Lahusen.Schubert. D946.960

Die Zahl ihrer ungeschriebenen Gesetze ist je länger, desto kürzer am Halsband der freien Presse die Marketingleine wird. Für Menschen, die statt Autos oder Waschmaschinen Geistesprodukte rezensieren, lautet eines dieser Gesetze: Thema sind ausschließlich Neuerscheinungen. Neu sind sie bis etwa drei Wochen nach erscheinen. Danach: Vergessen. Punkt.

Nun gibt es aber CDs wie die Aufnahme von Schuberts letzter Klaviersonate mit dem Hammerflügelspieler Nikolaus Lahusen, die sind so anhörenswert, so bemerkenswert, so aufhebenswert, zugleich so überaus kostbar, dass man ihre Bekanntheit keinesfalls den Fachkritiken kurz nach der Veröffentlichung überlassen darf, wenigen Kritiken, denn die Lahusen-CD erschien beim klitzekleinen Label Celestial Harmonies in Tucson, Arizona, also  am Arsch der Welt.

Ich habe sie 2005 im Freitag besprochen. Wo bekommt man sie aber heute? fragte ich mich und googelte. Beim deutschen Vertrieb Naxos keine Spur. Nur bei den beiden großen Online-Händlern  ist diese Kostbarkeit bis heute erhältlich (sie werden ihren Vorrat  irgendwann aufgebraucht haben).

Warum ein solches Schattendasein? Nikolaus Lahusen hatte für den Betrieb, wie er sich Anfang des dritten Jahrtausends darstellt, einfach zu wenig von einer Ware. „Hatte“, denn 2005 erlag der in Mexiko aufgewachsene Bremer 44-jährig einem Krebsleiden. Er taugte nicht zur Ware, weil seine Art, Schuberts zweihundertjährige Musik am Hammerflügel zu erzählen, allzu kompromisslos und drastisch an Befindlichkeiten rührt, die uns bis heute vertraut sind, weil ihnen eine Ökonomie zugrunde liegt, die die Seele bis heute schädigt.

Als Lahusen Schubert einspielte, erholte er sich gerade vom ersten Überfall des Karzinoms, eine Konstellation von furchtbar stimmiger Traurigkeit. Denn die Musik des letzten Schubert lässt sich ohne zumindest einen Seitenblick auf den Tod nicht verstehen, er schrieb sie im letzten Lebensjahr. Die Frage nach Vanitas und einem wehmütig geschauten „Drüben“ weitet sich in Schuberts Kunst übers Individuelle hinaus zu einem Blick auch in die Trostlosigkeit gescheiterter politischer Hoffnungen. So lassen sich die depressiven Verläufe der B-Dur Sonate als Stimmungen eines Todgeweihten hören – und als epochales Lebensgefühl eines Daseins unterm Druck des metternichschen Polizeistaats.

Der Wiener Conrad Graf-Hammerflügel von 1835, auf dessen Kopie Lahusen spielt, atmet über seinen obertonreich verhangenen Klang und viele Möglichkeiten der Klangverwandlung hinaus – er hat vier Pedale – historisch suggestiv die Aura des Vormärz. Schuberts Musik scheint sich in diesem Instrument wohlzufühlen; sie ist im Bewusstsein seiner Möglichkeiten und Grenzen entstanden, es hat sie im Ohr.

Seine Hämmer sind beledert, die Saiten parallelsaitig in den mitschwingenden Holzkorpus gespannt. Jedes Register klingt auf sehr eigene Art verschieden; jeder Akkord, wie bei einem guten Wein, ist wahrnehmbar als Klanggebilde  vieler einzelner Töne. Die düster durchgehend grummelnden Bässe und damals neuartigen Tremolo-Effekte, ja die ganze, das Geschehen tragende Struktur der Unterstimmen, der räumliche, transparente Bass der alten Klaviere, wächst aus der Begleitfunktion heraus und wird zum Träger der musikalischen Entwicklung.

Der Sonate hat Lahusen Schuberts drei, wie eine Sonate zusammen gedachten Klavierstücke D 946 vorangestellt. Hier sind explosiver Lebenswille und überschwängliche Lebensfreude dem resignativ wehmutsvollen Rückblick direkter gegenübergestellt als in der Sonate, wo beides fast ununterscheidbar ineinanderklingt. Und es gehört zu den nicht wenigen Wundern der Musik, wie Schubert im Mittelteil der drei Klavierstücke, einem es-moll-Es-Dur Rondo, eine Schunkelmelodie von düster, beschaulicher Traurigkeit mit Passagen rasender Daseinsangst konfrontiert, nach deren Ende wie ein Engelsgesang, leicht und himmelklingelnd, zugleich mit Beethoven erinnerndem hymnischen Nachruck, die Verheißung künftigen Glücks aufsteigt.

Mir geht unter den wahrlich nicht wenigen Aufnahmen dieser Jahrtausendmusik kaum eine andere so ans Herz. Nikolaus Lahusen hat sich mit seiner Schubert-CD ein Denkmal gesetzt von einer Art, die man allen Denkmälern wünscht: Es ist nützlich, indem es seinen Gegenstand lebendig werden lässt. Denkt mal, Ihr Nachlebenden, spricht es, auch wir litten unter der Angst und machten Kunst aus ihr, die entsteht, wenn sehr Wenige unbeschränkt, unsichtbar, unkontrolliert Macht besitzen über sehr Viele.    Junge Welt, April 2014

Schubert: Drei Klavierstücke D 946, Sonate B-Dur D 960 – Nikolaus Lahusen, Hammerflügel (Celestial harmonies; momenan, soweit ich sehe, nur bei jpc erhältlich).

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