McCreesh.Berlioz.Totenmesse

Zu Berlioz’ Musik  fiel mir einmal die ironische Wendung ein, sie klinge oft doch recht „heilig“. Nachdem ich die Neuaufnahme der Grande Messe des Morts, dirigiert von Paul McCreesh, gehört habe, nehme ich die Ironie in aller Form zurück. Für Atheisten gibt es keinen Grund, das Heilige zu  missachten. Es leitet sich vom Heil ab als von etwas unversehrt Besonderem, das unseren Urahnen kollektive Identifikation ermöglichte. Erst sehr viel später haben es heilige Väter wie der viel zu langjährige polnische Amtsinhaber gezielt verhunzt, in dem sie etwa klerikale Francofaschisten heilig sprachen.

Was das Heilige mit uns macht, etwa im Sanctus von Berlioz’ Totenmesse: Es schließt das Herz auf, kindergroß und himmelweit. Heinrich Heine nannte es, nachdem er Berlioz’ Musik gehört hatte, die „Unermesslichkeit“. Hundertundacht Streicher entfalten sich da im Raum; für ein gigantisches Bassfundament sorgen acht Fagotte, vier Posaunen, verteilt auf vier Blechblasensembles. Der Chor zählt zweihundert Kehlen. Der riesige Abstand, aus dem hier „letzte Fragen“ verhandelt werden, wird zu Klang in den sehr tiefen Posaunen und gleichzeitig sehr hohen Flöten in Dies irae und Offertoire. Wie ernst das alles ist und wie schön, hört man in den vielen langen Fermaten, auch Stille ist Musik. Bei Veranstaltungen wie dem Jüngsten Gericht im Tuba mirum handelt es sich um Sakralszenarien, mit denen die religiöse Menschheit auf ein Diesseits reagiert, mit dem auch die nichtreligiöse Menschheit ihre Probleme hat. Der moralische Imperativ, der da mit dem heiligen Donner von sechzehn Pauken und Trommeln, sowie Trompeten und Posaunen zunächst zu ungeheurem Klang, dann zu ungeheurem Genuss wird, bevor er zu tiefem Innewerden einlädt, ließe sich übersetzen als Evokation eines Weltgerichts, vulgo: eines internationalen Gerichtshofs im Auftrag einer von keinem Imperium dominierten UNO echter Völkergerechtigkeit – zur Hölle mit allen, die da Krieg führen gegen die Menschheit! Das Heilige und der Ruhm im Sanctus, im Messtext Gott in der Höhe zugedacht, lassen sich Nutz bringend hören als Lobgesang auf den Ruhm des Menschen hier unten in der Tiefe. Als Hohelied der Engelscharen kämpferischer Antizipation. Als Musik gewordener Traum von einer besseren Welt.

Dabei war Berlioz kein Parteisoldat. Er konzipierte sein Requiem als Auftragswerk des französischen Staates für die Opfer der Julirevolution von 1830. Es wurde dann – passt schon – Ende 1837 im Rahmen eines Staatstraueraktes zu Ehren eines Generals im Invalidendom uraufgeführt. Berlioz’ war Katholik und Agnostiker. Die einzige Religion, der er sich verpflichtet fühlte, war die Musik, wie er sie verstand. Und er verstand sie mit großer innerer Kraft als etwas, das so nur ihm gehörte, er war unabhängig. Wofür ihn ein mediokres Juste Millieu mit zahllosen Zurücksetzungen und Misserfolgen schwer hat büßen lassen. Russland und Deutschland lagen ihm zu Füßen. Liszt hat Berlioz in seiner Großbedeutung erkannt, Wagner ihn als den eigentlichen Konkurrenten gefürchtet, Paganini hat öffentlich vor ihm gekniet. Doch Berlioz kam von Paris nicht los. Er starb verbittert, ungetröstet.

Es ist mit Paul McCreesh ein Spezialist für Musik der Renaissance, der sich und über vierhundert Mitwirkende auf beeindruckend adäquat erscheinende Weise im Kosmos Berlioz’ bewegt. Klang und Nachklang der Riesenräume, für die der Franzose diese Musik erdachte, scheinen einkomponiert in eine Partitur, in der Chöre und Orchesterklanggestalten auf neue Weise korrespondieren. McCreesh, als historisch informierter Musiker ein Klangsensoriker sui generis, inszeniert das mit Gespür und Können. Berlioz hat in seiner Totenmesse die von ihm als Maß aller Dinge bewunderte Idee der Chorsymphonie Beethovens auf eine Höhe geführt, die selbst Gustav Mahler in seiner 8. Sinfonie siebzig Jahre später nicht mehr erreicht haben dürfte. Bei Mahler hat es bis in die 1960er Jahre gedauert, bis das Publikum wusste, was es an ihm hatte. Bei Berlioz dauert es immer noch.    Junge Welt, Dezember 2011

Berlioz: Grande Messe des Morts – Murray/Gabieli Players & Consort/Wroclaw Philharmoniker/Chetham’s School of Music Brass Ensemble/Paul McCreesh (Signum Records/Note 1)

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Dies irae