deftig lustige Volkslieder. Rondeau hat originelle Ideen, er scheut offenbar auch den Querstand nicht.
Neben dem Clavichord bevorzugte Bach das Cembalo. Stand die Orgel, nicht nur in seinem Berufsalltag, im Lauf des 18. Jahrhunderts im Begriff, in den Hintergrund zu treten, war das Cembalo seit der französischen Revolution definitiv die akustische Metapher für eine abgetane Zeit. Dem 19. Jahrhundert war sein Klang so peinlich, dass es selbst noch die Seccorezitative der Opern Glucks oder Mozarts mit schweren Konzertflügeln besetzte. Aber so totgesagt, wie das Cembalo war, so lebendig scheint es derzeit wieder aufzuerstehen. Es sieht geradezu so aus, als beginne das klangvoll charakteristische alte Tasteninstrument mit einem von großartigen Spielern zelebrierten weiteren Kapitel seiner Wirkungsgeschichte am Beginn des dritten Jahrtausends ein zweites Leben. Jean Rondeau gehört auf jeden Fall zu den führenden Zweitgeburtshelfern. Junge Welt, Januar 2022
J. S. Bach: Goldberg-Variationen BWV 988 – Jean Rondeau, Cembalo (Warner Classics).