SAISONERÖFFNUNG.POLITIK AUF DER ELPHI-BÜHNE. (2018)

Vor Beginn der Konzerte des Ensemble Resonanz (ER) pflegt Geschäftsführer Tobias Rempe auf die Bühne zu gehen, das Publikum zu begrüßen und die zu erwartenden Werke mit einigen Worten zu begleiten. Vergangenen Mittwoch war es anders. Er war nicht allein. Alle Ensemblemitglieder standen ohne Instrument hinter ihm. Saisoneröffnung 2018/2019, das ER zum zweiten Mal im großen Saal der Elbphilharmonie. Einer kurzen Erläuterung des diesjährigen Saison-Mottos „Stimme“ folgte, von Rempe mit beeindruckend ruhigem Nachdruck vorgetragen, eine politische Erklärung des ER, eine Novität in der Klassikwirklichkeit: Schluss mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ich fasse aus dem Gedächtnis zusammen; wie die ganze Gesellschaft brauche auch die Kunst eine Atmosphäre von Toleranz und Rechtstaatlichkeit; wie die Luft zum Atmen brauche sie Solidarität, Liebe, gelebte Humanität. Es sei viertel nach zwölf, so Rempe. Vor dem Hintergrund einer stabilen Dreiviertelmehrheit gegen Krieg und Hass in Deutschland, appellierte er klar und entschieden an diese Mehrheit, sich endlich spürbar gegen die Menschenfeinde von der AfD aufzustellen und sie – meine Wortwahl – in ihre Rattenlöcher zurückzuschicken. Demonstrativ anhaltender Applaus des wie immer vollbesetzten Elbphilharmonie-Saals. Da schien, nach Jahrzehnten neoliberaler Verarsche, für einen Moment die Vernunft zurückgekehrt in eine kritische, von den die AfD begünstigenden Massenmedien emanzipierte Öffentlichkeit.

So mutig und zur Nachahmung empfohlen der politische Auftritt, so gewagt und anspruchsvoll der Beginn des musikalischen: Georges Aperghis’ „Récitacion pour une voix seule“ (1978), an diesem Abend verkörpert durch die weibliche Stimme von Donatienne Michel-Dansac. Die Sopranistin war, für mich und viele andere, nicht sicht- und nicht optimal hörbar, irgendwo im oberen Gefilde des Saals postiert. Ihre „Rezitationen“ bestehen aus sechs Erscheinungsweisen menschlicher Stimme, hier nicht Bedeutungsträger, sondern – auf sehr unterschiedliche, von banalen Alltagsgeräuschen bis zu skizzenhaft angedeutetem Kunstgesang reichende Weise – Klangphänomen. Ein Teil des Publikums pochte per ironischem Dazwischenklatschen auf sein Recht: in eine konventionell geformte Musik hat gefälligst jede und jeder an – außermusikalischem! – Inhalt hinein interpretieren zu können, was gerade beliebt, andernfalls ist es keine Musik.

Halbwegs zufrieden war die Schmockeria möglicherweise mit Strawinskys Ballett „Apollon musagète“, Beispiel einer kurzen Stilepoche, in der sich die mitteleuropäische Kunst nach einer Phase expressionistischer Überhitztheit vor dem ersten Weltkrieg, in den 1920er Jahren beruhigender Klassizität zuwandte. Picasso malte in fließenden Linien große, in weichen Volumen aufgefasste Frauen; andere pflegten die neue Sachlichkeit; Strawinsky komponierte barockisierende Suiten. Der in der kommenden Saison im ER als Dirigent residierende italienische Alte-Musik-Experte Riccardo Minasi machte aus dem genialischen Rückgriff des Russen ein parodistisch distanziertes Stück Musik einer Moderne, die in Strawinsky einen kunstaristokratischen Humoristen sui generis fand. Wie beim Humoristen Kafka tritt diese seltsam besondere Art Humor gern, auch zu solchen Überlegungen inspirierte Minasis Lesart, in dunkler, fremdelnder Atmosphäre auf, sie schwelgt kaleidoskopartig vieles noch einmal durch, was die Romantik an ihrigem zu bieten hat.

Im Schluss des Konzerts durfte endlich die alte Klassikherrlichkeit zu sich selbst kommen. Aber auch Mozarts letzte, rätselhafterweise von irgendwem mit dem Griechengott Jupiter in Verbindung gebrachte Sinfonie, veranlasste einige teuer Gewandete ihrem Siebenliterschlitten in der Tiefgarage oder einem der Luxuszimmer im Hotel über dem großen Saal zuzueilen. Von den ersten drei, verführend aufrührerisch beschleunigten C-Dur-Akkorden an war klar: Minasi legte die musikalische und historische Entwicklungslinie frei, die Mozarts, ein Jahr vor der Französischen Revolution entstandene Sinfonie mit Beethovens, auf diese Revolution offen Bezug nehmende „Eroica verbindet. Wieder einmal demonstrierte das ER, wie perfekt es auf modernen Streichinstrumenten (mit alten Trompeten und Hörnern, leider modernen Flöten, Oboen, Fagotten) Mozarts in den Ecksätzen dieser Sinfonie überschäumender Polyphonie vor allem damit gerecht wird, dass deren – da wären wir wieder am Anfang – Appellcharakter hin zu einer besseren Welt geradezu begeisternd deutlich wird.                                                      Junge Welt, Oktober 2018

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